MEINUNG

Blutdruckpillen, Screenings, PCI und mehr: Wie der Kardiologe Dr. John Mandrola die ESC-Studien 2022 einschätzt

John Mandrola

Interessenkonflikte

25. August 2022

Dr. John Mandrola, Kardiologie-Blogger bei der US-Ausgabe von Medscape, fasst die seiner Meinung nach wichtigsten Themen des 43. Kongresses der European Society of Cardiology (ESC) zusammen. Kardiologen treffen sich vom 26. bis 29 August in Barcelona. Ein Überblick:

Einnahmezeitpunkt von Antihypertensiva

Wenn Patienten unter Bluthochdruck leiden und im Internet nach der besten Tageszeit für die Tabletteneinnahme suchen, werden sie wohl auf die HYGIA-Studie stoßen – und wahrscheinlich wären auch Sie als Arzt verblüfft. In der besagten Studie wurde nämlich die morgendliche Einnahme von Antihypertensiva mit der abendlichen Einnahme verglichen. Dabei zeigte sich eine 42-prozentige Verringerung schwerer kardialer Ereignisse wenn die Patienten die Tabletten am Abend einnehmen.

Sinnvoll erscheint dieses Resultat vor der Beobachtung, dass der nächtliche Blutdruck kardiale Ereignisse besser vorhersagt als der Tageswert und dass die nächtliche Wirkstoffzufuhr den morgendlichen Blutdruck senkt. Das wiederum könnte relevant sein, da sich kardiale Ereignisse in den frühen Morgenstunden häufen. Aber 42%!?

Am kommenden Wochenende wird auf dem diesjährigen Kongress der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC) in Barcelona in der 1. Hotline-Session die TIME-Studie vorgestellt. An der Studie nahmen 10.000 Personen teil, die sich selbst anmeldeten und dann nach dem Zufallsprinzip ihre Antihypertensiva morgens oder abends einnahmen. Der primäre Endpunkt war eine Kombination aus Herzinfarkt, Schlaganfall und vaskulär bedingtem Tod.

Die TIME-Studie macht aus zweierlei Gründen neugierig: Erstens wurde HYGIA wegen möglicher Randomisierungsfehler und der Unwahrscheinlichkeit der Effektgröße heftig kritisiert. Wenn TIME als unzureichend eingestuft werden sollte, wird der Ruf nach offenen Daten und einer unabhängigen Überprüfung der Quelldaten noch lauter. Der andere Grund, der hier neugierig macht, ist: Was, wenn HYGIA richtig war und etwas so Einfaches so lang im Verborgenen lag?

Kardiovaskuläres Screening

Ich gebe zu: Ich habe einige Vorurteile. Eines – und vielleicht das größte – ist, dass Vorsorgeuntersuchungen den Untersuchenden mehr nützen als den Untersuchten. Wilson und Jungner hatten Recht, als sie vor über 50 Jahren sagten, dass Vorsorgeuntersuchungen zwar eine tolle Idee seien, doch im wirklichen Leben ihre Tücken hätten.

Zu den Tücken des Herz-Screenings gehören unzureichende Screening-Verfahren, ein zeitweiliger Rückgang kardialer Ereignisse aufgrund anderer Faktoren, wie etwa der Beseitigung von Transfetten aus der Ernährung, einer besseren medizinischen Basistherapie (Statine) und der Tatsache, dass Revaskularisierungen von im Screening entdeckten fokalen Stenosen die Zahl der schweren Ereignisse im Vergleich zur medikamentösen Therapie nicht zu senken vermögen.

Die DANCAVAS-Studie könnte auf dem diesjährigen ESC Wilson und Jungner endgültig widerlegen und mich zwingen, dieses Vorurteil schon einmal zu revidieren.

In dieser Studie wird untersucht, ob ein (wirklich) umfassendes kardiovaskuläres Screening die Zahl der Todesfälle oder kardialen Ereignisse verringert, und wenn ja, ob es kosteneffektiv ist. Das Studienumfeld ist einzigartig, da nur Männer (im Alter von 65-74 Jahren einbezogen wurden, die auf Fünen – der drittgrößten Insel Dänemarks mit etwa einer halben Million Einwohnern – leben.

Ein zufällig ausgewähltes Drittel der 45.000 Männer wurde einem recht strengen Screening-Regime unterzogen, das ein CT zur Untersuchung auf Koronarsklerose oder Aorten-/Iliakalaneurysmen, einen Knöchel-Arm-Index, eine Bewertung des Herzrhythmus sowie die Bestimmung von Zucker- und Fettwerten umfasste. Die Autoren wollen ihre nationalen Datenbanken nutzen, um die Gesamttodesfälle und die Kosten zu analysieren. Der Kontrollarm war die Standardbehandlung.

DANCAVAS wendet sich dabei gegen ihre Kontrollgruppe. Wenn die Studie keinen Erfolg zeigt oder die Effektgröße sehr gering ist, werden Screening-Verfechter argumentieren, dass die Kontrollgruppe zu gut war. Sollte die Studie jedoch zu dem Ergebnis kommen, dass das Screening die Zahl der Ereignisse senkt und dabei kosteneffektiv ist, wäre dies ein erstaunliches Resultat, wenn man bedenkt, dass Dänemark für sein gutes Gesundheitssystem und die gesunde Bevölkerung bekannt ist.

Ischämische Kardiomyopathie und PCI

Da ich selbst überwiegend im Katheterlabor arbeite, sehe ich häufig Personen mit linksventrikulären Dysfunktionen, bei denen ein interner Kardioverter-Defibrillator (ICD) in Betracht gezogen werden kann, und koronarer Mehrgefäßerkrankung. Die nahe liegende Frage ist: Wenn die Betroffenen einen besseren Koronarfluss hätten, würden sich dann ihre linksventrikuläre Funktion, die Zahl der Krankenhausaufenthalte wegen der Herzinsuffizienz und das Überleben verbessern?

Die Evidenzen für den Benefit durch Revaskularisierungen bei linksventrikulärer Dysfunktion sind allerdings ganz und gar nicht eindeutig.

In der STICH-Studie wurde bei Patienten mit ischämischer Kardiomyopathie der Koronarbypass (CABG) einer optimalen konservativen Therapie gegenübergestellt. Dabei ließen sich keine signifikanten Unterschiede bei den Todesfallzahlen als primärem Outcome feststellen. Eine mögliche Ursache für das unbefriedigende Abschneiden der CABG könnte in einer erhöhten frühen Sterberate liegen. Diese Vorstellung wird durch den Umstand untermauert, dass eine Nachbeobachtung der STICHES-Studie nach fast 10 Jahren doch eine statistisch signifikante Verringerung der Todesfallzahlen im Operationsarm ergab.

Wie steht es denn mit der perkutanen Koronarintervention (PCI) im Vergleich zu einem operativen Vorgehen? Es ist 2022, und die PCI-Technik wurde ständig verbessert. Es ist unwahrscheinlich, dass es für sie ähnliche frühe Mortalitätswerte gibt, wie sie die STICH-Studie für den Koronarbypass misst. In den meisten Vergleichsstudien von PCI und chirurgischer Intervention wurden Personen mit linksventrikulärer Dysfunktion ausgeschlossen. In der größten derartigen Studie (SYNTAX) zeigten nur 2% der inkludierten Personen eine signifikante linksventrikuläre Dysfunktion.

Die REVIVED-BCIS2-Studie wurde am Londoner King's College durchgeführt. Die Forschenden dort teilten etwa 700 Personen mit einer linksventrikulären Ejektionsfraktion von unter 35%, die eine ausgedehnte KHK und eine myokardiale Vitalität in mehreren dysfunktionalen Myokardsegmenten aufwiesen, zufällig entweder einer optimalen medikamentösen Therapie plus PCI oder einer alleinigen optimalen medikamentösen Therapie zu. Primäre Outcomes waren entweder der Tod oder der stationäre Aufenthalt aufgrund der Herzinsuffizienz.

Die Übertragung dieser Ergebnisse wird schwierig. Es handelt sich um ein stark selektiertes Patientenkollektiv (geeignete anatomische Bedingungen und viel vitales Myokard), bei dem von erfahrenen Operateuren eine PCI durchgeführt wurde, während der Nachbeobachtungszeitraum lediglich 2 Jahre betrug. Abgesehen davon bin ich aber sehr gespannt, wie gut die moderne medikamentöse Therapie mit der modernen Revaskularisationstechnik mithalten kann. Ich würde auf die medikamentöse Therapie setzen.

Mehr Tests – nur um sicher zu gehen

Ich bin alt genug, um mich noch an die kostenintensive Mode zu erinnern, dass nach einer Revaskularisation wiederholt Funktionstests durchgeführt wurden.

Obwohl dies als routinemäßige Strategie heute nur noch wenig praktiziert wird, gibt es nach wie vor Bedenken seitens der Patienten, bei denen eine PCI von Hochrisikoläsionen durchgeführt wurde, wie z.B. bei „Kissing Stents“ in der distalen A. coronaria sinistra. Wenn ich solche Patienten sehe, denke ich oft an die Blutplättchen, die jeden Tag 100.000-mal an dem Metall dort vorbeischwirren.

Daher interessiert mich auch die praxisnahe POST-PCI-Studie, bei der mehr als 1.700 Hochrisikopatienten, die sich ein Jahr zuvor einer PCI unterzogen hatten, nach dem Zufallsprinzip entweder einem routinemäßigen nichtinvasiven Belastungstest zugeteilt oder weiter standardmäßig versorgt wurden. Das primäre Outcome war eine Kombination aus Tod, Herzinfarkt oder Krankenhausaufenthalt nach 2 Jahren.

Neben der offensichtlichen klinischen Frage, ob eine routinemäßige Überwachung mit Funktionstests selbst bei Hochrisikopatienten eine Rolle spielt, sollte in POST-PCI auch ihre Anwendbarkeit in der täglichen Praxis untersucht werden. Die Autoren verwendeten bei der Konzeption der Studie den PRECIS-2-Score. Dabei handelt es sich um ein mehrdimensionales Tool für Praxisnähe, d.h. sind die Patienten repräsentativ, ist das primäre Outcome relevant, gibt es eine flexible Versorgung und ist das Studienumfeld realistisch. Derartiges wünscht man sich häufiger in Studien.

Wird ein weiteres Herzkatheter-Dogma fallen?

Manch einer mag mir ja widersprechen, wenn ich die CAPLA-Studie zur alleinigen Pulmonalvenenisolation (PVI) im Vergleich zur PVI plus Isolation der linksatrialen Hinterwand bei Patienten mit persistierendem Vorhofflimmern hervorhebe, und der Ansicht sein, sie sei für das allgemeine Kardiologiepublikum nicht attraktiv genug.

Aber ich wähle CAPLA nicht aus, weil sie über eine Ablationstechnik bei persistierendem Vorhofflimmern informiert, sondern weil sie die Dominanz der Evidenz über das Ansehen eines Verfahrens demonstrieren wird, wenn sie keinen Benefit für eine zusätzliche Ablationsintervention gegenüber der Standard-Pulmonalvenenisolation hinauszuzeigen vermag.

Seit über einem Jahrzehnt heißt es, dass die PVI allein beim persistierenden Vorhofflimmern nicht reicht. Diese Meinung war derart etabliert, dass sie sogar die STAR-AF-II-Studie von 2015 überlebte, nach der bereits eine zusätzliche Ablationsintervention über die PVI hinaus bei persistierendem Vorhofflimmern nicht besser abschnitt als die PVI allein.

Nicht randomisierte Studien zur Isolation der linksatrialen Hinterwand haben einen Benefit nahegelegt. Auch einflussreiche Experten haben die zusätzliche Ablation gepriesen. Nicht zuletzt erscheint die Hinterwandisolation auch plausibel, da dieser Bereich stark parasympathisch innerviert ist und von dort bekanntermaßen ein Vorhofflimmern seinen Ausgang nehmen kann.

Die CAPLA-Studie ist elegant, weil sie so einfach ist: Mehrere Zentren nehmen Patienten auf, eine Gruppe erhält PVI, die andere PVI plus Hinterwandisolation. Der primäre Endpunkt ist das Wiederauftreten eines Vorhofflimmerns. Ich war von der frühen und routinemäßigen Isolation der linksatrialen Hinterwand nie überzeugt. Damit ist CAPLA eine weitere ESC-Studie, die mich dazu veranlassen könnte, meine Meinung zu ändern. Aber... – wenn die CAPLA-Studie keinen Benefit belegt, dann widersprechen Sie mir bitte nicht, wenn ich das nächste Mal auf die Notwendigkeit echter randomisierter kontrollierter Studien hinweise.

Was der ESC sonst noch zu bieten hat, erfahren Sie in der Vorschau von Patrice Wendling. Der diesjährige Kongress ist eine Hybridveranstaltung. Ich selbst werde vor Ort sein. Wenn Sie auch dort sind, können Sie mich gern ansprechen.

Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.

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