Krebstherapien, so lebensrettend sie sind, schädigen oft Herz und Gefäße. Um diese Nebenwirkungen zu minimieren, hat die Europäische Gesellschaft für Kardiologie (ESC) ihre 1. Leitlinie zur Kardio-Onkologie vorgestellt, und zwar gleichzeitig auf dem ESC-Kongress in Barcelona und online im European Heart Journal.[1] Darin gibt sie insgesamt 272 Empfehlungen zu Diagnose, Behandlung und Prävention der kardiovaskulären Toxizität und der manifesten Erkrankungen.

Die Leitlinie zeichnet sich durch einige Neuheiten aus, etwa Definitionen der kardiovaskulären Toxizität von Krebstherapien. Beispielsweise werden die dadurch bedingten kardialen Dysfunktionen in symptomatische und asymptomatische eingeteilt, mit jeweils unterschiedlichen Schweregraden. So liegt eine schwere symptomatische Dysfunktion dann vor, wenn ein Klinikaufenthalt aufgrund eines Herzversagens unumgänglich ist oder eine schwere asymptomatische Form, wenn die linksventrikuläre Auswurffraktion (LVEF) unter 40% sinkt.

Spektrum reicht von Rythmusstörungen bis Hypertonie

Ebenso wird die Toxizität für die Blutgefäße in symptomatisch – zum Beispiel Schlaganfall oder Herzinfarkt - und asymptomatisch - zum Beispiel Venen- oder Arterienthrombosen – gegliedert. Für die Myokarditis durch Immun-Checkpoint-Inhibitoren gibt es die Kategorien fulminat, nicht-fulminat und steroid-refraktär.

Weitere Störungen sind Arrhythmien, außerdem Bluthochdruck: Ab einem Wert von 130 mmHg sollten Antihypertensiva eingesetzt werden, bei 180 mmHg liegt die Schwelle für den Stopp einer Krebstherapie.

„In diesem Bereich der Medizin gibt es nur wenige Studien, auf die sich die Entscheidungsfindung stützen kann. In Fällen begrenzter Belege bietet diese Leitlinie einen Konsens der Experten“, schränken die Verfasser ihre Leistung trotz der beeindruckenden Liste von rund 840 Literaturzitaten ein. 

Daher biete die Leitlinie statt Belegen häufig einen Konsens der Experten. Hauptautoren sind Prof. Dr. Alexander R. Lyon vom Imperial College London und Prof. Dr. Teresa López-Fernández von der La Paz Universität in Madrid. Mitgearbeitet haben Vertreter der European Hematology Association, der European Society for Therapeutic Radiology and Oncology und der International Cardio-Oncology Society.

Interdisziplinäre Betreuung im Team

Auf interdisziplinäre Zusammenarbeit setzt die Leitlinie auch bei der Betreuung der Patienten: Kardiologen, Onkologen und Hämatologen sollten Funktionsstörungen des Herzens miteinander besprechen. Sind bereits vorab Herzmedikamente indiziert? Welche Vor- oder Nachteile hat eine Fortführung oder ein Abbruch der Krebsbehandlung? 

Viele Faktoren gilt es zu bedenken: das Ausmaß des Herzproblems, der Zeitpunkt des Auftretens, das Ansprechen auf die Krebsbehandlung, die Zahl der noch anstehenden Dosierungen, Optionen der Kardioprotektion und natürlich die Wünsche der Patienten. „Die kardiovaskuläre Toxizität ist eine dynamische Variable“, schreiben die Autoren.

Um den Verlauf verfolgen zu können, empfehlen sie in allen Fällen eine Basisuntersuchung. Als Methode der 1. Wahl dient das EKG, da es die entscheidenden Parameter der Krebstherapie-bedingten kardialenDysfunktion liefert: LVEF-Reduktion und Veränderung des global longitudinal strain (Ausmaß der Myokardverkürzung). Generell ratsam sind ebenfalls eine Bestimmung von Biomarkern – kardialem Troponin und natriuretischen Peptiden – und die transthorakale Echokardiographie.

 
Die kardiovaskuläre Toxizität ist eine dynamische Variable. Autoren der neuen Leitlinie
 

Viele Variablen fließen in das Risiko mit ein 

Diese Befunde bilden eine wichtige Grundlage für die Risikostratifizierung. Eine Tabelle hilft dabei. Ihr ist zu entnehmen, welche Behandlung bei bestimmten Merkmalen der Patienten mit welchem Toxizitäts- oder Erkrankungsrisiko assoziiert ist. 

Beispiel: Anthrazykline bedeuten ein sehr hohes Risiko für Toxizität, wenn die Patienten schon vorab an Herzinsuffizienz leiden. Weitere Kriterien sind das Alter, die Ergebnisse von Bildgebung oder Biomarkern, frühere Krebsbehandlungen oder Übergewicht bzw. Adipositas. 

Mit diesen Daten kann die Therapie mit Zytostatika, Target-Substanzen und Immunmodulatoren individuell zugeschnitten werden. Genannt werden etwa Fluoropyrimidine, VEGF-Inhibitoren, Wirkstoffe gegen HER2-Rezeptoren oder multiple Myelome, Androgendeprivation bei Prostatakarzinom oder Stammzelltransplantation. Nicht zu vergessen die Operation, denn sie ist nach wie vor die wichtigste Methode für viele Krebsarten, außerdem die Bestrahlung, vor allem wenn das Herz nicht ausgelassen werden kann, wie bei zentralen Lungentumoren, Brustkrebs oder mediastinalen Lymphomen.

Tabellen geben die Kontrolluntersuchungen vor

Für jeden Ansatz stellt die Leitlinie Protokolle für regelmäßige Untersuchungen während der Krebsbehandlung bereit. Diese informieren, in welchen Abständen EKG, Ultraschall oder Biomarker-Tests angeraten sind, und zwar abhängig vom  Risiko – hoch, mittel oder niedrig – der Patienten.

Weiterhin gibt es Anleitungen für das Management von akuter und subakuter Toxizität. Als Neuheit heben die Autoren Empfehlungen für Brustkrebs-Patientinnen hervor, die unter Trastuzumab eine Dsyfunktion entwickeln. 

Ein anders Beispiel: Während eines Anthrazyklin-Zyklus wird bei einem Patienten eine relevante Dysfunktion festgestellt, aber zwingende Gründe sprechen für eine Fortsetzung der Medikation. Dann kann das Team mehrere Strategien erörtern: die Einnahme von ACE-Hemmern oder Betablockern, die Verringern der Anthrazyklin-Dosis, die Umstellen auf liposomale Varianten oder die Behandlung mit Dexrazoxan vor jedem Zyklus.

Vorbeugung und Surveillance ergänzen sich

Der Toxizität wird auch vorbeugend begegnet. Die Primärprävention zielt auf Patienten ohne CVD. So können ACE-Hemmer, Betablocker und Aldosteron-Antagonisten bei Anthrazyklin- und HER2-Therapien eine LVEF-Verringerung bremsen. Auch Möglichkeiten wie Verlangsamung der Infusionen oder Veränderung der Dosis werden versucht. Die Sekundärprävention wiederum bezieht sich auf Patienten mit vorbestehender KHK, einschließlich früherer toxischer Phänomene.

Auch für die Überwachung (Surveillance) der Herzfunktion im 1. Jahr nach der Behandlung bietet die Leitlinie detaillierte Pläne. Fragen bei den Kontrollen sollten sein: Verschwindet das Herzproblem nach der Ausscheidung der Zytostatika? Sollten die Herzmedikamente abgesetzt oder lebenslang eingenommen werden? Haben die Patienten ihre gesunden Lebensgewohnheiten beibehalten, halten sie Blutdruck, Diabetes und Cholesterinspiegel im grünen Bereich? Eventuell sind neue Herzprobleme aufgetreten, da sich etwa bei Anthrazyklinen die meisten Nebenwirkungen erst in den 12 Monaten danach manifestieren.

Kinder sind selbst noch Jahre später gefährdet

Ebenso wenig darf die langfristige Nachsorge vernachlässigt werden, vor allem nach der Anthrazyklin-Therapie. Kritisch ist weiterhin eine Bestrahlung des Brustkorbs, denn meist entwickelt sich 5 bis 10 Jahre später eine fortschreitende kardiovaskuläre Toxizität, die sich in einer 6-fach höhere Rate von KHK und Herzinsuffizienz widerspiegelt. Bei Kindern muss die Nachsorge bis ins Erwachsenenalter ausgedehnt werden, denn die kumulative Inzidenz der kardialen Dysfunktion reicht bis 11% im Alter von 40-45 Jahren und trägt zu einer erheblichen Morbidität und Mortalität bei.

Zudem geht die Leitlinie auf spezielle Gruppen ein: schwangere Krebspatientinnen oder Patienten mit Herztumoren. Auch implantierbare elektronische Geräte sind eine Herausforderung, weil eine Strahlentherapie zu Fehlfunktionen führen kann.

„Self-management“ der Patienten

Nicht zuletzt fordern die Autoren: „Die Patienten müssen bei Bedarf psychologische Unterstützung sowie klare und genaue Informationen über ihre Erkrankung erhalten, damit sie eine aktive Rolle spielen und die Therapietreue verbessern können.“ 

So sollten sie über die kardiovaskulären Risiken und Möglichkeiten der Abhilfe aufgeklärt werden: Rauchstopp, Bewegung mindestens 150 Minuten pro Woche, aber nicht bis zur Erschöpfung, gesunde Ernährung, nicht mehr als 100 Gramm Alkohol pro Woche. Wichtig sei auch, dem onkologischen Team Herzsymptome wie Brustschmerzen, Atemnot, Ohnmacht oder Herzrasen zu melden.

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