Wer wird noch medizinisch versorgt, wenn das Boot voll ist – und wer nicht mehr? Seit Wochen streiten Ärzteverbände auf der einen Seite und Behindertenverbände auf der anderen darum, ob die sogenannte Ex-Post-Triage in das „Gesetz zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes“ aufgenommen werden soll oder nicht.
Auslöser für die Diskussion um das neue Gesetz und die Ex-Post-Triage ist ein Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom Dezember 2021. Darin heißt es, „dass sich aus Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 Grundgesetz (GG) für den Staat ein Auftrag ergibt, Menschen wirksam vor einer Benachteiligung wegen ihrer Behinderung durch Dritte zu schützen. Dieser Schutzauftrag könne sich in bestimmten Konstellationen ausgeprägter Schutzbedürftigkeit zu einer konkreten Schutzpflicht verdichten.“
Der Gesetzentwurf von Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach (SPD) ist am vergangenen Donnerstag bei der Anhörung im Bundesgesundheitsministerium (BMG) auf ein geteiltes Echo getroffen. Stein des Anstoßes war und ist, dass Lauterbach die Möglichkeit der Ex-Post-Triage aus dem Gesetz gestrichen hat. Er hält sie für ethisch nicht vertretbar. Sollten nun Menschen mit Behinderungen von der Triage-Entscheidung betroffen sein, sieht das Gesetz das Mehraugenprinzip vor: Es sollen Fachleute für die Behinderung bei der Zuteilungsentscheidung hinzugezogen werden. Dies gilt nicht, wenn besondere Eile geboten ist.
Die Konsequenzen der Ex-Post-Triage wären auch für die Ärzte dramatisch, weil sie in ein Dilemma gestürzt würden: Was, wenn 2 schwer Kranke um einen Behandlungsplatz auf der Intensivstation konkurrieren? Muss sich im Zweifel der Patient mit den besseren Überlebenschancen hinten anstellen, weil er später kam als die anderen Patienten? Oder müsste die Behandlung der bereits versorgten Patienten zu seinen Gunsten abgebrochen werden?
Bei einer Ex-Post-Triage würden hier die Ärzte nach medizinischen Kriterien entscheiden, ob die Behandlung eines Patienten zugunsten eines andere abgebrochen wird. Es gälte also nicht das Prinzip „First-come-first-serve“ oder gar ein Los-Verfahren, um die Glücklichen zu ermitteln, sondern das Wort der behandelnden Ärztinnen und Ärzte – und ihr Recht, eine Behandlung abzubrechen. Da die Ex-Post-Triage in Deutschland gesetzlich nicht geregelt ist, fordern die Ärzte Rechtssicherheit für den Fall, dass sie entscheiden dürfen.
Behinderte Patienten laufen Gefahr, benachteiligt zu werden
Für den Deutschen Behindertenrat (DBR) ist der Ausschluss der Ex-Post-Triage ein positiver Schritt, wie der Sprecherratsvorsitzende Adolf Bauer sagt. „Damit stehen bereits zugeteilte überlebenswichtige intensivmedizinische Behandlungskapazitäten nicht mehr zur Disposition, solange eine intensivmedizinische Behandlung noch indiziert ist und dem Patientenwillen entspricht“, so Bauer.
Die Befürchtung des Verbandes ist, dass behinderte Menschen bei einer rein medizinischen Entscheidung darüber, wer versorgt wird und wer nicht, benachteiligt werden könnten. Darum begrüße er bei den Zuteilungsentscheidungen das „Mehraugenprinzip“, so Bauer.
Dass sie wegfällt, wenn Eile geboten ist, lehnt Bauer ab. Die Ausnahmeregelung für das Mehraugenverfahren torpediere letztlich genau jene Ziele der vorangestellten Regelung und biete ein Einfallstor, die Schutzvorschrift regelhaft zu umgehen, so der Vorsitzende.
Die Argumentation der Ärzteverbände ist einander ähnlich. „Die Ärzte wollen im Zweifel so viele Menschenleben retten wie möglich“, sagt Hans Jörg Freese, Sprecher des Marburger Bundes. Dazu brauche es die Ex-Post-Triage.
Die Bundesärztekammer moniert zudem, der Gesetzestext stelle nicht deutlich genug darauf ab, dass seine Regelugen auf die Pandemiesituation beschränkt seien. Aus ärztlicher Sicht sei zwingend, dass alte und behinderte Menschen bei der Zuteilung nicht diskriminiert werden, sondern „wie alle anderen Patientinnen und Patienten weder benachteiligt noch bevorzugt werden“, betont Dr. Günther Matheis, Vizepräsident der BÄK.
Die BÄK betont, „dass sich Ärztinnen und Ärzte im Falle der Zuteilung knapper Ressourcen unabhängig von der jeweiligen Entscheidungssituation immer in einem moralischen Dilemma befinden“.
Ärzte brauchen Rechtsicherheit
Auch eine Reihe von Juristen haben sich in einer Stellungnahme dafür ausgesprochen, die Ex-Post-Triage im Gesetzestext zu belassen. Denn es dürfte die Regel sein, dass Patienten etwa einer Notaufnahme zeitversetzt eingeliefert werden und nicht gleichzeitig, schreibt unter anderem die Strafrechtlerin Prof. Dr. Tatjana Hörnle in einer Zusammenfassung der Stellungnahme.
Das bedeutet, dass in der Regel diejenigen Patienten zuerst behandelt werden, die zuerst da waren. Die Folge: „Patienten, die neu ankommen, etwa mit einem Herzinfarkt, Schlaganfall oder nach einem Verkehrsunfall, würden alle abgewiesen und in vielen Fällen sterben – und das, obwohl sie eine deutlich höhere Chance zu überleben hätten als manche Patienten, die schon länger auf der Intensivstation liegen“, schreibt Hörnle.
Nach Ansicht der 16 Juristinnen und Juristen verfängt auch die Kritik der Behindertenverbände nicht. „Denn wenn etwa eine Intensivstation geschlossen werden müsste, wären behinderte und nichtbehinderte Menschen gleichermaßen betroffen, die trotz akut lebensbedrohlichem, gut zu behandelndem Zustand, etwa einem Herzinfarkt oder Schlaganfall, bei Verschlechterung einer Vorerkrankung, pandemiebedingter Neuerkrankung oder nach einem Unfall, keine Chance hätten, intensivmedizinisch versorgt zu werden“, so Hörnle.
Schließlich bräuchten die behandelnden Ärzte Rechtssicherheit. Hörnle: „Wenn Ärztinnen und Ärzte sich in verzweifelter Lage dafür entscheiden, zu reevaluieren und das Leben der Menschen mit guter Prognose zu retten, sollten sie nicht dafür bestraft werden. Neubewertungen und entsprechend begründete Behandlungsabbrüche sollten im neuen Gesetz zugelassen werden.“
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Diesen Artikel so zitieren: Wer darf leben, wer nicht? Gesetzentwurf stellt Ärzte vor Dilemma, Juristen und Behindertenverbände streiten um Ex-Post-Triage - Medscape - 3. Aug 2022.
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