Nicht-invasive elektrische Hirnstimulation verbessert Gedächtnis von gesunden Senioren – auch eine Option bei Demenz?

Nadine Eckert

Interessenkonflikte

25. August 2022

Eine nicht-invasive Stimulation des Gehirns mit Wechselstrom für jeweils 20 Minuten an 4 aufeinanderfolgenden Tagen kann die Gedächtnisleistung älterer Menschen für mindestens einen Monat verbessern. Das berichten US-Forscher in Nature Neuroscience [1]. Patienten mit einer Demenz waren von der Studie dezidiert ausgeschlossen. Dennoch wirft sie zwangsläufig die Frage auf, ob auch Menschen mit kognitiven Defiziten von einer solchen Behandlung profitieren könnten.

 
Man könnte hier sicherlich die Frage stellen, ob kognitives Training herkömmlicher Art nicht gleich effektiv oder besser ist und zusätzlich andere positive Effekte haben kann. Prof. Dr. Paul Lingor
 

Prof. Dr. Paul Lingor, Oberarzt an der Klinik für Neurologie am Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München, betont auf Nachfrage: „Meines Erachtens ist das [für gesunde Menschen] ein wenig praktikabler Ansatz für die Klinik. Man könnte hier sicherlich die Frage stellen, ob kognitives Training herkömmlicher Art nicht gleich effektiv oder besser ist und zusätzlich andere positive Effekte haben kann.“

„Der Einsatz dieser Hirnstimulation bei Demenzpatienten wäre auf jeden Fall der interessantere Weg“, sagt der Neurologe, der selbst nicht an der Studie beteiligt war. „Erst in solch einem Setting würde sich die Sinnhaftigkeit des Verfahrens zeigen.“

 
Der Einsatz dieser Hirnstimulation bei Demenzpatienten wäre auf jeden Fall der interessantere Weg. Prof. Dr. Paul Lingor
 

Allerdings ist nachlassendes Gedächtnisleistung im Alter auch ohne Demenz ein Problem, wie der Erstautor Shrey Grover vom Department of Psychological and Brain Sciences an der Boston University, Boston, USA, und seine Kollegen argumentieren: „Der demographische Wandel mit einer rapide alternden Bevölkerung geht mit beträchtlichen persönlichen, sozialen, gesundheitlichen und ökonomischen Kosten einher. Die im Alter nachlassende Gedächtnisleistung ist ein Faktor, der dazu entscheidend beiträgt, da sie für Alltagsaktivitäten wie etwa finanzielle Entscheidungen zu treffen oder Sprache zu verstehen unabdingbar ist.“

Verbesserung der rhythmischen Aktivität des Gehirns

In neurowissenschaftlichen Forschungsarbeiten wurden mittlerweile die neuronalen Schaltkreise und Netzwerke identifiziert, die der Gedächtnisleistung zugrunde liegen. Und es deutet sich an, dass es die rhythmische Aktivität dieser Schaltkreise im Gehirn ist, die für die Koordination der Informationsverarbeitung notwendig ist. „Was wir nun brauchen, sind nicht-invasive Technologien, um die rhythmische Aktivität dieser neuronalen Schaltkreise zu isolieren und zu verbessern“, so die Autoren.

Grover und seine Kollegen rekrutierten für ihre Untersuchung Studienteilnehmer über 65 Jahren aus der Region um Boston. Die Probanden waren für ihr Alter gesund, sie durften in der Anamnese z: B. keine Krampfanfälle, Schlaganfälle oder neurologische und psychische Erkrankungen haben.

Analysiert wurden letztlich 150 Probanden im Alter zwischen 65 und 88 Jahren. Über eine Haube mit Elektroden wurden elektrische Ströme auf die Kopfhaut der Studienteilnehmer geleitet. Währenddessen hörten sie 5 Listen mit jeweils 20 Wörtern, die sie sich merken sollten. Die Stimulationsbehandlungen dauerten jeweils 20 Minuten und wurden an 4 aufeinanderfolgenden Tagen wiederholt.

Transkranielle Wechselstromstimulation soll Neuroplastizität anregen

Die in der Studie verwendete Methode ist die transkranielle Wechselstromstimulation (tACS): Dabei regen sinusförmige elektrische Wechselströme Hirnschwingungen an und sollen dadurch Neuroplastizität begünstigen – die Grundlage von Lernen und Gedächtnis.

Die Autoren um Grover zielten mit 2 unterschiedlichen Stimulationsfrequenzen auf 2 Hirnregionen ab: Die Stimulation des inferioren Parietallappens mit einer Frequenz von 4 Hertz verbesserte den Abruf der Wörter am Ende der Liste – ein Hinweis auf die Speicherung im Arbeitsgedächtnis. Die Stimulation des dorsolateralen präfrontalen Kortex mit 60 Hertz dagegen begünstigte den Abruf der Wörter am Anfang der Liste – was eher für eine Verankerung im Langzeitgedächtnis spricht.

Effekt hielt über mindestens einen Monat an

Sie berichten, dass die Verbesserungen über mindestens 1 Monat angehalten hätten. Die Studienteilnehmer mit der schlechtesten kognitiven Funktion zu Beginn der Studie hätten dabei am meisten von der tACS profitiert.

 
Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Gedächtnisfunktion bei älteren Menschen durch eine Modulation funktionell spezifischer Hirnrhythmen selektiv und anhaltend verbessert werden kann. Shrey Grover und Kollegen
 

„Zusammengenommen deuten unsere Ergebnisse darauf hin, dass die Gedächtnisfunktion bei älteren Menschen durch eine Modulation funktionell spezifischer Hirnrhythmen selektiv und anhaltend verbessert werden kann“, schlussfolgern sie. „Das der Effekt der 4-tägigen Intervention über mindestens 1 Monat anhielt, könnte durch neuroplastische Veränderungen bedingt sein.“

Ein „Sprungbrett“ für Untersuchungen bei Menschen mit Demenz

Ausgehend von ihren Ergebnissen betonen Grover und seine Kollegen, dass neben den potenziellen Vorteilen für gesunde, ältere Erwachsene auch die Auswirkungen auf Menschen mit neuropsychiatrischen und neurodegenerativen Erkrankungen untersucht werden sollten – insbesondere bei jenen mit Gedächtnisdefiziten und Demenzrisiko. „Die Ergebnisse dieser Studie könnten als ‚Sprungbrett‘ dienen, um diese klinisch relevanten Fragen zu beantworten.“

Dass die Studienergebnisse bestenfalls ein „Sprungbrett“ sein können, bestätigt sich im Gespräch mit Experten: „Da es sich nicht um ein klinisches Verfahren, sondern um eine explorative Studie zur Untersuchung der Interaktion von Stimulationsrhythmen mit Zielregionen im menschlichen Gehirn auf bestimmte Aspekte des auditiven Sprachgedächtnisses handelt, ist es sinnvoll, dass diese Studie mit gesunden Probanden durchgeführt wurde“, sagt Prof. Dr. Wolf-Julian Neumann, Projektleiter in der Sektion Bewegungsstörungen und Neuromodulation an der Klinik für Neurologie mit Experimenteller Neurologie der Charité – Universitätsmedizin Berlin. 

„Aber für eine klinische Untersuchung bei an einer Demenz erkrankten Menschen lässt sich aus der Studie derzeit kein Nutzen ableiten“, stellt er klar. Dennoch sei es „interessant“, dass die tACS bei Probanden mit geringerer kognitiver Leistungsfähigkeit – gemessen an einem klinischen Assessment, einen stärkeren Effekt aufwies. Die Studie weise demzufolge in die richtige Richtung.

Denn für die Entwicklung neuer klinischer Verfahren müssen zuerst die Grundlagen verstanden werden. Erst dann lassen sich relevante klinische Effekte erwarten. „Für mich persönlich zeigt die Studie vor allem, dass wir bestimmte Hirnrhythmen erforschen müssen und durch ein besseres Verständnis in Zukunft vor allem die Aktivität beeinflussen können, die von Probanden und Patienten gerade zum Zeitpunkt der Stimulation ausgeführt wird“, so Neumann.

Für Demenzpatienten sind kausale Therapien gefragt

Noch etwas kritischer sieht die Studie Prof. Dr. Johannes Levin, Stellvertretender Leiter der klinischen Forschung am Deutsches Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen (DZNE), München. Grundsätzlich sei das ein interessanter Ansatz, der in dieser Studie verfolgt werde. Allerdings sei hier höchstens eine Symptomlinderung zu beobachten gewesen.

Der Professor für klinische Neurodegeneration an der Neurologischen Klinik und Poliklinik der Ludwig-Maximilians-Universität München betont: „Insbesondere bei Demenzpatienten, die hier explizit nicht untersucht wurden, aber als interessante Patientengruppe aufgetan werden, brauchen wir kausale Therapien.“

Aber die die Gehirne von Demenzkranken sind pathologisch betrachtet anders sind als jene von gesunden Menschen. „Ich sehe es daher immer kritisch, wenn durch solche oder vergleichbare Studien die Hoffnung geweckt wird, man habe hier vielleicht eine Behandlungsmöglichkeit für den kognitiven Verfall im Alter oder aber auch bei Demenzkranken gefunden“, ergänzt er.

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Kommentar

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