Transkript des Videos von Prof. Dr. Stephan Martin, Düsseldorf
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
viele Menschen sorgen sich um ihre Gesundheit und sind davon überzeugt, sich durch Vitamintabletten oder andere Nahrungsergänzungsmittel etwas Gutes zu tun. Vielleicht haben Sie es auch schon erlebt in der klinischen Praxis, dass es Menschen gibt, die um ihren Vitamin-D-Spiegel mehr besorgt sind als um ihren deutlich erhöhten Blutdruck.
Die pharmazeutische Industrie greift die Sorge der Menschen gerne auf und wirbt sehr umfangreich für entsprechende Produkte. Doch wenn wir uns die wissenschaftliche Datenlage anschauen, dann gibt es kaum Belege dafür, dass Vitamine oder Nahrungsergänzungsmittel Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Tumorerkrankungen verhindern könnten oder sonst irgendeinen Vorteil haben, wenn wir sie bei Personen einsetzen, die keine Defizite haben.
REDUCE-IT-Studie versus STRENGTH-Studie
Fischöl-Kapseln sind z.B. ein sehr großer Markt. Im Jahr 2019 wurde erstmals eine Studie veröffentlicht, die wissenschaftlich nachweisen konnte, dass Fischöl- Kapseln die Rate an Herzinfarkten und Schlaganfällen reduzieren können.
Es handelt sich um die REDUCE-IT-Studie, bei der eine deutliche Risiko-Reduktion von 25% für kardiovaskuläre Ereignisse gefunden wurde. Es war eine randomisierte Placebo-kontrollierte Doppelblind-Studie. Das Präparat war hochdosiert und enthielt hoch reines EPA - Eicosapentaensäure.
Die Euphorie über dieses positive Ergebnis erlitt einen kräftigen Dämpfer, als eine vergleichbare Studie das Ergebnis nicht bestätigen konnte. Es handelt sich um die STRENGTH-Studie. Bei der wurde eine ähnlich hohe Dosierung einer Mischung aus EPA und Docosahexaensäure (DHA) eingesetzt.
Wie kann man sich das erklären? Beim Vergleich der beiden Studien fällt auf, dass sich die Placebo-Gruppen erheblich unterscheiden. Während in der STRENGTH-Studie als Placebo Maisöl verwendet wurde, wurde in der REDUCE-IT-Studie die Placebo-Gruppe mit Mineralöl versorgt.
Eine ganz aktuelle Studie mit einer Subanalyse der REDUCE-IT-Studie zeigt nun, dass sich in der Placebo-Gruppe mit Mineralöl die Entzündungsparameter im Vergleich zur Fischöl-Gruppe sehr ungünstig entwickeln. So stiegen in der Mineralöl-Gruppe, also im Placebo-Arm, im Vergleich zur Fischöl-Gruppe oxidiertes LDL-Cholesterin, Interleukin 6, Lp(a), hoch sensitives CRP und Interleukin-1-beta. Das sind alles Parameter, die mit vaskulären Ereignissen assoziiert sind.
Nun wird vermutet, dass die REDUCE-IT-Studie erfolgreich war, nicht weil die Fischöl-Kapseln so toll gewirkt haben, sondern weil die Kontrollgruppe durch Mineralöl einem höheren Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen ausgesetzt wurde.
Ein neuer Pharma-Skandal?
Eigentlich ist das ein neuer Pharma-Skandal. Doch bei Nahrungsergänzungsmitteln werden in der öffentlichen Wahrnehmung ja anscheinend andere Maßstäbe angelegt.
Fast zeitgleich hat ein unabhängiges Expertengremium aus den USA vor wenigen Wochen die aktuelle Studienlage zu Nahrungsergänzungsmitteln analysiert und Empfehlungen formuliert. Die Wissenschaftler haben 90 Studien identifiziert, von denen waren 84 randomisiert durchgeführt worden.
Darin konnten sie keine Belege dafür finden, dass Vitamine bei Personen, die keine speziellen Mangelzustände haben – das ist ganz wichtig – einen schützenden Effekt auf die Entstehung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Tumorerkrankungen haben. Vor der Einnahme von Beta-Carotin und Vitamin E warnen die Wissenschaftler sogar, da es Hinweise für ein vermehrtes Auftreten von Lungenkrebs gibt, insbesondere bei Personen, die eine Raucher-Anamnese haben.
Für Multi-Vitaminpräparate ist die Datenlage so heterogen, dass die Wissenschaftler weder eindeutig positive noch negative Aussagen machen können.
Die wissenschaftliche Datenlage rechtfertigt also die hohen Verkaufszahlen von Vitaminpräparaten nicht. Es stellt sich die Frage woher der Hype um Vitamine abseits der wirtschaftlichen Interessen kommt?
Dazu gibt es einen sehr interessanten Artikel von Markus Grill im Spiegel im Jahr 2012. Vitamine sind ja eine relativ junge Entdeckung, 1929 erhielt Christiaan Eijkman für seine Entdeckung des Vitamin B1 den Nobelpreis. Laut Pharmazie-Historikern waren es nur wenige Jahre später die Nationalsozialisten, die den ersten Massenmarkt für Vitamine schufen, um eine Mangelernährung zu verhindern.
Die erst wenige Jahre zuvor entdeckten lebenswichtigen Stoffe sollten den Volkskörper stärken. Es gab sogar eine Reichsanstalt für Vitamin-Prüfung und -Forschung. Der Glaube an die stärkende, gesund machende Wirkung von Vitaminen und Nahrungsergänzungsmitteln hat also eine längere Vorgeschichte.
Historisch betrachtet könnte man also sagen, dass der Vitamin-Hype – und jetzt nicht sich aufregen, einfach nur historisch betrachtet könnte man sagen, dass der Vitamin-Hype auch auf nationalsozialistischem Gedankengut basiert. Vielleicht sind das interessante Anregungen für die täglichen Diskussionen in der normalen Praxis.
Ich verbleibe
Ihr Stephan Martin
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Diesen Artikel so zitieren: Kein Mangel – kein Nutzen: Woher kommt der Vitamin-Hype und war die Fischöl-Studie „eigentlich ein Pharma-Skandal“? - Medscape - 29. Aug 2022.
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