Viele Medikamente werden bei Kindern ausschließlich auf Basis von Daten bei Erwachsenen angewendet, weil Arzneimittelstudien für diese besonders empfindliche Patientengruppe fehlen.
Das Pädiatrisch Klinisch-Pharmakologische Studienzentrum „paedKliPS“ des Universitätsklinikums Heidelberg (UKHD) will diesen Missstand beheben: Patienten vom Frühgeborenen bis ins junge Erwachsenenalter steht dort im Rahmen streng kontrollierter Studien der Zugang zu neuen Arzneimitteltherapien offen. Medscape sprach mit Oberärztin Dr. Kristine Chobanyan-Jürgens, die zusammen mit Oberarzt Dr. Andreas Ziegler das multidisziplinäre Studienzentrum leitet.
Medscape: Welches Altersspektrum kann am Studienzentrum paedKliPS im Rahmen von Studien an Arzneimitteltherapien teilnehmen, und welche Therapien für welche Erkrankungen sind das?
Chobanyan-Jürgens: Prinzipiell ist das komplette Altersspektrum repräsentiert, beginnend vom Frühgeborenen- bis ins Erwachsenenalter. Spezifisch ist der komplette (nicht-onkologische) Indikationsbereich der Pädiatrie abgedeckt, mit einem besonderen Schwerpunkt im Gebiet der seltenen metabolischen, neurologischen, neuromuskulären, nephrologischen, endokrinologischen und kardiologischen Erkrankungen.
Das Spektrum der erforschten Arzneimittel ist sehr breit und reicht von kleinen Molekülen (small molecules) über innovative Immuntherapien (mit Biologika) bis hin zu Gentherapien (Advanced Therapy Medicinal Products, ATMPs) bei genetisch-bedingten pädiatrischen Erkrankungen.
Medscape: Was sind die Ziele des multidisziplinären Studienteams?
Chobanyan-Jürgens: Das paedKliPS wurde ivor 4 Jahren von Prof. Dr. Georg F. Hoffmann vom Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin (ZKJM) und Prof. Dr. Walter Haefeli von der Abteilung Klinische Pharmakologie und Pharmakoepidemiologie (FBPhS) gegründet. Ihr Ziel war es, frühe klinische Arzneimittelprüfungen bei Kindern, Jugendlichen und (jungen) Erwachsenen mit pädiatrischen, nicht-onkologischen Erkrankungen am Universitätsklinikum Heidelberg zu ermöglichen.
Als zentrale klinisch-pädiatrische Forschungseinheit für alle Abteilungen des ZKJM bündelt paedKliPS pädiatrische Studienexpertise mit den Spezialkenntnissen der verschiedenen klinischen Fachabteilungen des ZKJM, die primär für die Rekrutierung geeigneter Studienteilnehmer sowie deren fachliche Weiterbetreuung während der Studiendurchführung zuständig sind. Das Studienteam des paedKliPS ist als Single-Point-of-Contact für die komplette Organisation und die GCP-konforme Studiendurchführung zuständig.
Medscape: Wie viele Studien betreut das Team derzeit, und wie viele Studienteilnehmer sind eingeschlossen?
Chobanyan-Jürgens: Aktuell betreut unser Team rund 20 überwiegend weltweit multizentrisch aufgesetzte Arzneimittelstudien in unterschiedlichen Stadien der Organisation und Durchführung. Die Besonderheit der pädiatrischen Arzneimittelstudien weltweit, insbesondere bei seltenen Erkrankungen, besteht darin, dass die teilnehmenden Studienzentren jeweils nur wenige potenzielle Studienteilnehmer betreuen. So hat unser Studienzentrum z.B. bei einer Arzneimittelstudie aus dem Bereich der seltenen Stoffwechselerkrankungen den einzigen Studienpatienten in Deutschland betreut.
Aktuell werden 3 weitere Studien vorbereitet, bei denen unser Studienzentrum das einzige in Deutschland sein wird.
Bisher wurden bei uns zwischen einem und 5 Studienteilnehmern pro Studie behandelt. Es gibt natürlich auch pädiatrische Erkrankungen, die häufiger sind und höhere Einschlusszahlen ermöglichen. So führen wir aktuell eine Studie aus dem Kinder-endokrinologischen Bereich durch, in die wir bis zu 15 Studienteilnehmende planen einzuschließen.
Medscape: Neben anderen Studien läuft am paedKliPS ja die Phase-3-Studie zu einer neuen Immuntherapie bei Diabetes mellitus Typ 1. Was wird in der Studie untersucht, wie viele Kinder und Jugendliche nehmen teil? Und: Gibt es schon erste Ergebnisse?
Chobanyan-Jürgens: Seit September 2020 betreuen wir in einer Phase-3-Studie zu einer möglichen neuen Immuntherapie bei Typ-1-Diabetes 5 Kinder und Jugendliche. In diese Studie hat unser Studienzentrum die meisten Patienten in Deutschland eingeschlossen, und die ersten 2 Patienten wurden bereits in die Folgestudie überführt, um die langfristigen Auswirkungen zu beobachten. Teilnehmen konnten Kinder und Jugendliche zwischen 8 und 17 Jahren, bei denen diese Autoimmunerkrankung neu aufgetreten war.
Sie erhielten möglichst bald nach der Diagnosestellung die Studienmedikation (Prüfpräparat oder Placebo). Das Prüfpräparat ist eine Immuntherapie, die ihr Immunsystem davon abhalten soll, die insulinproduzierenden Zellen in der Bauchspeicheldrüse weiter zu zerstören. Dies könnte den Bedarf an exogenem Insulin verringern und das klinische Diabetesmanagement verbessern. Diese Hypothese wird in dieser klinischen Studie untersucht.
Die Studienergebnisse sind aktuell noch nicht verfügbar, da die Studie weltweit noch nicht abgeschlossen ist.
Medscape: Das paedKliPS ist eines von nur wenigen Zentren in Deutschland. Wie viele solcher Zentren gibt es deutschlandweit? Und haben diese Zentren Schwerpunkte?
Chobanyan-Jürgens: In Deutschland gibt es rund 15 bis 20 Kinderkliniken mit pädiatrischen Studienzentren, die allerdings meist Patienten mit hämato-onkologischen Erkrankungen betreuen. paedKliPS erweitert nun das Studienspektrum auf alle nicht-onkologischen pädiatrischen Indikationen, die potenziell mit Arzneimitteln behandelt werden, und ist damit mit dieser thematischen Ausrichtung und Breite eines der wenigen, wenn nicht sogar das einzige Studienzentrum im DACH-Raum (Deutschland – Österreich – Schweiz).
Medscape: Die Dietmar Hopp Stiftung finanziert den Aufbau und die Weiterentwicklung von paedKliPS insgesamt 4 Jahre lang mit 810.000 Euro. Wie wird das paedKliPS darüber hinaus finanziert? Und ist eine Förderung über das Jahr 2024 in Aussicht?
Chobanyan-Jürgens: Wir sind der Dietmar Hopp Stiftung für die großzügige Unterstützung unserer Vision zutiefst dankbar. Die aktuelle Förderung durch die Stiftung ist eine Anschubfinanzierung zum Aufbau des hochqualifizierten und spezialisierten Studienteams, das zur kompetenten Durchführung von akademischen, eigeninitiierten Arzneimittelstudien (Investigator-initiierte Studien) und auch Arzneimittelstudien mit Partnern aus der pharmazeutischen Industrie (Sponsor-initiierte Studien) benötigt wird.
Parallel fördert die Dietmar Hopp Stiftung 2 wissenschaftliche Großprojekte im Bereich (Pharmako)Metabolomics und zweidimensionaler (2D) Arzneimitteldruck, die eine wichtige Grundlage für eine umfassende Personalisierung pädiatrischer Arzneimitteltherapien bilden. Mittelfristig soll die Finanzierung weitgehend durch Forschungsanträge und Forschungsaufträge finanziert werden.
Medscape: Thema Einwilligungsfähigkeit bei Studien: Die Eltern bzw. Sorgeberechtigen müssen mit der Studienteilnahme einverstanden sein. Ab 6 Jahren müssen die Kinder das aber auch, oder? Wie erklären Sie das Ihren kleinen Patienten?
Chobanyan-Jürgens: Es ist richtig, dass nicht nur beide Eltern bzw. Sorgeberechtigten der Studienteilnahme des Kindes oder der Jugendlichen zustimmen müssen, sondern auch der minderjährige Teilnehmende selbst. Sollte z.B. der Fall eintreten, dass beide Eltern der Studienteilnahme zustimmen, das Kind aber nicht, gilt am Ende immer der Wille des Kindes. Solche Fälle haben auch wir hier erlebt.
Grundsätzlich erhalten Kinder ab einem Alter von 6 Jahren eine altersgerechte, an ihre geistige Reife angepasste Aufklärung, und die zuständige Ethikkommission prüft dies auch. Sofern möglich, wird auch eine schriftliche Einwilligung eingeholt. Insbesondere bei jüngeren Kindern hilft Malen zur Erläuterung der Erkrankung und der Studienbehandlung, und es kommt generell viel Bildmaterial zum Einsatz.
Auf jeden Fall sind Geduld und Fingerspitzengefühl gefragt, es darf kein Druck auf die Minderjährigen ausgeübt werden. Außerdem kann die Zustimmung jederzeit sowohl von den Eltern als auch von den teilnehmenden Kindern ohne Angabe von Gründen und ohne Nachteile für das Kind oder die Familie widerrufen werden.
Medscape: In der Mitteilung des paedKLiPS heißt es: „Bisher wurden die geplanten Teilnehmerzahlen immer erreicht oder sogar übertroffen.“ Hat Sie das positiv überrascht, bzw. haben Sie damit gerechnet, dass es schwierig(er) wird, Teilnehmer zu finden? Wie finden Sie die Studienteilnehmer?
Chobanyan-Jürgens: Die Grundlage für jede erfolgreiche Studiendurchführung ist eine rasche erfolgreiche Rekrutierung der Teilnehmer. Die stellt nicht nur eine besondere Herausforderung in der Pädiatrie dar, sondern ist im Bereich der seltenen Erkrankungen ganz besonders schwierig.
Einerseits ist die Anzahl der in der Routineversorgung betreuten Patienten mit einer seltenen Erkrankung, die beispielsweise nur einen von einer Million Menschen betrifft, an einem Zentrum generell niedrig. Andererseits sind die Kinder und Jugendlichen eine besonders schutzbedürftige Population. Die Eltern müssen für die Studienteilnahme ihres Kindes den Nutzen und die potenziellen Risiken abwägen, was weder leicht ist noch leichtfällt.
Dass wir unsere vorgesehenen Rekrutierungszahlen bislang nicht nur erreichen, sondern oft auch übertreffen, hat verschiedene Gründe: Einerseits gibt es an unserem Zentrum zahlreiche hochspezialisierte Arbeitsgruppen, die überregional Patienten ihres Fachgebiets oft jahrelang betreuen. Deshalb führen auch meist Fachärzte dieser Arbeitsgruppen die Aufklärungsgespräche und holen die Einwilligungen zur Studienteilnahme ein. Außerdem werden die Rekrutierungsmöglichkeiten akribisch vorevaluiert, um verlässliche Rekrutierungszusagen zu machen.
Schließlich schätzen wir auch die potenzielle Verlässlichkeit hinsichtlich der Therapietreue ein, um vorhersehbare und vermeidbare vorzeitige Studienabbrüche (Drop-Outs) zu minimieren, da es wichtig ist, möglichst viele exponierte Patienten zu einem erfolgreichen Studienabschluss zu begleiten; nur so können sie von solchen Therapien auch persönlich profitieren.
Medscape: Sie haben erwähnt, dass das paedKliPS auch als Aus- und Weiterbildungsstätte für ärztliches und nicht-ärztliches Studienfachpersonal fungiert und dass Sie auch eine Doppelfacharzt-Qualifikation Kinder- und Jugendmedizin/Klinische Pharmakologie ermöglichen. Haben Sie aktuell offene Stellenangebote? Wer kann sich bewerben?
Chobanyan-Jürgens: Ja, die Nachwuchsaus- und -weiterbildung im Bereich der pädiatrischen klinischen Arzneimittelforschung ist eine unserer essenziellen Missionen. Engagierte qualifizierte Studienärzte und Study Nurses sind noch seltener in der pädiatrischen klinischen Forschung als im Erwachsenenbereich.
In den letzten Jahren ist das Interesse an der pädiatrischen Arzneimittelforschung auch von Seiten der pharmazeutischen Industrie ständig gewachsen; mehr und mehr innovative Arzneimittel, inkl. Gentherapeutika werden für zahlreiche (seltene) und bereits im Kindesalter potenziell tödliche Erkrankungen entwickelt. Und deren Unbedenklichkeit und Wirksamkeit müssen in klinisch-pädiatrischen Arzneimittelprüfungen belegt werden. Entsprechend groß sind Entwicklungspotenzial und Nachwuchsbedarf in diesem Feld.
Getreu unserer Vision „Jedem kranken Kind die beste evidenzbasierte Arzneimitteltherapie!“ leisten wir unseren Beitrag zur Weiterentwicklung dieses so essenziellen und bisher vernachlässigten Feldes. Konkret suchen wir Studienassistenten (Study Nurses) sowie Studienärztinnen und Studienärzte für paedKliPS mit einer pädiatrischen klinischen Hintergrundausbildung (idealerweise mit weit fortgeschrittener Facharztweiterbildung). Und wir bieten darüber hinaus die seltene Möglichkeit, eine Doppelfacharztqualifikation in Kinder- und Jugendmedizin und Klinischer Pharmakologie in derselben Weiterbildungsstätte zu erlangen.
Nach Abschluss einer Facharztweiterbildung in der Kinder- und Jugendmedizin im ZKJM kann dann eine Facharztweiterbildung im Gebiet der Klinischen Pharmakologie mit dem Einsatz im paedKliPS erfolgen, wo u.a. eine direkte Teilnahme an der Organisation und Durchführung der pädiatrischen Arzneimittelstudien im Rahmen der Weiterbildung vorgesehen ist.
Medscape: Wir bedanken uns ganz herzlich für das Gespräch.
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Credits:
Photographer: © Moodyeve
Lead image: Dreamstime.com
Medscape © 2022
Diesen Artikel so zitieren: Arzneimittel-Studien an Kindern müssen sein: Meist erforscht man evidenzbasierte Therapien nur mit Erwachsenen – das ändert sich - Medscape - 17. Aug 2022.
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