Asymptomatische Affenpocken-Infektionen: So manche Infektion bleibt unentdeckt – Experten rechnen mit hoher Dunkelziffer

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

8. September 2022

Bis zum 26. August 2022 wurden nach Angaben der Centers for Disease Control and Prevention (CDC)weltweit fast 48 000 Fälle von Affenpocken bestätigt. Die Infektionen verteilten sich auf 99 Länder; es handelt sich bislang um den größten Ausbruch von Affenpocken. Der aktuelle Ausbruch betraf bislang vor allem Männer, die Sex mit Männern haben (MSM). Ergebnisse aus 2 europäischen Fallberichten legen jetzt nahe, dass Infektionen mit Affenpocken unbemerkt bleiben können – möglicherweise sogar dann, wenn sie übertragbar sind. 

Daten aus Routinescreenings 

In beiden Studien verwendeten Forscherteams aus Belgien und Frankreich PCR-Tests, um retrospektiv Proben von MSM zu analysieren, die im Rahmen von Routine-Screenings auf Chlamydien und Gonorrhoe gesammelt worden waren. In der belgischen Studie, die 224 im Mai 2022 entnommene Patientenproben einschloss, berichteten 3 von 4 Männern mit positiven Tests, dass sie zum Zeitpunkt der PCR, 2 Monate vor dem Test und bei Folgeuntersuchungen 3 bis 5 Wochen später symptomfrei gewesen seien. Der 4. Patient wies einen perianalen Ausschlag auf; bei ihm wurde fälschlicherweise Herpes diagnostiziert. Die klinischen Untersuchungen ergaben keine Anzeichen von Affenpocken auf der Haut, im Rachen oder im Anogenitalbereich der 3 Patienten. 

In der französischen Studie wiesen 13 asymptomatische Männer positive Testergebnisse auf, und nur 2 von ihnen stellten sich später mit Symptomen in der Klinik vor. Die Analyse schloss 200 Proben ein. 

„Diese Studien deuten darauf hin, dass – im Gegensatz dazu, was über Affenpocken in Afrika bekannt war – nicht alle Patienten Symptome aufweisen“, schrieb Dr. Marjan Van Esbroeck, Mikrobiologin am Institut für Tropenmedizin in Antwerpen und leitende Autorin der belgischen Studie, in einer E-Mail an JAMA.

 
Diese Studien deuten darauf hin, dass … nicht alle Patienten Symptome aufweisen. Dr. Marjan Van Esbroeck
 

Asymptomatisch oder unauffällig?

Van Esbroeck sagte, sie glaube, dass Affenpocken-Infektionen ohne Symptome auftreten könnten. Sie räumte aber auch ein, dass subtile, unerkannte Symptome in ihrer Studie nicht gänzlich undenkbar seien. So seien die 3 asymptomatischen Personen mit positiven Tests am Tag der Probenentnahme nicht ärztlich untersucht worden. Deshalb „können wir nicht ausschließen, dass kleinere Läsionen übersehen wurden oder dass allgemeine Symptome wie leichtes Fieber oder Unwohlsein von den Personen nicht erinnert wurden“, schreibt sie. 

In einem Interview wies Prof. Dr. Boghuma Kabisen Titanji, Infektiologin an der Emory University, auf das „bemerkenswerte Spektrum“ der Erscheinungsformen der Affenpocken beim aktuellen Ausbruch hin. Es reiche von kälteähnlichen Symptomen und einzelnen Pusteln, die fälschlicherweise für Pickel gehalten würden, bis hin zu diffusen Hautausschlägen und schmerzhaften anogenitalen oder oropharyngealen Läsionen.

Eine Studie, in der 528 Affenpocken-Infektionen untersucht wurden, ergab, dass 95% der Patienten einen Ausschlag zeigten. Dennoch, so Titanji, „sind sehr subtile Befunde und sehr floride Befunde möglich – und auch alles dazwischen“. Es gebe auch Hinweise darauf, dass Affenpocken in Ländern, in denen sie bislang nicht vorgekommen seien,  schon länger unentdeckt zirkulierten, bevor Anfang Mai 2022 die ersten Fälle in England festgestellt worden seien.

Titanji stufte die beiden neuen Studien zwar als wichtig ein. Die Faktoren deuteten aber darauf hin, dass die vermeintlich asymptomatischen Patienten subtile Symptome nicht bemerkt hätten oder sich erst später daran erinnerten, weil sie Beschwerden gehabt hätten, bevor diese mit Affenpocken in Verbindung gebracht worden seien.

Wie infektiös sind asymptomatische Patienten? 

Dr. Sarah Anne J. Guagliardo, Gesundheitswissenschaftlerin bei der CDC, sagte, dass die Berichte „sicherlich darauf hindeuten, dass asymptomatische Affenpocken-Infektionen im Spiel sein könnten“, dass aber nicht wirklich klar sei, welcher Anteil der Fälle wirklich asymptomatisch sei oder nur mit sehr subtilen Symptomen auftrete. „Die wichtigere Frage ist, ob diese Patienten mit asymptomatischen oder sehr milden Krankheitsverläufen andere anstecken können“, sagte sie. 

 
Die wichtigere Frage ist, ob diese Patienten mit asymptomatischen oder sehr milden Krankheitsverläufen andere anstecken können. Sarah Anne J. Guagliardo
 

Guagliardo hatte 2017 mögliche Fälle asymptomatischer Affenpocken-Infektionen in Kamerun untersucht. Sie betonte, es sei besorgniserregend, dass in den jüngsten europäischen Studien niedrige PCR-Zyklusschwellenwerte, die auf eine hohe Viruslast hindeuteten, bei Menschen ohne Symptome gemeldet worden seien. Das allein beantworte aber nicht die Frage der Übertragung.

Die belgische Studie liefert Hinweise, dass eine asymptomatische Übertragung möglich sein könnte. Wissenschaftler fanden in 2 der 3 anogenitalen Abstrichen der Männer replikationskompetente Viren. Die Patienten waren möglicherweise in der Lage, das Virus zu übertragen, bevor sie erfuhren, dass sie infiziert waren. Alle 3 asymptomatischen Patienten berichteten, dass sie zum Zeitpunkt der Untersuchung sexuelle Kontakte hatten, aber die Forscher konnten nicht eruieren, ob es zu einer Weiterübertragung kam. In der französischen Studie war nicht versucht worden, replikationskompetente Viren aus den Proben zu isolieren.

Laut Van Esbroeck sei der Unterschied zwischen asymptomatischen Patienten und Patienten mit unerkannten, leichten Symptomen theoretischer Natur. „Beides hat zur Folge, dass sich die Personen nicht isolieren und möglicherweise weiterhin ein risikoreiches Verhalten zeigen“, schreibt sie. 

Van Esbroeck und Titanji betonen, dass Kliniker und Risikopersonen das Spektrum der klinischen Manifestationen einer Affenpocken-Infektion kennen müssten, damit sich Patienten mit auch nur geringfügigen Symptomen rechtzeitig testen ließen und Informationen erhielten, wie sie das Übertragungsrisiko auf andere Menschen und Haustiere verringern könnten.

Übertragung durch Personen ohne Symptome wahrscheinlich unterschätzt

In der HIV-Klinik, in der Titanji arbeitet, sind etwa 50% der Affenpocken-Tests positiv. „Das zeigt uns, dass wir nicht genug testen", sagte sie. Sie hat inzwischen mehrere Patienten behandelt, deren einzige Symptome hartnäckige Schmerzen beim Schlucken waren, was zu falschen Diagnosen führen kann. In einigen Fällen sind die Läsionen äußerlich nicht sichtbar, werden aber von Spezialisten im Kehlkopf oder im Enddarm entdeckt. Kliniker, so Titanji sollten wissen, dass eine Affenpocken-Infektion „wie vieles aussehen kann, das wir in der klinischen Praxis zu sehen bekommen“. 

Dass Tests auf Affenpocken dezentralisiert würden, sei „dringend erforderlich“, betont Dr. Abraar Karan, Postdoktorand an der Stanford University. Der Einsatz von Lateral-Flow-Tests könnte beispielsweise das Intervall zwischen Ansteckung und Entdeckung verkürzen. „Bei einer asymptomatischen Übertragung ist dies besonders wichtig", schreibt er in einer Email an JAMA.

Das beispiellose Ausmaß der Übertragung beim aktuellen Ausbruch deute darauf hin, dass die Übertragung durch Personen, die keine oder nur geringe Symptome hätten, sehr wahrscheinlich unterschätzt werde, so Karan. „Wenn nur diejenigen, die klinisch signifikant erkrankt waren, das Virus ausgeschieden hätten, wäre es wahrscheinlich nicht zu einem so großen Ausbruch gekommen, da nur wenige Sexualpartner bereit wären, risikoreichen Sex mit jemandem zu haben, der sichtlich krank ist oder sichtbare Läsionen hat“, stellte er fest.

„Um einen besseren Überblick über asymptomatische Infektionen und ihr Übertragungspotenzial zu erhalten, benötigen wir Daten aus prospektiven Studien, die häufige, wiederholte körperliche Untersuchungen und Tests bei exponierten Personen umfassen, um zu sehen, wie sich die Infektion klinisch entwickelt, falls sie vorhanden ist“, betont Guagliardo.

Serologische Bevölkerungstests – bislang Fehlanzeige

Serologische Bevölkerungstests könnten dazu beitragen, zu erkennen, wie hoch die Dunkelziffer wirklich ist. Bislang ist das noch nicht möglich.Trotz Tausender Fälle von Affenpocken in Afrika wurden noch keine Antikörpertests speziell für dieses Virus entwickelt, erklärte Dr. Daniel Douek, Immunologe am National Institute of Allergy and Infectious Diseases (NIAID). Bisher kann die Serologie nur die Exposition gegenüber allgemeinen Orthopoxviren nachweisen, der Familie, zu der auch die Affenpocken-, Pocken- und Vaccinia-Viren gehören. 

Douek berichtet, dass er – als die Affenpockeninfektionen Anfang des Jahres in die Schlagzeilen gerieten – gefragt wurde: Wie lange hatte sich die Krankheit schon verbreitet? Er beschloss daraufhin, einen Test zu entwickeln, der zwischen der Affenpocken- und der Vaccinia-Reaktivität unterscheiden kann. Wenn der Test funktioniert – was Mitte September der Fall sein sollte - könnte er schon im Herbst in Kohortenstudien eingesetzt werden, an denen beispielsweise MSM, Sexarbeiter und Menschen in Ländern teilnehmen, in denen Affenpocken traditionell endemisch sind.

Obwohl Affenpocken jeden befallen können, der mit dem Virus in Berührung kommt, auch Kinder, sind die erwähnten Gruppen derzeit am stärksten gefährdet, sich mit dem Virus anzustecken. „Das sind die gefährdeten Menschen, die unsere Aufmerksamkeit am meisten brauchen“, so Douek.

Den Ausbruch eindämmen

Derzeit ist die Inzidenz weltweit rückläufig, was nach Angaben der WHO auf erste Anzeichen für einen Rückgang der Fälle in Europa zurückzuführen sein könnte. Diese Nachricht gibt Titanji Hoffnung, dass der Ausbruch noch eingedämmt werden kann: „Wir brauchen Impfstoffe, und wir müssen die am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen ohne Stigmatisierung ansprechen, um sie mit den Informationen zu versorgen, die sie brauchen, um sich selbst und ihre Gemeinschaften besser zu schützen.“

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