Jüngst feierten Dermatologen die Zulassung der weltweit ersten oralen systemischen Therapie von Erwachsenen mit schwerer Alopecia areata. Jetzt gilt es, sich mit den praktischen Fragen zu beschäftigen, wie das Medikament den infrage kommenden Patienten zur Verfügung gestellt werden kann.
Die Zulassung für den Januskinase(JAK)-Inhibitor Baricitinib (Olumiant®, Lilly) bei schwerer Alopecia areata erteilte die US-Arzneimittelbehörde FDA am 13. Juni. Am 20. Juni folgte die entsprechende Zulassung durch die Europäische Arzneimittelagentur (EMA).
Weitere Vertreter der Wirkstoffklasse könnten bald folgen
Und Baricitinib könnte nicht die einzige zugelassene Therapieoption bleiben. Auch Pfizer und Concert Pharmaceuticals haben JAK-Inhibitoren gegen Alopecia areata in der Spätphase der Entwicklung. Die Wirkstoffklasse der JAK-Inhibitoren, darunter auch Baricitinib, ist bereits zur Behandlung der rheumatoiden Arthritis und anderer Autoimmunkrankheiten auf dem Markt.
Jetzt erhalten Dermatologen immer wieder Anrufe von Patienten, die voller Hoffnung nach einer Behandlungsmöglichkeit fragen. Die Dermatologen ihrerseits machen sich Gedanken darüber, wer die Behandlung erhalten sollte, wie man am besten über Nutzen und Risiken aufklärt und welche Tests vor und nach Beginn der Behandlung durchgeführt werden sollten.
Hoffnung auf schnelle Akzeptanz
Neue systemische Wirkstoffe, wie z.B. Biologika, fänden in der Dermatologie mitunter nur langsam Akzeptanz, manche Behandelnde blieben gern bei dem, was sie kennen, meint Dr. Adam Friedman, Professor und Lehrstuhlinhaber für Dermatologie an der George Washington University School of Medicine & Health Sciences in Washington D.C.

Dr. Adam Friedman
Er hofft jedoch, dass Baricitinib schneller angenommen wird, da es die einzige zugelassene orale systemische Therapie gegen schwere Alopecia areata ist. In Deutschland geht man von einer Prävalenz von 0,1-0,2% aus. Andere Behandlungen wie Kortisoninjektionen in die Kopfhaut waren bisher nicht sehr wirksam und auch nicht leicht durchzuführen.
Abgesehen von den körperlichen Auswirkungen kann die psychische Belastung durch lückenhaftes Haupthaar und fehlende Brauen und Wimpern für die Betroffenen enorm sein.
Nicht für jede Art von Haarausfall geeignet
Die Nachricht von der FDA-Zulassung hat sich schnell herumgesprochen und in den dermatologischen Praxen und Kliniken gehen die Anrufe und E-Mails von interessierten Personen ein.
Dort sollte man darauf vorbereitet sein, dass Patienten mit jeder Art von Haarausfall und nicht nur mit Alopecia areata nach dem Medikament fragen werden, so Friedman. Manche Betroffenen würden nicht zur Indikationsstellung passen, was jedoch „deutlich macht, wie beeinträchtigend der Haarausfall für die Menschen ist, wenn man bedenkt, dass sie davon hören oder lesen und sogleich hoffen, dass es auch für sie gut sein könnte“.
Kein neuer Wirkstoff
Bei Baricitinib handelt es sich um keinen neuen Wirkstoff, sondern um ein bekanntes Medikament mit einer neuen Indikation. Es ist bereits zur Behandlung der mittelschweren bis schweren rheumatoiden Arthritis zugelassen, wenn das Ansprechen auf einen oder mehrere TNF-Blocker unzureichend war. Auch wurde es bei bestimmten hospitalisierten Erwachsenen in der COVID-19-Therapie eingesetzt.
Deutliche Warnhinweise
Der Beipackzettel von Baricitinib warnt vor dem erhöhten Risiko für schwere Infektionen, Mortalität, bösartige Erkrankungen, schwerwiegende kardiovaskuläre Ereignisse und Thrombosen.

Dr. Natasha A. Mesinkovska
Dr. Natasha Mesinkovska ist Professorin für Dermatologie an der University of California in Irvine, wissenschaftliche Leiterin der National Alopecia Areata Foundation und Prüfärztin in den klinischen Studien, die zur FDA-Zulassung von Baricitinib führten. Gegenüber Medscape erklärt sie, dass mehrere Aspekte des Beipackzettels hervorzuheben seien.
Risiken könnten bei Alopecia areata nicht gelten
Zum einen würden die Warnhinweise auf alle JAK-Inhibitoren zutreffen, die zur Behandlung der rheumatoiden Arthritis und anderer Entzündungskrankheiten eingesetzt werden, und nicht nur auf Baricitinib. Außerdem basierten die Warnungen größtenteils auf Daten von Rheumakranken, die, wie sie anmerkt, erhebliche Begleiterkrankungen aufweisen und bereits toxische immunsuppressive Medikamente einnehmen. Außerdem sei diese Population in der Regel im Schnitt deutlich älter als es die Betroffenen mit Alopecia areata sind.
„Ob die Warnhinweise auch für an Alopecia-areata-Erkrankte gelten, ist noch unklar“, sagte Mesinkovska.
Welcher Effekt ist zu erwarten?
Was sich die Patienten auch fragen, ist, wie gut das Medikament wirkt. Zwei Studien führten zur Zulassung durch die FDA. An einer waren Personen beteiligt, die seit mehr als 6 Monaten einen Haarausfall auf mindestens 50% der Kopfhaut aufwiesen. Nach 36 Behandlungswochen hatten 22% derjenigen, die 2 mg Baricitinib erhalten hatten, eine angemessene Haarbedeckung (d.h. mindestens 80%). Mit einer Dosis von 4 mg waren es 35%. Unter Placebo war dies nur bei 5% der Fall.
In der zweiten Studie erreichten 17% der Patienten unter 2 mg Baricitinib und 32% unter 4 mg eine ausreichende Behaarung gegenüber 3% unter Placebo.
Eine Reihe von Nebenwirkungen sind möglich
Häufige Nebenwirkungen im Zusammenhang mit Baricitinib sind laut der FDA Infektionen der unteren Atemwege, Kopfschmerzen, Akne, ein erhöhter Cholesterinspiegel, erhöhte CK-Werte, Harnwegsinfekte, erhöhte Leberwerte, Follikulitis, Müdigkeit, Übelkeit, genitale Pilzinfektionen, Anämie, Neutropenie, Bauchschmerzen, Herpes zoster und Gewichtszunahme.
Bei der Nutzen-Risiko-Abwägung sollte mit den Patienten auch über die möglichen Vorteile gesprochen werden, die über das Nachwachsen der Haare auf der Kopfhaut hinausgehen, so Mesinkovska. Der Verlust von Haaren in den Ohren und auch in der Nase könne das Hörvermögen beeinträchtigen bzw. die Entwicklung von Allergien fördern.
„Etwa 30% bis 50% der Menschen mit Alopecia areata haben Allergien, je nach Altersgruppe oder Region“, erklärte sie.
Einnahme über langen Zeitraum erforderlich
Die Betroffenen sollten auch wissen, dass Baricitinib „über einen sehr langen Zeitraum“ eingenommen werden muss, so Mesinkovska. Es sei möglich, dass dies eine lebenslange Einnahme bedeute und dass das Absetzen des Medikaments zum erneuten Haarverlust führe. Aber die Einnahmedauer sei von Fall zu Fall verschieden.
Die gute Nachricht sei, dass das Medikament gut vertragen werde. „Wir verordnen z.B. gegen Akne viele Medikamente wie Doxycyclin und andere Antibiotika, und die Leute haben damit häufiger Magenprobleme und Ängste als unter Baricitinib“, sagt sie.
Das Nachwachsen braucht Zeit
Dr. Benjamin Ungar, Dermatologe am Alopecia Center of Excellence am Mount Sinai in New York, machte gegenüber Medscape auf einen wichtigen Hinweis für die Patienten aufmerksam: Das Nachwachsen der Haare braucht Zeit. Bei manchen Hauterkrankungen beginnen die Betroffenen mit einer Behandlung und sehen fast sofort eine Besserung. „Das ist aber bei der Alopecia areata nicht der Fall“, sagte er, „im Allgemeinen dauert es Monate, bis die Haare nachwachsen.“
Er selbst habe noch nicht mit der Verschreibung von Baricitinib begonnen, werde dies aber bald tun. „Natürlich werde ich mich mit den Patienten darüber unterhalten, aber ich werde dieses Medikament auf jeden Fall einsetzen. Ich habe keine Vorbehalte dagegen“, sagt Ungar.
Nicht für alle Patienten geeignet
Nach den ersten Versuchen stellen die Ärzte möglicherweise fest, dass einige Patienten keine idealen Kandidaten für die Substanz sind, fügt er hinzu. Menschen mit Lebererkrankungen, Thromboseneigung, abnormem Blutbild oder niedrigen neutrophilen Granulozyten gehören möglicherweise nicht zu den besten Kandidaten für eine Baricitinib-Behandlung, sagt er.

Dr. Benjamin Ungar
Für die meisten Menschen mit schwerer Alopecia areata gebe Baricitinib jedoch Anlass zur Hoffnung. „Bisher gab es nur wenige Behandlungsmöglichkeiten, die oft unzugänglich, unwirksam und nicht immer ungefährlich waren“, sagt er. „Jetzt haben wir eine Option, die zugänglich, im Allgemeinen sicher und bei vielen Menschen wirksam ist.“
Unwägbarkeiten gegenüber Patienten kommunizieren
Für die befragten Experten ist es zudem wichtig, den Patienten mitzuteilen, was noch nicht bekannt ist. „Die Alopecia areata ist eine chronische Krankheit. Wir verfügen noch über keine Langzeitdaten zu dieser Patientenpopulation“, so Friedman.
Eine weitere Unbekannte sei es, welche anderen Medikamente zusammen mit Baricitinib eingenommen werden könnten. In klinischen Studien wurde Baricitinib allein verwendet, sagt sagt Mesinkovska. Derzeit wird die gleichzeitige Einnahme von anderen Immunsuppressiva wie Methotrexat oder Prednison noch nicht empfohlen.
Es bleibe abzuwarten, welche anderen Medikamente sicher gleichzeitig angewandt werden können, wenn mehr Langzeitdaten vorliegen, ergänzt sie.
Oft melden sich Haarausfall-Patienten ohne Alopecia areata
Dr. Lynne J. Goldberg ist Professorin für Dermatologie, Pathologie und Labormedizin an der Boston University School of Medicine und Direktorin der Hair Clinic am Boston Medical Center. Gegenüber Medscape berichtete sie, dass sie bereits eine Reihe von E-Mails von Betroffenen erhalten habe, die sich nach Baricitinib erkundigten. Die meisten von ihnen hätten jedoch keine Alopecia areata und kämen für diese Behandlung nicht infrage.

Dr. Lynne J. Goldberg
Sie sagte, dass das Pflegepersonal ihrer Klinik angewiesen worden sei, den Patienten mitzuteilen, für wen das Medikament bestimmt ist und welche Nebenwirkungen und welchen Nutzen es hat.
Regelmäßige Bluttests sind erforderlich
Laut Goldberg bedeutet die Zulassung des Medikaments nicht, dass es sofort angewendet werden kann. Zunächst müsse die Indikation ermittelt werden, wozu auch Labortests erforderlich seien, und die Behandlungsoptionen besprochen werden. „Es ist kein Medikament, das man mal eben in der Apotheke kauft, sondern ein starkes Immunsuppressivum. Man braucht Labortests, und wenn man einmal damit angefangen hat, muss man alle 3 Monate Blutuntersuchungen machen lassen, um es weiter nehmen zu können.“
Diese Tests könnten je nach Behandler unterschiedlich sein, aber im Allgemeinen benötigen die Patienten ein Standardblutbild sowie eine ausführliche Erfassung der Stoffwechselparameter und besonders der Lipidwerte. „Da bleibt nichts im Dunkeln“, sagte sie.
Vorteile können „lebensverändernd“ sein
Vor einer Verordnung müsse, ebenso wie vor der Verschreibung eines Biologikums, auf Infektionen wie Tuberkulose und Hepatitis B und C geprüft werden. „Man will ja keine schlafenden Hunde wecken“, so Goldberg weiter.
Aber die Vorteile für alle, die entweder mit lückenhaftem oder gar keinem Haupthaar leben müssten oder jeden Tag eine Perücke oder eine Hut aufsetzten, seien gravierend und „lebensverändernd“.
Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
Credits:
Photographer: © Nadzeya Kolabava
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Medscape © 2022
Diesen Artikel so zitieren: Baricitinib bei Alopecia areata zugelassen: Was Ärzte und Patienten über die neue Therapieoption wissen müssen - Medscape - 1. Aug 2022.
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