Wieviel Alkohol ist noch gesund? Große Lancet-Analyse stellt Leitlinien in Frage – vor allem für Männer und Senioren

Dr. Angela Speth

Interessenkonflikte

8. August 2022

Ironie des Schicksals: Gerade jungen Menschen schadet Alkohol schon in geringsten Mengen, dabei sind ausgerechnet sie sehr trinkfreudig. Ältere halten sich eher zurück und können sich einen mäßigen Konsum durchaus erlauben, allerdings von Land zu Land in unterschiedlicher Menge. 

Das ergab eine Analyse innerhalb des Mammutprojekts „Global Burden of Disease“ (GBD). Nicht verifizieren ließ sich jedoch die Ansicht, Frauen sollten weniger dem Alkohol zusprechen als Männer. Nun plädieren die Forscher dafür, die neuen Erkenntnisse zu Alter, Region und Geschlecht in überarbeiteten Leitlinien zu berücksichtigen [1].

Weltweit gingen im Jahr 2020 nach GBD-Schätzungen 1,8 Millionen Todesfälle auf das Konto von Alkohol, 1,34 Milliarden Menschen – zu rund 1 Milliarde Männer – tranken schädliche Mengen, erläutern Dr. Dana Bryazka von der Universität Washington in Seattle und ihr Team aus Hunderten von Mitarbeitern, die „GBD 2020 Alcohol Collaborators“.

Gar kein Alkohol ist nicht die beste Lösung

Der Einfluss von Alkohol auf die Gesundheit wird durch eine J-förmige Kurve beschrieben. Deren tiefster Punkt gibt die günstigste Menge an (Theoretical Minimum Risk Exposure Level, TEMREL), wogegen rechts und links davon die Mortalität ansteigt. Bei einem etwas höheren Konsum wird die „Nicht-Trinker-Äquivalenz“ (NDE) erreicht. Hier haben Trinkende dasselbe Risiko wie Abstinente. 

Relevant sind weiterhin DALYs (Disability-Adjusted Life Year): die Summe krank verbrachter und durch vorzeitige Sterblichkeit verlorener Lebensjahre.

Als Maßeinheit diente das Standardgetränk, definiert als 10 g reinen Alkohols, enthalten etwa in einem kleinen Glas Rotwein (100 ml), einer Dose oder Flasche Bier (375 ml) oder einem Schuss Whiskey oder anderer Spirituosen (30 ml).

Krankheitslasten weltweit untersucht

Diese Parameter für das Jahr 2020 untersuchten die Forscher für 21 Regionen und 22 gesundheitliche Probleme, deren Risiko durch Alkohol höher oder niedriger wird. Denn einerseits nehmen durch zu viel Alkohol Verletzungen und manche Krankheiten zu, darunter Leberzirrhose, Brustkrebs oder Tuberkulose, andererseits sind Menschen, die maßvoll trinken, weniger anfällig für Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Diabetes.

Die Daten entstammen der Global Burden of Disease 2020. Das sind Schätzungen zur gesundheitlichen Belastung durch Hunderte von Todesursachen, Krankheiten, Verletzungen und Risikofaktoren in 204 Ländern und Territorien, aufgeschlüsselt nach Alter, Geschlecht und Jahren von 1990 bis 2020.

Alkohol-Hotspot West- und Mitteleuropa

Wie die Experten ermittelten, wären den 15- bis 39-Jährigen allenfalls wenige Schlucke am Tag zuträglich, und zwar quer über den Globus. Der günstigste Konsum TMREL lag für Männer bei einem Zehntel Standarddrink täglich und die Nicht-Trinker-Äquivalenz NDE bei einem Viertel. Für Frauen lagen beide Werte zwar rund doppelt so hoch, allerdings war der Unterschied nicht signifikant.

An diese niedrigen Mengen jedoch halten sich die Jüngeren bei weitem nicht, zumal die Männer. Weltweit tranken 40% so viel, dass ihr Gesundheitsrisiko gegenüber abstinenten Menschen erhöht war (NDE) – im Vergleich zu 13% der Frauen. 

Noch krasser die Lage in West- und Mitteleuropa: Hier schauten mehr als 3 Viertel der jüngeren Männer zu tief ins Glas – im Vergleich zur Hälfte der jungen Frauen.

„Die mit Alkohol verbundenen Risiken sind für Männer zwar ähnlich wie für Frauen, aber als Gruppe sind sie trotzdem stärker gefährdet, weil einerseits ein größerer Prozentsatz trinkt und ihr Konsum andererseits deutlich höher liegt“, sagt die Studienleiterin Prof. Dr. Emmanuela Gakidou von der Universität Washington in einer Mitteilung ihres Institute for Health Metrics and Evaluation.

Hauptgefahrenquelle ist der Verkehr

Alkohol schafft für diese Altersgruppe Probleme vor allem durch die Gefahr von Verletzungen, einschließlich Autounfällen, Suiziden und Tötungsdelikten. Global machten solche Schäden 66% der alkoholbedingten DALYs bei jungen Männern und 48% bei den gleichaltrigen Frauen aus. 

„Junge Menschen sollten nicht trinken. Es ist zwar nicht realistisch zu glauben, dass sie auf Alkohol verzichten, aber wir halten es für wichtig, die neuesten Erkenntnisse zu vermitteln“, so Gakidou.

 
Junge Menschen sollten nicht trinken. Prof. Dr. Emmanuela Gakidou
 

Wechsel von Schutz zu Gefahr bei Älteren

Anders ältere Erwachsene: Nimmt man TMREL als Maß, können sich Männer und Frauen von 40 bis 64 Jahren immerhin ein halbes Standardgetränk täglich genehmigen, in Populationen mit hoher Belastung durch Herz-Kreislauf-Krankheiten fast 2. Wer den 65. Geburtstag hinter sich hat, dem sind sogar gut drei Drinks erlaubt. Ein solcher Konsum kann in dieser Altersklasse deshalb günstig sein, weil damit das Risiko zum Beispiel für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Schlaganfall und Diabetes sinkt.

Trinken Ältere jedoch darüber hinaus, steigt die Häufigkeit chronischer Störungen wieder. So machte die ischämische Herzkrankheit ungefähr 20% der alkoholbedingten DALYs aus, intrazerebrale Blutungen rund 10%. Aber auch Verletzungen etwa durch Verkehrsunfälle stellen wie im Jugendalter eine massive Bedrohung dar.

Allerdings schlagen Ältere relativ selten über die Stränge: Nur 7% der Menschen, die so viel Alkohol konsumieren, dass ihr Gesundheitsrisiko gegenüber Nicht-Trinkern erhöht ist (NDE), sind weltweit über 65 Jahre alt.

Alkohol macht anfällig für Tuberkulose

Eine weitere Besonderheit bei Älteren: TMREL und NDE variieren erheblich je nach Region, weil die Krankheiten, deren Risiko durch Alkohol verändert wird, unterschiedlich häufig vorkommen. So ist der Konsum in Gebieten mit hoher Tuberkuloseprävalenz besonders kritisch.

Ein Beispiel: In Nordafrika und dem Nahen Osten waren die alkoholbedingten DALYs bei 55- bis 59-Jährigen zu 31% auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen, zu 13% auf Krebs und zu weniger als 1% auf Tuberkulose zurückzuführen. Deshalb können sie dort fast ein Standardgetränk pro Tag genießen, ohne ihre Gesundheit aufs Spiel zu setzen, wie die Forscher errechneten.

Im Gegensatz dazu müssten sich Gleichaltrige in Zentralafrika südlich der Sahara mit der halben Menge begnügen. Denn bei ihnen sind die alkoholbedingten DALYs zu 20% durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen und zu jeweils 10% durch Krebs und Tuberkulose bedingt.

Leitlinien: keine doppelte Menge für Männer

Bryazka und ihre Kollegen sehen ihre Studie als Richtschnur für Kontrollmaßnahmen und plädieren für maßgeschneiderte, nach Alter und Region gestaffelten Leitlinien. Um den Konsum, zumal unter jungen Menschen, einzudämmen, müsse das Limit korrigiert werden, da es überall zu hoch angesetzt sei. Außerdem wäre es ratsam, an Männer unter 40 Jahren spezielle Risikobotschaften zu richten.

Für ältere Erwachsene würde es sich empfehlen, das gesamte epidemiologische Profil der Population zu berücksichtigen, also die Krankheitslasten.

„Dagegen unterstützen unsere Schätzungen keine Differenzierung nach Geschlecht“, schreiben die Autoren. Das widerspreche den meisten Leitlinien, die Männern mehr zugestehen als Frauen – die Deutsche Hauptstelle für  Suchtfragen z.B. setzt doppelt so viel an. Zusammen mit dem Rat, sich an mindestens 2 Tagen pro Woche ganz zu enthalten, empfiehlt sie 12 g täglich bei Frauen und 24 g bei Männern als Obergrenze, in Summe also 60 g und 120 g pro Woche. 

 
Dagegen unterstützen unsere Schätzungen keine Differenzierung nach Geschlecht. GBD 2020 Alcohol Collaborators
 

 

Kommentar

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