„Ärger schlägt auf den Magen“ – diese Lebensweisheit gilt bei funktioneller Dyspepsie und Reizdarm um so mehr. Denn charakteristisch ist, dass sich keine somatische Ursache feststellen lässt, viele Patienten aber an Stress und psychischen Problemen leiden. Die Beschwerden als „harmlose Befindlichkeitsstörung“ abzutun, wäre dennoch völlig verfehlt, weil oft durchaus Fehlregulationen der Darm-Hirn-Achse nachweisbar sind, wie die Autoren eines Reviews klar machen[1].
In Befragungen geben viele Menschen an, dass ihnen immer wieder Übelkeit, Völlegefühl, Blähungen, Verstopfung, Durchfall oder Bauchschmerzen zu schaffen machen. Allerdings sucht nur eine Minderzahl deswegen Hilfe beim Hausarzt oder Internisten und bei etwa der Hälfte der Patienten mit solchen gastrointestinalen Beschwerden können die Ärzte keine körperliche Erkrankung entdecken.
Definitionsgemäß handelt es sich um funktionelle Beschwerden, die außer von biologischen auch von psychischen und sozialen Aspekten geprägt sind. In einer Publikation loten 2 Spezialisten diesen Komplex aus: Prof. Dr. Winfried Häuser arbeitet als Facharzt sowohl für Innere als auch für Psychosomatische Medizin am Klinikum Saarbrücken. PD Dr. Viola Andresen leitet das Ernährungsteam am Israelitischen Krankenhaus Hamburg.
Funktionelle Dyspepsie und Reizdarm am häufigsten
Im Verdauungssystem sind die häufigsten Formen die funktionelle Dyspepsie, deren Prävalenz epidemiologischen Studien zufolge schätzungsweise 16% beträgt, und das Reizdarmsyndrom mit einer Rate von 11%.
Kennzeichen der funktionellen Dyspepsie sind frühes Sättigungsgefühl bei einer Mahlzeit und Völlegefühl danach, Schmerzen und Brennen im Oberbauch.
Typisch für Reizdarm sind chronische oder rezidivierende Bauchschmerzen oder Blähungen, deren Ursache die Patienten im Darm verorten und die ihre Lebensqualität stark vermindern. Nach den meist begleitenden Veränderungen im Stuhlgang unterscheiden die Rom IV-Kriterien 5 Subtypen, von hart/klumpig bis breiig/wässrig und Mischformen.
Zur Entstehung und zum Verlauf tragen organische, zelluläre oder genetische Veränderungen der Darm-Hirn-Achse bei. Sie beeinträchtigen Motorik, Sensorik, Immunfunktionen und das Mikrobiom, was sich ungünstig auf Transitzeit der Nahrung, gastrokolischen Reflex und viszerale Sensitivität auswirkt.
Barriere und Sekretion der Schleimhaut sind gestört (leaky gut), spezielle Botenstoffe werden ausgeschüttet. Nach diesen Kriterien klassifizieren die Rom-IV-Kriterien 20 teilweise wieder untergliederte Formen und ersetzen den Begriff „funktionell“ durch „Störungen der Darm-Hirn-Interaktionen“.
Oft mehrere funktionelle Schmerzsyndrome vorhanden
Psychische Einflüsse spielen bei diesen Prozessen eine wichtige Rolle. Ein Großteil der Reizdarm-Patienten entwickelt im Lauf des Lebens mindestens eine psychische Erkrankung. Auch sind funktionelle gastrointestinale Beschwerden (FGID) häufig mit anderen funktionellen Schmerzsyndromen wie Fibromyalgie oder Spannungskopfschmerz assoziiert, weiterhin mit psychischen Störungen wie Ängsten oder Depressionen.
Manche Reizdarm-Patienten entwickeln regelrechte Phobien: Sie meiden bestimmte Nahrungsmittel, soziale oder körperliche Aktivitäten aus Angst, die Symptome könnten sich verstärken. In Spezialambulanzen tauchen einige mit so starkem Untergewicht auf, dass die Fehldiagnose „Anorexie“ gestellt wird. Andere verlassen ihre Wohnung nicht mehr aus Angst vor imperativem Stuhldrang.
So verwundert es nicht, dass Ärzte häufig diagnostische Codes für psychische Störungen oder Verhaltensstörungen verwenden. Häuser und Andresen betonen aber, dass FGID sowohl in der aktuellen ICD-10 als auch der zukünftigen ICD-11 als Verdauungskrankheiten gelistet sind. Als Lösung schlagen sie vor, beide Diagnosen zu stellen, etwa körperliche Belastungsstörung vom Typ Reizdarm.
Leitlinie gibt Orientierung bei der Diagnostik
Bei der Diagnostik dieser Störungen gilt es einige Probleme zu bewältigen. So sind viele Ärzte unsicher, weil sie keinesfalls „etwas Ernstes“ übersehen möchten. Andere sind versucht, die Beschwerden als „harmlos“ und die Patienten als „Darmspinner“ zu bewerten.
Manche Patienten wiederum können kaum glauben, dass ihnen nichts Konkretes fehlt, sie befürchten, als „eingebildete Kranke“ oder „psychisch gestört“ abgestempelt zu werden und betreiben daher Arzt-Hopping, weil sie sich eine „richtige“ Diagnose erhoffen.
Einen Algorithmus für die Diagnostik geben die erst kürzlich aktualisierten Reizdarm-Leitlinien vor. Ein Kernelement ist die Anamnese. Sie ergibt meist, dass sich die Störung spätestens bis zum frühen Erwachsenenalter manifestiert. Phasen mit mal milderen, mal stärkeren Beschwerden wechseln einander ab, psychosozialer Stress verschlimmert sie. Viele Patienten berichten über Schmerzen auch an anderen Stellen, vermehrtes Schwitzen, Palpitationen, Erschöpfung, Schlafstörungen oder Nervosität.
Grundlegend zum Ausschluss somatischer Erkrankungen sind etwa Blutbild, Entzündungs- und Leberwerte, Test auf okkultes Blut im Stuhl und Abdomen-Sonografie. Bei Verdacht auf funktionelle Dyspepsie empfehlen Häuser und Andresen eine Magenspiegelung mit Abklärung von Helicobacter-Infektion und Zöliakie, bei Verdacht auf Reizdarm eine Koloskopie, wenn Risikofaktoren für Darmkrebs vorliegen wie Kolonkarzinom in der Familie, Alter über 45, Blut im Stuhl bzw. erhöhtes fäkales Calprotectin.
Bei entsprechenden Hinweisen können sich spezielle Untersuchungen anschließen, etwa auf Würmer, C1-Esterase-Inhibitor-Mangel, Nahrungsmittelallergien, Morbus Crohn oder Zuckermalabsorptionen.
Emphatische Kommunikation ein Kernelement der Therapie
Als erste Stufe der Therapie nennen die Autoren die Edukation: empathisch zu vermitteln, dass die Beschwerden „echt“ sind und auf Funktionsstörungen des Magens oder Darms zurückgehen. Zugleich könne man die Patienten damit beruhigen, dass ihnen weder schädliche Folgen wie Krebs, noch eine verminderte Lebenserwartung drohen ist.
Weiterhin schlagen die Experten vor, anhand von Redewendungen wie „Ärger schlägt auf den Magen“ den Zusammenhang zwischen Emotionen und Verdauung zu erläutern. Daraus folgt, dass die Patienten selbst viel zur Linderung beitragen können, indem sie zum Beispiel ihre Ernährung umstellen, Stress reduzieren und ausreichend schlafen. Wertvoll ist auch der Hinweis auf qualitätsgesicherte Informationen wie Gesundheitsinformation.de , eine Website des IQWiG.
Die zweite Stufe der Therapie umfasst Diät, Medikamente und Psychotherapie, wobei nur ein probatorisches Vorgehen möglich ist. Zudem sollten Ärzte offen sagen, dass es kein rasch wirkendes Wundermittel gibt. Und sie müssen sich bewusst sein, dass die Prognose eher ungünstig ist: Den Daten zufolge kommt es nur bei gut einem Viertel der Patienten zu einer deutlichen Besserung.
Als Medikamente gegen funktionelle Dyspepsie zählen die Autoren auf: Hemmstoffe der Magensäureproduktion wie Pantoprazol oder Famotidin, Prokinetika, Phytotherapeutika wie Pfefferminz- und Kümmelöl, STW-5 und STW5-II sowie niedrig dosierte trizyklische Antidepressiva zur Schmerzmodulation.
Bei Reizdarm können Probiotika hilfreich sein oder bei Malabsorption ein Verzicht auf Laktose oder Fruktose. Eine Option ist auch die Low-FODMAP-Diät: Zunächst werden fermentierbare Oligo-, Di-, Monosaccharide und Polyole (FODMAP) weggelassen, also etwa Brot, Nudeln, viele Obst- und Gemüsesorten, anschließend Schritt für Schritt in kleinen Mengen wieder in den Speiseplan aufgenommen. So lässt sich prüfen, welche man verträgt. Ein Ernährungstagebuch unterstützt die Suche nach ungünstigen Nahrungsmitteln.
Bei Obstipation kommen als Arzneimittel in Frage: Ballaststoffe (Plantago afra/ovata, Samenschalen, Pektine), osmotische oder sekretorische Laxantien und schließlich Prucaloprid.
Bei Diarrhö können ebenfalls Ballaststoffe verordnet werden, weiterhin Loperamid oder Gallensäurebinder. Gegen Blähungen helfen Entschäumer oder Phytotherapeutika wie Fenchel oder Kümmel.
Bei Bauchkrämpfen und -schmerzen bieten sich an: Spasmolytika (Mebeverin), Anticholinergika, niedrig dosierte trizyklische Antidepressiva, STW-5 oder STW-5-II.
Als psychologische Methoden eignen sich die kognitive Verhaltenstherapie und die bauchgerichtete Hypnose (gut-directed hypnosis). Wie Häuser in einem Video erläutert, zitieren die neuen Leitlinien erstmals Metaanalysen, die eine Wirksamkeit der Hypnose belegen. Allerdings wird dieses einzige spezifische Verfahren nur in wenigen Zentren angeboten. Daher sei zu hoffen, dass bald Apps mit Bauchhypnose und Elementen der kognitiven Verhaltenstherapie zugelassen werden.
In letzter Stufe bei schwerer FGID kann die Aufnahme in eine psychosomatische Klinik, wo Medikation und Psychotherapie kombiniert werden, unumgänglich sein.
Dieser Artikel ist im Original erschienen auf Coliquio.de .
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Diesen Artikel so zitieren: Mehr als seine Befindlichkeitsstörung: Reizdarm als eine Fehlregulation der Darm-Hirn-Achse - Medscape - 24. Aug 2022.
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