Was „schlimmer“ ist als Fett oder Zucker und ein neuer Blick auf das Körpergewicht: Spannendes vom EASD

Prof. Dr. Stephan Martin

Interessenkonflikte

26. September 2022

Stockholm – Prof. Dr. Stephan Martin berichtet vom EASD, dass hoch verarbeitete Lebensmittel für das Diabetes-Risiko eine bedeutende Rolle spielen könnten. Zudem rückt das Körpergewicht wieder stärker in den Fokus.  

Transkript des Videos von Prof. Dr. Stephan Martin, Düsseldorf

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

ich berichte vom Europäischen Diabeteskongress, der vom 20. bis 23. September 2022 in Stockholm stattfand [1].

Ich verfolge diesen Hybrid-Kongress von zuhause. Auch wenn es die COVID-Situation nicht mehr erforderlich macht, dass man solche Kongresse auch online durchführt, es bleibt trotzdem dabei. Es wird lebhaft diskutiert, ob wir wieder ganz normale Kongresse oder ob wir vielleicht nur noch Online-Kongresse haben werden.

Ich persönlich profitiere im Moment davon, ich kann am Kongress teilnehmen, kann morgens meine Sprechstunde machen, kann mir die Vorträge On-Demand abends anhören. Ich bin dabei, ohne hohe Reisekosten und Aufwand zu haben.

Ultraprozessierte Ernährung und Diabetesrisiko

Was gibt es von diesem Kongress zu berichten? Das ist wie immer sehr individuell.

Ich habe einen interessanten Vortrag von Z. Chen aus der Arbeitsgruppe von Dr. Frank Hu, Boston, gehört, der die epidemiologischen Studien zur Ernährung macht (OP 01, 3).

Sie haben anhand der Daten von Frauen aus der Nurses‘ Health Study (1984 bis 2014), aus der Nurses Health‘ Study II (1991 bis 2017) und Männern aus der Health Professionals Follow-up Study (HPFS, 1986-2016) die Verwendung von hoch verarbeiteten Lebensmitteln (ultraprocessed food – UPF) analysiert.

Dazu explodiert derzeit die Literatur, weil man plötzlich feststellt, wahrscheinlich war es gar nicht das Fett, wahrscheinlich war es gar nicht der Zucker, der so gefährlich ist. Es scheint so zu sein, dass die Matrix, in der die Nährstoffe sind, wichtig ist. Ist diese Matrix mit irgendwelchen Haltbarkeitsstoffen versetzt, sind künstliche Süßstoffe dabei, dann sprechen wir von hochverarbeiteten Lebensmitteln. Die scheinen gefährlich zu sein.

In der Studie konnte gezeigt werden, dass eine höhere Aufnahme von UPF mit einem höheren Risiko von Diabetes mellitus Typ 2 assoziiert war. Dunkles Brot oder Vollkornbrot senkten das Risiko eher.

Insofern kommt nun vielleicht der Punkt, dass man bei Lebensmitteln anders drauf schauen muss. Man muss nicht den Nutri-Score angucken, der fokussiert nur auf Fette. Dort hat ein zuckergesüßtes Getränk wie z.B. Cola mit Zucker ein E, mit künstlichen Süßstoffen ein B. Das scheint nicht ganz sinnvoll zu sein. Ich halte es für einen völligen Unsinn. Aber wir müssen hier sicherlich anders denken.

Adipositas bei Typ-1-Diabetikern

Wir wissen, dass etwa 30% unserer Typ-1-Diabetiker adipös sind. Das ist zum Teil auch selbst verursacht, nach dem Motto, „Sie können alles essen, was Sie wollen, Hauptsache, Sie spritzen die richtige Insulindosis.“ Insulin ist ein wesentlicher Faktor, der die Menschen dick macht.

Wir sehen, 30% sind massiv übergewichtig. Wie werden diese wieder normalgewichtig? Hierzu wurde viel diskutiert. Es kam jedoch nicht zu einem Punkt. Diesem Thema muss man sich aber stellen, vom EASD-Kongress in Stockholm gab es aber keine Antwort.

UKPDS-Studie – 44 Jahre Follow-Up

In einer weiteren hochinteressanten Sitzung wurden 44-Jahre Follow-Up der UKPGS-Studie diskutiert. Wir alle kennen diese große englische Studie, in der Patienten mit einer konventionellen Therapie oder mit einer intensivierten Therapie mit Insulin und Sulfonylharnstoffen behandelt hat. Aufgefallen war, dass man mikrovaskuläre Komplikationen reduzieren kann. Aber 33 Jahre nach Beginn der Studie fand man plötzlich, dass die, die ursprünglich gut eingestellt waren, auch weniger Herzinfarkte und eine geringere Mortalität aufwiesen.

Dadurch wurde dann der Legacy-Effekt definiert. Bei der Analyse nach 44 Jahren kommt heraus, dass die, die am Anfang gut eingestellt waren, auch weiterhin über das gesamte Leben profitieren. Was sind die Effekte? Vermutlich gibt es ein Art Lebenszeit-Glucose. Haben wir zu viel Glucose in unserem Körper, dann wirkt sich das negativ auf mikro- und makrovaskuläre Komplikationen aus.

Körpergewicht und Diabetes

Plötzlich spielt in ganz vielen Symposien das Thema Körpergewicht eine Rolle. Ich erinnere mich noch an einen Diabetes-Kongress, auf dem es hieß, dass es völlig egal sei, wie dick die Patienten seien, Hauptsache der HbA1c-Wert sei gut.

Der Fokus auf das Körpergewicht hat natürlich auch mit den neuen GLP1-Agonisten und den SGLT2-Inhibitoren zu tun, die das Gewicht senken. Ist vielleicht eine Gewichtssenkung doch sinnvoller, als die Menschen dick werden zu lassen?

Ganz im Vordergrund stehen hierbei die Ergebnisse der DIRECT-Studie (Diabetes Remission Clinical Trial), die Prof. Dr. Michael Lean, Glasgow, nochmals vorgestellt hat. Wer 10 kg Körpergewicht abnimmt, hat eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit von 70 bis 80%, eine Remission des Diabetes mellitus Typ 2 noch nach 2 Jahren zu erreichen. Leber- und Pankreasfett nehmen ab, der Blutdruck verbessert sich – ein Effekt, der bisher nie in einer solch prospektiv-randomisierten Studie gezeigt wurde.

Lean berichtete, wie kritisch die Kollegen waren, als man bei den Patienten direkt die Blutdrucksenker reduziert hat, weil man bei der eingesetzten Formula-Diät Sorge hatte, dass möglicherweise Hypotonien auftreten. Das war ein Sicherheitsaspekt.

Im Nebensatz erzählte er, dass derzeit eine weitere Studie in Nepal läuft. Die Studie wurde auch mit der DIADEM-I-Studie in Katar wiederholt.

Ein Punkt, der mich bei Leans Vortrag sehr fasziniert hat, war die Gegenüberstellung der 10-Jahres-Überlebensraten bei verschiedenen Erkrankungen. Die 10-Jahres-Überlebensrate bei Brustkrebs beträgt 80%, bei Non-Hodgkin-Lymphom 60%, bei Diabetes mellitus Typ 2 50%.Da spielt natürlich auch das Alter eine Rolle, aber wir haben es hier wirklich mit einer Erkrankung zu tun, die nicht so ganz ungefährlich ist.

Die Rolle der endogenen Insulinspiegel

Große Studien gab es nicht, eher Studien, die schon publiziert waren oder die beim ESC-Kongress vorgestellt worden sind, z.B. die DELIVER-Studie, in der Dapagliflozin bei Personen mit Herzinsuffizienz und erhaltener Auswurffraktion. Bei denen wirkt Dapagliflozin hervorragend. Das war zuvor schon für Empagliflozin gezeigt worden.

Und die SURMOUNT-1-Studie mit Tirzepatid, die im New England Journal of Medicine publiziert ist. Tirzepatid ist ein glukoseabhängiges insulinotropes Polypeptid und ein glukagonähnlicher Peptid-1-Rezeptoragonist. Es gilt als Nachfolger der GLP1-Agonisten, weil es deutlich aktiver ist. Im Vergleich zu Semaglutid induziert es eine weitere Abnahme des HbA1c-Werts und des Körpergewichts.

Ich sage immer, dass das endogene Insulin eine ganz wichtige Rolle bei der Gewichtsentwicklung spielt. Hier konnte man zeigen, dass durch die Therapie die endogenen Insulinspiegel drastisch sinken.

Ich sehe darin eine Bestätigung, dass wir mehr auf die endogenen Insulinspiegel achten. Die werden ausgelöst durch Kohlenhydrate, aber auch durch künstliche Süßstoffe, wenn diese in Kombination mit Kohlenhydraten eingenommen werden.

Dann sind diese hohen Insulinspiegel kontraproduktiv, sie blockieren die Fettverbrennung. Vor kurzem haben wir in der DCCT-Studie gesehen, dass bei Typ-1-Diabetikern mit sehr hohen Insulinmengen die Rate an Krebserkrankungen höher ist.

Es kommt also sehr stark auf den Metabolismus an. Ich glaube, dass die Diabetologie quasi die Präventionsmedizin werden kann. Wir müssen organspezifisch vorgehen und nicht so sehr auf den HbA1c-Wert schauen. Der ist wichtig, das hat uns die UKPDS-Studie nochmals sehr eindrücklich gezeigt. Aber wir müssen den gesamten Menschen sehen und wir müssen sehen, dass wir an vielen Stellen angreifen können, um Herzinfarkt, Schlaganfall und diese gesamten Komplikationen zu verhindern.

Das sind meine persönlichen Eindrücke vom EASD-Kongress 2022. Vielleicht war das eine oder andere für Sie dabei, was für Ihre klinische Praxis von Interesse ist.

Alles Gute

Ihr Stephan Martin
 

Kommentar

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