Bei 11 verschiedenen Krebsformen haben Männer ein signifikant höheres Erkrankungsrisiko als Frauen. So ist etwa beim Ösophaguskarzinom, beim Kehlkopfkarzinom, beim Kardiakarzinom und beim Blasenkarzinom das Risiko für Männer 3-mal höher. Dies zeigt eine kürzlich in der Zeitschrift Cancer online publiziert Studie [1].
Aber woran liegt das? Nach einer neuen Analyse lässt sich dieser Unterschied nur teilweise durch einen risikobehafteten Lebensstil und die Exposition gegenüber krebserregenden Substanzen erklären.
Es gibt intrinsische biologische Unterschiede
„Es gibt Unterschiede in der Krebsinzidenz, die nicht allein durch Umwelteinflüsse erklärbar sind“, sagt Erstautorin Dr. Sarah S. Jackson von der Division of Cancer Epidemiology and Genetics am National Cancer Institute in Bethesda, USA. „Dies spricht für die Existenz intrinsischer biologischer Unterschiede zwischen Männern und Frauen, welche die Suszeptibilität für Krebserkrankungen beeinflussen.“
In ihrem Paper schreiben die Forscher um Jackson, dass es wichtig sei, die geschlechtsspezifischen biologischen Mechanismen zu verstehen, die bei Männern an den gleichen anatomischen Stellen häufiger ein Krebswachstum erzeugen als bei Frauen. „Dieses Verständnis könnte bedeutsam sein für Ätiologie und Prävention dieser Karzinome“, ergänzen sie.
Noch kein Grund für Änderungen bei der Krebsvorsorge
Die Ergebnisse „sprächen aber nicht für Änderungen an den bestehenden Protokollen zur Krebsprävention", um gegen die unterschiedlichen Krebsraten bei Männern und Frauen anzugehen. „Es sind weitere Studien erforderlich, bevor daraus Empfehlungen abgeleitet werden können“, sagte Jackson gegenüber Medscape. „Wir müssen zum Beispiel die weibliche Immunantwort genauer erforschen. Wenn wir Mechanismen aufdecken können, die Frauen einen Immunvorteil bringen, lassen sich daraus vielleicht Therapeutika zur Stärkung des Immunsystems entwickeln, um der Entstehung von Karzinomen vorzubeugen oder diese zu behandeln.“
„Wir sollten auch damit beginnen, unsere Forschungsergebnisse zu Krebsinzidenz, -vorsorge und -überleben nach Geschlecht aufzuschlüsseln, um sicherzustellen, dass wir keine wichtigen geschlechtsspezifischen Zusammenhänge übersehen“, ergänzte sie.
Begleiterkrankungen blieben unberücksichtigt
Die Autoren eines begleitenden Editorials, Dr. Jingqin R. Luo und Dr. Graham A. Colditz von der Washington University School of Medicine in St. Louis, USA, lobten die Forschungsgruppe für ihre „gründlichen und umfassenden Analysen“ [2]. Diese Studie „hat unser Verständnis der geschlechtsspezifischen Unterschiede bei Krebserkrankungen vertieft, insbesondere im Hinblick auf den Anteil der Risikofaktoren“.
Da jedoch eine überwiegend ältere Bevölkerung untersucht wurde, Begleiterkrankungen wie Bluthochdruck, Hypercholesterinämie und Herz-Kreislauf-Erkrankungen aber unberücksichtigt blieben, weise die Studie einige „relevante“ Einschränkungen auf, so Luo und Colditz.
Geschlecht sollte in der Onkologie immer bedacht werden
Der Anteil der Risikofaktoren an den geschlechtsspezifischen Unterschieden sei „wahrscheinlich auf komplexe Wechselwirkungen zurückzuführen“. Die Editorialisten fragen sich, ob die in der Studie verwendete statistische Modellierung „zu eng“ gehalten war. Weitere zu berücksichtigende Aspekte seien aus ihrer Sicht die Ethnie sowie gesundheitsrelevante sozioökonomische Faktoren.
Dennoch weisen sie darauf hin, dass geschlechtsspezifische Unterschiede „in fast jedem Aspekt des onkologischen Kontinuums zu beobachten“ seien und ein „multidimensionaler Ansatz“ erforderlich sei, um sie anzugehen.
„Die strategische Einbeziehung des Geschlechts als biologische Variable sollte in der gesamten Onkologie durchgesetzt werden. Das umfasst auch die Risikovorhersage und die primäre Krebsprävention, die Krebsvorsorge und die Sekundärprävention bis hin zur Krebsbehandlung und dem Patientenmanagement“, schlussfolgern Luo und Colditz.
Lebenszeitwahrscheinlichkeit für Krebs insgesamt gleich hoch
In ihrer Studie weisen Jackson und ihr Team darauf hin, dass die Lebenszeitwahrscheinlichkeit, an Krebs zu erkranken, bei Männern und Frauen mit 40% bzw. 39% in etwa gleich hoch sei Allerdings sei die Belastung durch Karzinome an gleichen Lokalisationen bei Männern „deutlich höher" und das relative Risiko für Männer mehr als doppelt so hoch als bei Frauen.
Um die Kluft zwischen den Zahlen zu erklären, wurde mitunter auf Unterschiede zwischen den Geschlechtern beim Rauchen, beim Alkoholkonsum, bei der Ernährung, beim Zugang zu medizinischer Versorgung bzw. deren Inanspruchnahme sowie bei der Krebsvorsorge hingewiesen. Aber nur wenige Studie hätten sich dabei auf individuelle Patientendaten gestützt, so die Forschenden.
Analyse von Daten aus der NIH-AARP Diet and Health Study
Sie untersuchten daher Aufzeichnungen aus der prospektiven NIH-AARP Diet and Health Study. Diese begann 1995 mit einem Basisfragebogen, der an 3,5 Millionen AARP-Mitglieder im Alter zwischen 50 und 71 Jahren aus 6 US-Bundesstaaten verschickt wurde. Damals sendeten 617.119 Personen den Basisfragebogen zurück, was einer Rücklaufquote von 17,6% entspricht.
Die aktuelle Studie konzentrierte sich auf 334.905 Teilnehmer, die zwischen 1996 und 1997 auch einen Folgefragebogen ausfüllten, der detailliertere Informationen über die Ernährung und andere Lebensstilfaktoren enthielt.
Fast 300.000 Personen über mehr als eine Dekade nachbeobachtet
Ausgeschlossen wurden Personen, die inzwischen eine Krebsdiagnose erhalten hatten, einen schlechten Gesundheitszustand beschrieben, eine extrem hohe oder niedrige Kalorienzufuhr vermerkten oder widersprüchliche Angaben zum Geschlecht machten. Letztlich analysierten Jackson und ihre Kollegen 294.100 Personen (58% Männer, 42% Frauen) im Durchschnittsalter von 63,5 Jahren.
Nach einer mehr als 10-jährigen Nachbeobachtungszeit (durchschnittlich 11,5 Personenjahre bei Männern und 12,4 Personenjahre bei Frauen) fand das Team 26.693 Krebsneuerkrankungen an 21 gemeinsamen anatomischen Lokalisationen. Betroffen waren 17.951 Männer und 8742 Frauen.
Keine Häufigkeitsunterschiede auf den ersten Plätzen
Die 5 häufigsten Krebsformen waren fast identisch: Die Plätze 1 bis 3 wurden bei beiden Geschlechtern von Lungen-, Dickdarm- und Hautkrebs belegt und Platz 5 vom Nierenkarzinom. Lediglich der 4. Platz ging bei den Männern an das Blasenkarzinom und bei den Frauen an das Pankreaskarzinom.
Nach Adjustierung der Daten um demographische, Lebensstil- und Ernährungsfaktoren zeigten sich die größten Unterschiede in der Häufigkeit beim Adenokarzinom der Speiseröhre (Männer vs. Frauen: HR 10,80), beim Kehlkopfkarzinom (HR 3,53), beim Kardiakarzinom (HR 3,49) und beim Blasenkarzinom (HR 3,33).
Im Gegensatz dazu hatten Männer ein geringeres Risiko für Schilddrüsenkarzinome (HR 0,55) und für Gallenblasenkarzinome (HR 0,33).
Erhöhtes Risiko bestätigt sich für 11 Krebsarten
Bei 11 Krebsarten blieb das erhöhte relative Risiko für Männer auch nach Adjustierung um mögliche Einflussfaktoren erhalten. Für viele andere Krebsarten war die Assoziation danach jedoch nicht mehr signifikant, darunter Lungen-, Pankreas-, Dünndarm-, Dickdarm-, Mundhöhlen-, Ösophagus- und Plattenepithelkarzinome und andere Kopf- und Halskrebsarten.
Bei 7 Krebsarten ließen sich die Diskrepanzen zwischen Männern und Frauen zumindest teilweise durch Unterschiede bei Risikofaktoren erklären. Dabei handelte es sich um Lungen-, Dickdarm-, Mastdarm-, Gallengangs-, Haut-, Blasen- und Ösophagus-Adenokarzinome. Dabei reichte der Anteil der Varianz, der durch Unterschiede bei Risikofaktoren bedingt war, von 11,2% beim Ösophagus-Adenokarzinom bis hin zu 49,4% beim Lungenkarzinom.
Interessanterweise gab es keine signifikanten Zusammenhänge zwischen den Krebsraten an bestimmten anatomischen Lokalisationen und Alkoholkonsum, Raucherstatus, Body-Mass-Index oder Altersgruppe.
Geschlechtsspezifische Verzerrung muss in anderen Ethnien bestätigt werden
Für Jackson stellen die Geschlechtsunterschiede bei Krebserkrankungen „ein sehr vielversprechendes Forschungsgebiet dar“ und sie möchte daher mit ihrem Team „diesen Zusammenhängen unbedingt weiter nachgehen“.
„Die Menschen aus dem von uns verwendeten Datensatz stammen größtenteils aus nicht lateinamerikanischen weißen Ethnien. Uns würde interessieren, ob eine derartige geschlechtsspezifische Verzerrung auch in anderen ethnischen Gruppen vorkommt, was weitere Hinweise auf eine biologische Grundlage für diese Unterschiede liefern würde“, sagte sie gegenüber Medscape. „Außerdem würden wir in künftigen Forschungsarbeiten auch gern den Anteil der Sexualhormone und der Genetik zur Krebsinzidenz untersuchen“, fügte sie hinzu.
Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
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Credits:
Photographer: © Andrey Popov
Lead image: Dreamstime.com
Medscape Nachrichten © 2022
Diesen Artikel so zitieren: Männer haben ein höheres Risiko für 11 Krebsarten – und es liegt nicht nur an der ungesünderen Lebensweise - Medscape - 26. Aug 2022.
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