MEINUNG

Affenpocken von 2 Seiten: So erleben und bewerten derzeit eine Epidemiologin und ein ehemaliger Patient die neue Erkrankung

Dr. Rob Hicks

Interessenkonflikte

10. August 2022

In Deutschland waren bis 2. August 2022 beim Robert Koch-Institut (RKI) 2.274 Fälle von Affenpocken registriert worden. In Großbritannien wurde am 1. August dieses Jahres eine ähnlich hohe Zahl, 2.672 Affenpockenfälle, bestätigt – nachdem im Mai die ersten Fälle bekannt wurden. Weltweit hat die WHO inzwischen über 18.000 Fälle in 78 Ländern registriert, wovon über 70% aus Europa und 25% aus Amerika stammten. Daher bezeichnete sie den Ausbruch der Krankheit auch als „international besorgniserregenden Gesundheitsnotstand“.

Dr. Catherine Smallwood

Obwohl eine Affenpockeninfektion meist einen milden, selbstlimitierenden Verlauf nimmt, müssen manche Erkrankten doch stationär behandelt werden, und einigen Gruppen wird auch eine Impfung empfohlen. Vor wenigen Wochen wurden dann auch in Spanien die ersten Todesfälle durch Affenpocken in Europa gemeldet. In Deutschland und auch in Großbritannien gibt es bislang keine gemeldeten Todesfälle.

Während die Übertragung hauptsächlich durch engen oder sexuellen Kontakt vor allem bei Männern, die Sex mit Männern haben, erfolgt, wurde das Affenpockenvirus auch in Luft- und Umweltproben in den Klinikzimmern infizierter Patienten nachgewiesen. Eine bestätigte Übertragung durch die Luft gab es in Großbritannien jedoch bisher nicht, für gemeinsame Haushalte wurde eine begrenzte Übertragung jedoch beschrieben, berichtet die UK Health Security Agency (UKHSA).

Medscape UK sprach mit Harun Tulunay von der Selbsthilfeorganisation Positively UK, die Betroffenen von sexuell übertragbaren Erkrankungen zur Seite steht; Tulunay wurde selbst kürzlich wegen Affenpocken stationär behandelt. Außerdem sprach Medscape UK mit Dr. Catherine Smallwood, leitende Notfallbeauftragte der WHO Europa und Monkeypox Incident Manager für Europa.

Bis vor kurzem waren die Affenpocken global noch endemisch, doch jetzt sind sie pandemisch. Wie kam es dazu?

„Dafür gibt es viele verschiedene Gründe“, sagte Smallwood. „Mit dem, was wir in den letzten 5 Jahren mit den Affenpocken in Westafrika erlebt haben, deutete sich bereits frühzeitig an, dass sich etwas bei den Übertragungswegen verändert hat, und das selbst in Ländern, in denen es eine zoonotische Ausbreitung gibt.“

„In Nigeria wurden die Affenpocken erstmals 2017 entdeckt. Seither kam es dort immer wieder zu recht signifikanten Ausbrüchen vor allem in städtischen Gebieten, was eine Übertragung von Mensch zu Mensch wahrscheinlich machte“, erklärte sie.

Offenbar setzten Infizierte aus Nigeria in Staaten wie Großbritannien, Deutschland oder auch an anderen Orten der Welt „Infektionsnester“. „Aus irgendeinem Grund haben sich diese Ausbrüche gehalten, und zu Beginn dieses Jahres breiteten sie sich dann aus“, sagte sie.

„Nach der Aufhebung der Corona-Maßnahmen in der ersten Jahreshälfte nahmen die Menschen wieder vermehrt an Veranstaltungen teil, bei denen Personen viel enger zusammenrücken, es gab die Maifeiern, die Gay-Pride-Paraden und viele weitere Veranstaltungen mit einem internationalen Background. Das hat wahrscheinlich die Ausbreitung weiter begünstigt“, erklärte Smallwood.

Wie kam es zu dieser Zunahme?

„Möglicherweise ist dafür die abklingende Immunität gegen Pocken in der Gesamtbevölkerung verantwortlich“, sagte Smallwood. Da die Zahl der empfänglichen Personen in der Weltbevölkerung zugenommen hätte, sei eine „neue Nische für die Übertragung der Affenpocken“ entstanden, die wahrscheinlich zur aktuellen Ausbreitung beitrage.

 
Möglicherweise ist für die Zunahme die abklingende Immunität gegen Pocken in der Gesamtbevölkerung verantwortlich. Dr. Catherine Smallwood
 

„Ein weiterer Faktor ist natürlich die Frage, ob sich das Virus gewandelt hat, ob es bestimmte Mutationen im Virus gibt, die den Phänotyp verändert haben. Diese Dinge sind noch nicht geklärt“, so Smallwood weiter. „Aber wahrscheinlich haben all diese Faktoren zu dem beigetragen, was wir jetzt sehen.“

Ein individueller Erfahrungsbericht

Harun Tulunay beschreibt den Beginn seiner Affenpockeninfektion als Beschwerden „wie bei jeder anderen Virusinfektion – hohes Fieber und geschwollene Lymphknoten. Ich dachte natürlich zuerst, ich hätte Corona, weil es gerade praktisch jeder hat. Also machte ich Test um Test, aber alle waren negativ. Das Fieber stieg unterdessen immer weiter, und ich bekam auch Schmerzen. Allmählich wurde es ein wenig beängstigend.“

Zunächst hatte er nur eine einzelne Blase auf seiner Nase, die als „kleiner weißer Punkt“ begann und sich dann auf der Nase ausbreitete. Bald darauf „konnte ich weder schlucken noch essen oder trinken“, sagte er. Tulunay wurde ins Krankenhaus eingeliefert und erhielt Antibiotika zur Behandlung der Läsion auf seiner Nase.

„Danach tauchten weitere Läsionen an Händen, Beinen und Füßen auf.“ Nach einem positiven Test auf Affenpocken wurde ihm Tecovirimat verabreicht, das von der EMA (European Medicines Agency) und der MHRA (Medicines and Healthcare products Regulatory Agency) für diese Indikation zugelassen ist, und 2 Tage später besserte sich sein Zustand.

Durch seine Arbeit für Personen mit sexuell übertragbaren Erkrankungen möchte er Menschen dazu befähigen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, und dazu beitragen, Stigmatisierungen zu beseitigen.

 
Ich konzentriere mich mehr auf die psychischen Aspekte, über die sonst niemand sprechen möchte. Harun Tulunay
 

„Aktuell schauen alle auf die Affenpocken. Aber wenn Sie mich oder jeden beliebigen HIV-Kranken fragen, vor allem Personen, welche die AIDS-Pandemie überlebt haben, dann geht es ihnen ganz ähnlich: Die Stigmatisierungen, die Brandmarkung durch die Öffentlichkeit, die Schuldzuweisung an die Gay Community, alles geht wieder in die gleiche Richtung.“

Durch die Affenpocken habe sich der Schwerpunkt seiner Arbeit etwas verlagert. „Wir haben viele Leute, die sich austauschen, und etwa Ärzte, die epidemiologische Informationen bereitstellen. Daher konzentriere ich mich mehr auf die psychischen Aspekte, über die sonst niemand sprechen möchte“, sagte er. In einem WHO-Interview erklärte Tulunay kürzlich, wie ihm all die ungeklärten Fragen aufs Gemüt schlagen.

Ratschläge von einem Ex

Als ehemaliger Affenpockenpatient hält Tulunay einige Empfehlungen parat. „Achten Sie auf die Symptome, seien Sie achtsam und sprechen Sie darüber.“ Nicht alle Angehörigen der Gesundheitsberufe kennen sich mit der Infektion aus, sodass die Betroffenen selbst „ihre besten Fürsprecher sein müssen“, riet er.

 
Achten Sie auf die Symptome, seien Sie achtsam und sprechen Sie darüber. Harun Tulunay
 

„Die Läsionen können sich an Körperstellen zeigen, die nicht ohne Weiteres einsehbar sind. Daher ist es wichtig, den Körper des Partners zu untersuchen.“ Tulunay riet zudem dazu, sich impfen zu lassen, sobald diese Möglichkeit besteht.

Wenn jemand befürchtet, sich mit Affenpocken angesteckt zu haben, sollte er „nicht in Panik verfallen“, denn die meisten Fälle nehmen einen milden Verlauf, beruhigt Tulunay. „Informieren Sie sich über die Fakten, rufen Sie die Klinik an, und bleiben Sie zuhause“, sagte er weiter.

 
Das Stigma ist oftmals schlimmer als das Virus selbst. Harun Tulunay
 

Tulunay forderte die Menschen auf, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen und die Schuld auf den Sex oder irgendeine Community zu schieben und die Lage dadurch zu stigmatisieren. „Denn das Stigma ist oftmals schlimmer als das Virus selbst.“

Sollten die Affenpocken als sexuell übertragbare Infektion (STI) betrachtet werden?

Smallwood sagte, dass es um diese Frage eine „ziemlich intensive Diskussion“ gegeben habe. Für eine solche Einordnung gebe es verschiedene Vor- und auch Nachteile.

„Klar ist“, so Smallwood, „dass sich die Affenpocken vornehmlich in europäischen Staaten und in Ländern außerhalb der endemischen Gebiete durch sexuelle Aktivitäten verbreiten, vor allem durch engen körperlichen Kontakt.“

Doch auch wenn eine Übertragung überwiegend durch Sexualkontakte erfolge, so gelte dies doch nicht ausschließlich. „Die erste Gruppe von Fällen, die ohne jegliche Verbindung zu Endemiegebieten entdeckt wurde, bildete sich im gemeinsamen häuslichen Umfeld“, erklärte Smallwood.

„Wie bei vielen anderen STIs gibt es auch hier mehrere Übertragungswege. Wenn man also die spezifische Definition der STI heranzieht, könnte dieser aktuelle Affenpockenausbruch darunterfallen“, sagte sie weiter. „Das bietet durchaus Vorteile, denn es könnte den Blick nur auf Männer, die Sex mit Männern haben, weglenken und zur Entstigmatisierung der Krankheit beitragen.“

Die Kehrseite der Medaille sei es jedoch, dass dadurch die gesamte Aufmerksamkeit diesem einen Übertragungsweg zukäme und eine Übertragung im häuslichen Umfeld dadurch leicht vernachlässigt werden könnte, während sie im weiteren Verlauf des Ausbruchs noch an Bedeutung gewinnen könnte, warnte sie. „Ich denke also, dass wir bei der Beschreibung der Situation weiterhin sehr differenziert vorgehen müssen“, sagte sie.

Zu der Frage, ob die Affenpocken in den aktuellen Risikogruppen auch ernst genommen würden, sagte Tulunay: „ja und nein.“ Ja, weil die Gay Community ihre Erfahrungen und ihr Wissen weitergibt, um andere aufzuklären. Und nein, weil manche Personen „solche Informationen schlicht ignorieren“.

Tulunay erkenne, dass sexuelle Aktivität einer der Übertragungswege ist, aber „da die Übertragung nicht auf den sexuellen Kontakt beschränkt ist, bin ich persönlich nicht der Meinung, dass sie als STI eingestuft werden sollte“, sagte er.

Er befürchte, dass sich durch die Regierungsentscheidung, die Klinken für Geschlechtserkrankungen mit der Diagnostik und Therapie zu betrauen, in der Öffentlichkeit falsche Vorstellungen entwickelten. „Wenn irgendwas in der Gay Community los ist, sucht jeder die Schuld beim Sex.“

Tulunay beklagt bereits Angriffe in den sozialen Medien als Reaktion auf seine Geschichte. Jemand habe ihn zudem angerufen und gesagt: „Wenn ich nicht so schnell meine Hose herunterlassen würde, würde ich das auch nicht bekommen.“ Und obwohl die Leute nicht wüssten, wie er sich die Affenpocken zugezogen habe, würden sie es auf den Sex schieben oder behaupten, dass er Drogen nehme. Und dann stellten sie wüste Behauptungen auf: „Ich war auf einer Drogenparty, ich war auf einer Gruppensexparty und so weiter.“ Solche Fantasien und Vorverurteilungen richteten sich allgemein gegen die gesamte Gay Community.

Andere Übertragungswege

„Derzeit laufen Studien, die sich mit der Überlebensfähigkeit des Virus auf verschiedenen Materialien und unter verschiedenen Umweltbedingungen befassen“, so Smallwood. „Sicherlich spielt die Kontamination der Umwelt – vor allem im gemeinsamen Haushalt oder in geschlossenen Räumen – eine wichtige Rolle. Dieser Umstand kann auch im Hinblick auf eine mögliche Übertragung im Krankenhaus nach stationärer Aufnahme von Infizierten eine wichtige Rolle spielen.“

 
Das Reinigen von Toiletten, Duschen, Wasserhähnen und das Händewaschen sind im Zusammenhang mit den Affenpocken sehr wichtig, vor allem in einem gemeinsamen Haushalt mit einer infizierten Person. Dr. Catherine Smallwood
 

Das Ausmaß der Übertragung in den Krankenzimmern von Patienten sei kürzlich in einer britischen Studie belegt worden, wobei eine „ganz erhebliche“ Kontamination in den Krankenzimmern festgestellt worden sei. „Die Menschen sorgen sich um eine aerogene Übertragung, und tatsächlich wurden Viren in Luftproben nachgewiesen, wenn etwa das Bettzeug in den Zimmern der Betroffenen gewechselt und dabei das Virus in die Luft geschleudert wurde. Das ist also ein ganz entscheidender Punkt.“

Gutes Lüften sei sehr wichtig. „Das sind die Botschaften, die wir nachdrücklich betonen wollen“, sagte Smallwood weiter. „Das Reinigen von Toiletten, Duschen, Wasserhähnen und das Händewaschen sind im Zusammenhang mit den Affenpocken sehr wichtig, vor allem in einem gemeinsamen Haushalt mit einer infizierten Person.“

Smallwood: „Die gute Nachricht ist, dass wir noch keine Informationen über eine berufliche Exposition von Mitarbeitern des Gesundheitswesens bei diesem aktuellen Ausbruch haben.“

Sollte sich jeder ungeachtet des persönlichen Risikos impfen lassen?

Die WHO hat keine allgemeine Impfempfehlung gegen die Affenpocken ausgesprochen. Dafür gibt es verschiedene Gründe, wie Smallwood erklärte. „Unserer Ansicht nach ist es nicht notwendig und auch gar nicht möglich.“ Das Risiko einer Affenpockenexposition mit folgender Infektion ist in der Allgemeinbevölkerung „immer noch sehr gering“, sagte sie.

 
Wir sind der Auffassung, dass sich das geringe bzw. begrenzte Impfstoffangebot wirklich auf Personenkreise konzentrieren sollte, die das höchste Infektionsrisiko haben. Dr. Catherine Smallwood
 

Es ist jedoch unter promisken Männern, die Sex mit vielen verschiedenen männlichen Partnern haben, viel, viel höher. Diese Gruppe ist aktuell am stärksten gefährdet.

In Deutschland wird eine Affenpockenimpfung derzeit folgenden Personenkreisen angeboten:

  • als Postexpositionsprophylaxe (PEP) nach engen körperlichen Kontakten (sexuell, aber nicht nur) oder längerem ungeschützten Kontakt zu einem direkten Gegenüber (face-to-face, <1 m) mit einer an Affenpocken erkrankten Person;

  • ebenfalls PEP nach engem Kontakt ohne ausreichende persönliche Schutzausrüstung in der medizinischen Versorgung zu einer bestätigt infizierten Person, ihren Körperflüssigkeiten oder kontaminierten potenziell infektiösen Materialien (z.B. Kleidung oder Bettwäsche);

  • als Indikationsimpfung Männern über 18 Jahre, die Sex mit Männern haben und dabei häufig die Partner wechseln;

  • infektionsgefährdetem Personal in Speziallaboratorien.

„Wir sind der Auffassung, dass sich das geringe bzw. begrenzte Impfstoffangebot wirklich auf Personenkreise konzentrieren sollte, die das höchste Infektionsrisiko haben“, so Smallwood.

Erst COVID, jetzt Affenpocken – wodurch werden diese Ausbrüche möglich?

„Das ist die Frage, die wir uns alle stellen“, sagte Smallwood. „Und wie die Pandemie die Epidemiologie unserer Länder und unserer Regionen verändert“, fügte sie hinzu.

„Hätten wir einen früheren Ausbruch der Affenpocken erlebt, wenn es die COVID-Pandemie nicht gegeben hätte? Oder hat die Übertragung von Affenpocken möglicherweise schon länger stattgefunden, ohne dass wir es bemerkt haben, da die Corona-Maßnahmen auch dieses aufkommende Problem ein wenig zurückgedrängt haben? Ich weiß es nicht.“

Smallwood weiter: „Jedenfalls sehen wir ungewöhnliche epidemiologische Erscheinungen in Europa. Wir beobachten etwa, wie das RSV (Respiratoral Syncytial Virus) außerhalb der Saison umgeht. Im vergangenen Sommer standen dadurch die Kinderstationen unter Druck. Dafür ist offensichtlich die Grippe fast völlig verschwunden, und wir wissen nicht, mit welchen Folgen sie wieder zurückkehrt.“

 
Es wird eine große Herausforderung werden, diesen Ausbruch wieder einzudämmen und zu stoppen. Dr. Catherine Smallwood
 

„Da die Corona-Maßnahmen im Gesundheitswesen und im öffentlichen Raum weitgehend aufgehoben sind, werden wir wahrscheinlich noch manche überraschenden Dinge erleben, und auch die Affenpocken haben so die Möglichkeit, sich ziemlich schnell auszubreiten“, sagte Smallwood. „Das Gleiche wird wahrscheinlich auch für die Grippe gelten“, warnte sie.

„Die große Unbekannte im Zusammenhang mit den Affenpocken bleibt die Frage nach möglichen Langzeitfolgen. Ein Beispiel dafür sind etwa die langfristigen Auswirkungen auf die Fruchtbarkeit, vor allem wenn das Virus im Sperma gefunden wird.“

„Es gibt also noch viel zu lernen“, sagte Smallwood. „Es wird eine große Herausforderung werden, diesen Ausbruch wieder einzudämmen und zu stoppen.“

Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
 

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