Barcelona – Wann genau Patienten ihre Blutdrucksenker nehmen, hat offenbar keinen Einfluss auf Herz-Kreislauf-Komplikation wie Herzinfarkte oder Schlaganfälle. Das mit Spannung erwartete Ergebnis des Duells zwischen Morgentablette versus Abendtablette in der großen britischen prospektiven randomisierten TIME-Studie endete nämlich mit einem Unentschieden, wie Prof. Dr. Thomas MacDonald, University of Dundee, auf dem Kongress der European Society of Cardiology (ESC) verkündete.

Prof. Thomas MacDonald auf dem ESC 2022
„Die Hauptbotschaft an Patienten und Ärzte: Die Patienten können ihre Blutdrucksenker dann einnehmen, wenn es für sie am besten passt“, sagte der Studienleiter bei der Präsentation der Studienergebnisse in der ersten Hot Line Session am Kongressfreitag [1].
„TIME war eine der größten jemals durchgeführten kardiovaskulären Studien und gibt eine definitive Antwort auf die Frage, ob Blutdrucksenker abends oder morgens eingenommen werden“, fügte er an. Die Studie zeige ganz klar, dass die Zahl der Herzinfarkte, Schlaganfälle und vaskulären Todesfälle unabhängig von der Tageszeit der Medikamenteneinnahme gleichgeblieben sei.
Abenddosis von Vorteil in Hygia und MAPEC
Durchaus notwendig war eine derartige Studie zu den Auswirkungen morgendlicher versus abendlicher Einnahmen der Medikamente aus chronobiologischer Sicht und aufgrund der Blutdruckschwankungen über den Tag, kommentierte Dr. Rhian Touyz, Mc Gill University, Montreal, Kanada. „Die Frage nach dem optimalen Timing für die Dosierung von Blutdrucksenkern war also äußerst relevant und absolut notwendig.“ Auch unter Antihypertensiva bleibe der Blutdruck nicht über 24 Stunden gleich, sondern zeige tags und nachts Höhen und Tiefen, fügte MacDonald an.
In mehreren vorherigen Studien hatte sich angedeutet, dass die abendliche Einnahme kardiovaskuläre Komplikationen reduziert und den Blutdruck sowie mögliche „Dipping“-Muster über Nacht normalisiert. In der Hygia-Studie war die Zahl schwerer kardialer Ereignisse bei Patienten, die ihre Medikamente vor dem Zubettgehen anstatt nach dem Aufstehen einnahmen, um ganze 42% niedriger. Auch in der MAPEC Studiefielen die Ereignisraten unter abendlicher Einnahme der Antihypertensiva deutlich ab. Aufgrund deutlich niedriger Ereignisraten sowie möglicher Randomisierungsfehler wurden die Ergebnisse dieser spanischen Studien jedoch in Zweifel gezogen, wie in einem 2021 veröffentlichten Review beschrieben.
Prognosen vor dem TIME-Duell eindeutig
Dennoch waren die Prognosen für den Ausgang des Duells TIME aufgrund der bisherigen Evidenzlage eindeutig. „Unsere Vermutung war, dass die abendliche Dosis Vorteile bringt“, sagte MacDonald. „Das wäre ja eine der kostengünstigsten Behandlungen aller Zeiten gewesen – einfach vom Morgen auf den Abend zu wechseln.“
An der TIME-Studie nahmen insgesamt 21.104 Patienten teil (Durchschnittsalter: 65 Jahre), die bereits zu Studienbeginn mindestens einen Blutdrucksenker verordnet bekamen und sich über ein Studienportal selbst für die Teilnahme an der Studie anmeldeten. Per Zufallsprinzip wurden sie in die Morgen- (n=10.501) oder Abendgruppe (n=10.503) eingeteilt und nahmen ihre bisherigen Blutdruckmedikamente entsprechend von 6-10 Uhr oder von 20 Uhr bis Mitternacht ein. Ursprünglich waren nur halb so viele Patienten für TIME vorgesehen – jedoch wurde die Teilnehmerzahl aufgrund einer sehr niedrigen Ereignisrate 2016 während der Studie aufgestockt und die Studie zweimal verlängert, bemerkte MacDonald.
Über einen durchschnittlichen Beobachtungszeitraum von 5,2 Jahren wurden alle Ereignisse des primären kombinierten Endpunkts – Herzinfarkte, Schlaganfälle und Todesfälle infolge eines kardiovaskulären Ereignisses – zusammengetragen. Die Informationen stammten sowohl von Emails der Teilnehmenden als auch aus Datenbanken, mit denen die Studie verlinkt war. Zudem wurden Informationen von Ärzten und Krankenhäusern einbezogen und von einem unabhängigen Komitee begutachtet und ausgewertet. Bei einigen Teilnehmern betrug der Follow-up sogar mehr als 9 Jahre, betonte MacDonald; der lange Follow-up sei neben der großen Teilnehmerzahl eine der Stärken der TIME-Studie.
Abenddosis bringt weder Schaden noch Zusatznutzen
Am Ende hatten Forscher Ereignisse des primären Endpunkts bei 362 Teilnehmenden (3,4%) in der Gruppe, die die Blutdrucksenker abends schluckte und bei 390 (3,7%) in der Morgen-Gruppe (HR 0,95; p=0,53). In keiner der Subgruppen zeigte sich eine nennenswerte Abweichung, auch nicht in der verhältnismäßig großen Gruppe der 13,8% Diabetiker in der Studie.
Bei vielen Menschen mit Diabetes, die auch an Bluthochdruck leiden, funktioniert das natürliche Absenken des Blutdrucks über Nacht nicht mehr richtig. Doch auch diese „Non-Dipper“ konnten ihr Herz-Kreislauf-Risiko durch die abendliche Blutdruckpillen-Dosis nicht senken. „Bei einem Effekt wie in Hygia hätten wir die Studie gestoppt“, bemerkte MacDonald. Man konnte durchaus annehmen auch in TIME irgendeinen Unterschied zu sehen, da erhöhter Blutdruck über Nacht ja als einer der Haupt-Risikofaktoren gilt. Somit hatten die meisten einen Effekt erwartet, aber den gab es nicht“, sagte er. „Wir haben nichts gesehen, noch nicht einmal ein klitzekleines bisschen.“ Er bezeichnete den Null-Effekt als „großes Rätsel. Wir haben alles so gründlich gemacht, wie wir konnten“.
Umgekehrt verursachte die abendliche Einnahme aber auch keinen Nachteil wie etwa zu niedrigen Blutdruck am Morgen, sodass das Fazit der Gegenüberstellung morgens versus abends eindeutig ausfalle, sagte MacDonald. „Es ist beruhigend, dass Menschen mit Bluthochdruck ihre regulären Antihypertensiva zu der Tageszeit einnehmen können, die für sie am bequemsten erscheint und für sie die wenigsten unerwünschten Nebenwirkungen verursacht“, bilanziert er. Das sei auch die positive Nachricht für Allgemeinmediziner, die mit Hypertonikern ihre Medikation besprechen und nun eine endgültige Antwort hätten. Wichtiger als die Tageszeit sei es die Tabletten regelmäßig und immer zur etwa gleichen Zeit zu nehmen.
Wolle man der abendlichen Einnahme über eine persönliche Präferenz hinaus einen Vorteil abgewinnen, sei die geringere Zahl von Stürzen in der Abendgruppe erwähnenswert, so der Experte. In dieser Gruppe wurden 2016 Stürze (21,1%) verzeichnet; bei morgendlicher Einnahme dagegen 2.235 (22,2%); p=0,05. Keine signifikanten Unterschiede ergaben sich wiederum in der Zahl der Frakturen.
Zukünftig stelle sich nun die Frage, ob Bluthochdruck über 24 Stunden kontrollierbar sei, ohne Schaden zu verursachen. „Das muss die Industrie nun herausfinden.“
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Diesen Artikel so zitieren: Blutdruckpille abends oder morgens? Egal! Einnahme vorm Schlafen schützt nicht besser vor Herz-Kreislauf-Ereignissen - Medscape - 29. Aug 2022.
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