Eine COVID-19-Infektion ist offenbar über mindestens 2 Jahre mit einem erhöhten Risiko für neurologische und psychische Erkrankungen verbunden. Dies gilt auch für Kinder, die allerdings ein etwas günstigeres Risikoprofil haben als Erwachsene. Und auch die Virusvariante spielt eine Rolle. Omikron sei in diesem Kontext allerdings nicht weniger gefährlich als die Vorgänger-Varianten von SARS-CoV-2, berichten Mediziner aus England in The Lancet Psychiatry [1].
Dr. Maxime Taquet vom Department of Psychiatry der University of Oxford und seine Kollegen hatten schon in einer früheren Studie gezeigt, dass COVID-19 in den Wochen und Monaten nach der Infektion mit einem erhöhten Risiko für neurologische und psychische Erkrankungen einhergeht. Mittlerweile konnten sie die 2-Jahres-Daten von rund 1,25 Millionen Infizierten auswerten.
International besetzte Stichprobe von Patienten
Die 1.487.712 Patienten stammen vorwiegend aus den USA, aber auch aus Australien, Großbritannien, Spanien, Bulgarien, Indien, Malaysia und Taiwan. Sie waren zwischen Januar 2020 und April 2022 mit SARS-CoV-2 infiziert. Zu Vergleichszwecken wurden sie mit ebenso vielen nicht infizierten Studienteilnehmern gematcht – auf Basis von demographischen Faktoren, Risikofaktoren für COVID-19 und schwere COVID-19-Verläufe sowie dem Impfstatus.
Die Studienkohorte mit COVID-19-Infektion bestand 185.748 Kindern, 856.588 Erwachsenen und 242.101 älteren Menschen über 65 Jahren.
Risikoerhöhung für die meisten Erkrankungen bleibt bestehen
Die 2-Jahres-Analyse bestätigte die früheren Daten: Ebenso wie nach den ersten 6 Monaten war auch 24 Monate nach der COVID-19-Diagnose das Risiko für eine Reihe von neurologischen und psychischen Erkrankungen noch immer erhöht.
Ausnahmen bildeten nur Enzephalitis, Guillain-Barré-Syndrom, Nerven-, Nervenwurzel- und Plexuserkrankungen sowie Parkinson, deren Hazard Ratios nach Ablauf von 2 Jahren nicht mehr signifikant über 1 lagen.
„Es zeigte sich aber, dass die Risiken für neurologische und psychische Erkrankungen in den ersten beiden Jahren nach der Diagnose ganz unterschiedliche Verläufe nehmen und sich außerdem zwischen Kindern und Erwachsenen sowie zwischen verschiedenen Varianten von SARS-CoV-2 unterscheiden“, schreiben Taquet und seine Kollegen.
Depressionen und Ängste gehen schneller zurück
Speziell bei der Dauer der Risikoerhöhung und dem Zeitraum, bis die Inzidenz in beiden Kohorten wieder vergleichbar war, gab es erhebliche Unterschiede. Die Risiken für häufige psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen seien relativ schnell wieder auf das Ausgangsniveau zurückgekehrt, heißt es in dem Lancet-Paper. Bei affektiven Störungen habe es 43 Tage gedauert und bei Angststörungen 58 Tage.
Vergleichbare Inzidenzen wie in der gematchten Gruppe von nicht-infizierten Studienteilnehmern wurden nach 457 Tagen (affektive Störungen) beziehungsweise 417 Tagen (Angststörungen) erreicht.
Im Gegensatz dazu waren die Risiken für kognitive Defizite („brain fog“), Demenz, psychotische Erkrankungen und Epilepsie oder Krampfanfälle nach Ablauf der 2-jährigen Nachbeobachtung noch immer erhöht.
Bei Kindern ist das Risiko nicht so lange erhöht
Zu verzeichnen war außerdem ein Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen: In den ersten 6 Monaten nach der COVID-19-Infektion hatten Kinder kein erhöhtes Risiko für affektive Störungen oder Angststörungen. Aber ihr Risiko für kognitive Defizite, Schlafstörungen, Hirnblutungen, ischämische Schlaganfälle, Nerven-, Nervenwurzel- und Plexuserkrankungen, psychotische Störungen und Epilepsie oder Krampfanfälle war angestiegen – teils um das Doppelte.
Anders als bei den erwachsenen Studienteilnehmern hatten die kognitiven Defizite bei den Kindern aber einen finiten Risikohorizont (75 Tage) und eine finite Zeit bis zur gleichen Inzidenz wie in der Vergleichsgruppe (491 Tage).
„Kinder haben insgesamt ein günstigeres psychiatrisches Risikoprofil als Erwachsene“, schreiben die Autoren. „Aber ihr persistierend höheres Risiko für einige Diagnosen ist besorgniserregend.“
Ein erheblicher Teil der älteren Erwachsenen, die eine psychiatrische oder neurologische Diagnose erhielten, starb in der Folgezeit. Dies galt allerdings für beide Kohorten – nicht nur diejenigen mit COVID-19-Infektion – und insbesondere für diejenigen mit Demenz, Epilepsie oder Krampfanfällen.
Ab Delta mehr neurologische und psychische Erkrankungen
Die Studie untersuchte außerdem, inwiefern Variante von SARS-CoV-2, mit der jemand infiziert war, die neurologischen und psychischen Folgen beeinflusste. Vor und kurz nach dem Aufkommen der Alpha-Variante von SARS-CoV-2 seien die Risikoprofile noch vergleichbar gewesen, berichten Taquet und seine Kollegen.
Doch kurz nach (vs. kurz vor) dem Aufkommen der Delta-Variante waren erhöhte Risiken für ischämische Schlaganfälle, Epilepsie oder Krampfanfälle, kognitive Defizite, Schlafstörungen und Angststörungen zu beobachten. Dies ging außerdem mit einer erhöhten Sterberate einher.
Folgen für das Gehirn auch bei milderen Varianten
Mit Omikron sank die Sterberate, doch die Risiken für neurologische und psychische Erkrankungen blieben gleich. Dass sich die neurologischen und psychischen Erkrankungen zwischen Delta- und Omikron-Welle nicht wirklich unterschieden, sei „besonders besorgniserregend“, sagte Dr. Rachel Sumner von der Cardiff Metropolitan University auf Nachfrage. „Einige Varianten von SARS-CoV-2 gelten als milder hinsichtlich ihrer Pathogenität während der Infektion. Aber die langfristigen Folgen scheinen unabhängig von der Variante vergleichbar zu sein“, ergänzte sie.
Die britische Psychobiologin warnt: „Die Erkenntnis, dass COVID-19-Infektionen mit komplexen und potenziell schwerwiegenden psychischen und neurologischen Folgen assoziiert sind, ist Grund zur Sorge. Dies gilt insbesondere angesichts der zu erwartenden Reinfektionen, zu denen es kommen wird, wenn dem Virus weiterhin erlaubt wird, sich weitgehend unkontrolliert auszubreiten.“
Depressionen und Angststörungen nur vorübergehend erhöht
Taquet und seine Kollegen ziehen aus ihren Erkenntnissen auch etwas Positives: „Die retrospektive 2-Jahres-Analyse zeigt, dass zumindest die erhöhte Inzidenz von affektiven und Angststörungen vorübergehend ist und es insgesamt nicht zu einem Überschuss dieser Diagnosen im Vergleich zu anderen Atemwegserkrankungen kommt.“
Besorgniserregend sei aber tatsächlich das erhöhte Risiko für psychotische Störungen, kognitive Defizite, Demenz und Epilepsie oder Krampfanfälle. Dieses sei nämlich über den gesamten Zeitraum hinweg bestehen geblieben.
Die Frage nach der Ursache
Unklar bleibt, ob die beobachteten erhöhten Risiken für psychische und neurologische Erkrankungen tatsächlich auf die Infektion mit SARS-CoV-2 zurückzuführen sind. Möglicherweise haben sie auch andere Ursachen: „Die COVID-19-Pandemie hat in unserer Gesellschaft zu Stress geführt – nicht nur durch die virusbedingten Erkrankungen, sondern auch durch Störungen des täglichen Lebens und die Angst, was ein neuartiges Virus uns antun kann“, sagt Prof. Dr. Paul Garner, emeritierter Professor für Evidenzsynthese in der Globalen Gesundheit an der Liverpool School of Tropical Medicine.
„Ich denke, die kleinen Zunahmen bei Demenz und Psychose müssen vorsichtig interpretiert werden. Diese sind meiner Meinung nach eher mit dem gesellschaftlichen Aufruhr und der Dystopie, die wir durchlebt haben, assoziiert, als eine direkte Folge der Virusinfektionen.“
Potenzielle biologische Mechanismen für neurologische Schädigung
Dennoch: Auch andere Arbeitsgruppen haben bereits gezeigt, dass COVID-19 kognitive Folgen haben könnte. Und es gibt potenzielle biologische Mechanismen, die eine kausale Beziehung erklären würden. „Eine maladaptive Immunreaktion des Wirts – sowohl der angeborenen als auch der adaptiven Immunantwort – könnte zu einer nachhaltigen neurologischen Schädigung führen“, erklärt Prof. Dr. David Menon, Direktor der Klinik für Anästhesie an der University of Cambridge, der selbst an den kognitiven Folgen von COVID-19 forscht.
„In unserer Studie mit hospitalisierten COVID-19-Patienten hatte die seit der Infektion vergangene Zeit (bis 10 Monate) einen minimalen Effekt auf kognitive Defizite“, berichtet er. Der Effekt der Erkrankung auf die Kognition habe von der Größenordnung her etwa 20 zusätzlichen Jahren entsprochen. Und das Muster des Defizits habe sich sowohl von dem des normalen Alterns als auch von dem bei Alzheimer-Demenz beobachteten unterschieden.
Zusätzlich zu dem bereits gezeigten erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen liefere die neue Studie nun weitere Evidenz, dass auch mit neurologischen und psychischen Folgen gerechnet werden müsse, sagt Psychobiologin Sumner. Und Taquet und ihre Kollegen schlussfolgern: „Es ist davon auszugehen, dass die Langzeitfolgen von COVID-19 das Gesundheitssystem noch lange belasten werden.“
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Diesen Artikel so zitieren: Dauerhafte Hirnschäden? Risiko für psychiatrische und neurologische Erkrankungen nach COVID-19 mindestens 2 Jahre erhöht - Medscape - 2. Sep 2022.
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