MEINUNG

Achtsamkeitsprogramm für Assistenzärzte: So trainiert man, „mit Muße, frei von Druck“ zu arbeiten – Studie belegt Wirksamkeit

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

27. Juli 2022

Ein Team von Freiburger Forschenden hat in einer DFG-geförderten Studie (n = 147) untersucht, ob ein Übungsprogramm in Achtsamkeit jungen Ärztinnen und Ärzten helfen kann, im Klinikalltag ihre Belastung zu senken und mehr Muße zu erleben.

Wie waren die Studienergebnisse, wie kann Achtsamkeit im Klinikalltag praktiziert werden, was muss sich in den Kliniken ändern, damit Ärztinnen und Ärzte achtsamer mit sich, ihren Patienten und Kollegen umgehen können? Darüber sprach Medscape mit Dr. Johannes Fendel, Studienautor und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitätsklinikums Freiburg.

Dr. Johannes Fendel

Medscape: In Ihrer Studie haben Sie Achtsamkeit in speziellen Übungen vermittelt und das mit der Wirksamkeit von theoretisch vermittelter Achtsamkeit verglichen. Die Teilnehmer der Interventionsgruppe äußerten nach sechs Monaten deutlich weniger Burnout-Symptome. Haben Sie eine solche Verbesserung erwartet und wie haben Sie diese erreicht?

Fendel: Ja. Der Grund ist der, dass diejenigen Teilnehmer, die in der Interventionsgruppe waren, Achtsamkeit direkt von ihren Trainerinnen und Trainern vorgelebt bekommen haben. Sie konnten damit direkt am Modell lernen, etws wie es aussieht, wenn man meditiert oder man sich aktiv im Zustand der Achtsamkeit befindet.

Hinzu kommt, dass sich die Teilnehmenden der Interventionsgruppe mit anderen Gruppenmitgliedern direkt über ihre Erfahrungen austauschen konnten. Wenn man mit anderen über etwas spricht, gegenseitig Erfahrungen austauscht, dann erreicht man eine noch ganz andere Verarbeitungstiefe, als wenn man das nur mit sich selbst ausmacht.

Medscape: Wie sah das Studienkonzept aus?

Fendel: Es gibt ja jede Menge Selbsthilfebücher mit deren Hilfe man sich über Achtsamkeit, und Self-Care etc. informieren kann. Was es aber weniger gibt, sind solche praktisch angeleiteten Kurse.

Die Idee hinter unserem Studienkonzept war, dass wir eine rein theoretisch vermittelte Achtsamkeit mit einer praktischen, in speziellen Übungen vermittelten Achtsamkeit kontrastieren wollten. 76 Ärztinnen und Ärzte wurden dazu auf die Interventionsgruppe randomisiert und 71 Ärztinnen und Ärzte auf die Kontrollgruppe, die nur theoretisch geschult wurde.  Denn wir wollten auch eine aktive Kontrollgruppe und keine Gruppe, die abwartet oder nichts macht.

Die von uns gewählte Aufteilung – theoretische Aneignung versus praktische Aneignung – hat damit zu tun, dass man Achtsamkeit grundsätzlich als so etwas wie eine Erfahrung beschreiben kann. Eine Erfahrung allerdings, die man nie ganz vollständig sprachlich vermitteln kann.

Kurzes Beispiel zur Veranschaulichung: Man kann erklären wie Schokolade schmeckt, aber man wird nie genau erfahren wie Schokolade schmeckt, wenn man sie nicht probiert hat. In unserer Idee ging es uns auch darum, dass wir eine Achtsamkeitserfahrung praktisch vermitteln wollten.

Medscape: Was wurde die Stressreduktion gemessen?

Fendel: Wir haben uns drei Ebenen überlegt, um den Erfolg bzw. Effekt dieses Trainings zu messen. Die eine war: Wir wollten Unwohlsein reduzieren. Unwohlsein als Überbegriff für alles, was man nicht mehr oder eben weniger haben möchte. Wir haben dazu die Werte für Burnout und die Stresslevel gemessen und über Selbstberichte dokumentiert, also über Fragebögen.

Wir haben die Effekte aber auch endokrinologisch über die Kortisol-Sekretion im Haar überprüft. Und wir haben auch negative Affekte (z.B. schlechte Stimmung, Depressionen, Ängstlichkeit) aufgezeichnet. All das zählt noch zur Ebene „Unwohlsein“.

Auf der nächsten Ebene ging es darum, das Wohlbefinden zu steigern. Also Lebenszufriedenheit, Arbeitszufriedenheit, Selbstmitgefühl, Muße, Achtsamkeit, etc. 

Auf einer dritten Ebene schließlich haben wir geschaut, ob sich das Ganze auf die Versorgungsqualität auswirkt. Dazu haben wir unsere Teilnehmenden mittels Fragebögen (Selbstberichte) befragt. Aber – viel wichtiger noch – wir haben Fremdberichte eingesetzt d.h. wir haben Kolleginnen und Kollegen, Vorgesetzte und Patientinnen und Patienten befragt, ob sich das Verhalten der Assistenzärzte verändert hatte.

Medscape: Wie stellen Sie fest, wie anhaltend die Verhaltensänderungen sind – läuft die Beobachtung der Studienteilnehmer denn weiter?

Fendel: Tatsächlich ist das Projekt beendet, die DFG-Förderung ist regelhaft ausgelaufen und wir haben auch kein Folgeprojekt beantragt. Momentan gibt es auf der wissenschaftlichen Ebene keine Weiterführung des Projekts und damit keine weitere Beobachtung.

Weil wir zu unserer Studie aber recht intensive Rückmeldungen und immer wieder Anfragen bekommen, haben wir das schon häufiger diskutiert und überlegen auch, Gelder für eine katamnestische Nachbefragung zu aquirieren. Es wäre sicherlich auch spannend zu erfahren, wie die Studienteilnehmenden mit der COVID-19-Pandemie umgegangen sind und umgehen.

Medscape: Wie ist das Achtsamkeitsprogramm für die Ärzte entstanden?

Fendel: Als Basis für unser Trainingsprogramm haben wir in einem ersten Schritt ein sehr bekanntes Achtsamkeits-Programm genommen, das sogenannte MBSR-Programm (Mindfulness Based Stress Reduction). Ein sehr etabliertes Training, das in den 1970er Jahren von dem US-Molekularbiologen Jon Kabat-Zinn entwickelt wurde. Das Programm wurde mittlerweile über 30 Jahre in verschiedensten Studien für verschiedenste belastete Gruppen validiert, darunter in klinischen aber auch nicht-klinischen Kontexten.

Allerdings ist das Programm generisch, es richtet sich nicht an eine spezifische Zielgruppe. Unser zweiter Schritt war das Erstellen einer umfassenden Bedarfsanalyse. Wir wollten wissen wo unserer Zielgruppe der Schuh drückt. Das haben wir über Interviews mit Assistenzärztinnen und Assistenzärzten erfragt und in Gesprächen mit praktizierenden Ärztinnen und Ärzten. Wir haben den Bedarf aber auch über systematische Literaturrecherchen ermittelt. Daraus entstand dann auch noch eine Metaanalyse, die wir 2021 publiziert haben und in der wir den aktuellen Forschungsstand weltweit dazu zusammengetragen haben. Auf Basis des MBSR-Programms haben wir dann in einem dritten Schritt die Adaption vorgenommen.

Im Jahr 2020 haben wir die Machbarkeitsstudie publiziert. Durchgeführt haben wir diese Studie 2018. Das Programm ist im Rahmen des DFG-geförderten Projektes entstanden. Das hat 2017 angefangen und ging bis 2020. Wir haben das Projekt eineinhalb Jahre konzipiert und dann über zwei Jahre lang getestet.

Medscape: Im Achtsamkeitsprogramm nimmt das Konzept der Muße eine Schlüsselrolle ein. Was bedeutet das?

Fendel: Das Konzept der Muße war eine ganz zentrale Adaption. Wir haben mit der Muße dem Programm einen Zielhorizont gegeben, an dem die Teilnehmenden ihr eigenes Üben in Achtsamkeit ausrichten können. Die Idee, war also einen Zustand zu erlangen, in dem man sich frei und selbstbestimmt fühlt, in dem man keinen Druck verspürt. Weder Druck von innen z.B. durch eigene Stressverstärker, also durch Eigenschaften, wie z.B. Perfektionismus, starken Ehrgeiz, Angst etc., noch Druck von außen – also Zeitdruck, To-Do-Listen etc. Man geht ganz auf in dem, was man gerade tut und wird dabei vielleicht sogar noch schöpferisch angeregt.

Medscape: Das klingt nach Flow…

Fendel: Der Zustand der Muße ist dem Flow ähnlich, gleicht ihm aber nicht. Ein entscheidender Unterschied zwischen einem Muße-Erleben und einem Flow-Erleben: In einem Flow-Erleben beschreiben viele Leute eine Selbst- und Zeitvergessenheit. Da ist die Zeit wie im Flug vergangen.

In Muße muss das nicht sein. In Muße kann man sich der Zeit sehr bewusst sein und auch sich selbst. Man kann genießen was man gerade tut. Muße ist dabei stark mit Freiheit assoziiert.

Medscape: Das Programm umfasst acht wöchentliche und eine ganztätige Sitzung. Wie sind die aufgeteilt und was lernt man dort?

Fendel: Eine Sitzung hat zwei Stunden und 15 Minuten gedauert, der ganze Tag ging über sechs Stunden. Der Tag war besonders, denn er wurde im Schweigen verbracht. Die Ärzte haben ganz intensiv das Meditieren geübt. Die einzelnen Sitzungen bestanden immer aus vier Elementen:

Wir haben mit ihnen klassische Meditationsübungen gemacht, wie z.B. Meditieren im Liegen und Sitzen aber auch in der Bewegung, also Gehmeditation oder Yoga. Zudem wurde immer eine Form von Wissens-Input angeboten, z.B. über die Stress-Physiologie. Und – als ganz wichtiges Element – die Teilnehmer konnten sich immer über ihre neuen Erfahrungen beim Meditieren austauschen. Das vierte Element – auch ein Schlüsselelement der Adaption – war, dass wir Wert darauf legten, dass in jeder Sitzung der Transfer in den Klinikalltag besprochen wurde.

Medscape: Wie kann man solche Kurse in Kliniken etablieren?

Fendel: Im Prinzip sind wir selbst die Multiplikatoren. Der Aufbaukurs für zertifizierte MBSR/MBCT-Lehrende ist mit den Trainingsinhalten der Studie identisch. Der Kurs hat jetzt im Juni stattgefunden und ist ein Train-the-Trainer-Konzept, durchgeführt von Fachärztinnen und Fachärzten, die das Programm selbst mit entwickelt haben und jetzt weitertragen.

Medscape: Wie gelingt der Transfer in den Klinikalltag?

Fendel: Häufig finden Programme zur Stressreduktion in einem Seminarraum statt, vielleicht im Schwarzwald oder sonst irgendwo, entrückt vom Alltag in einer schönen Umgebung. Wir wollten sicherstellen, dass die Teilnehmenden das Gelernte direkt in ihrem Alltag anwenden können. Deswegen haben unsere Übungen unter der Woche abends nach dem Klinikalltag stattgefunden. Das war uns wichtig.

Darüber hinaus haben wir großen Wert auf sogenannte informelle Übungen gelegt. Neben dem formalen Meditieren üben haben wir überlegt, wie man Achtsamkeit bei Routinehandlungen einbauen kann. Routinehandlungen sind im Krankenhaus beispielsweise ein achtsames Desinfizieren der Hände, ein achtsames Blutabnehmen, ein achtsames Laufen über die Klinikflure, etc.

All diese Handlungen – die ja sowieso schon stattfinden – werden als Anker genutzt, um Achtsamkeit einzuüben. Mit dem Ziel, dass sich das immer mehr automatisiert und Stück für Stück in eine allgemeine Grundhaltung der Achtsamkeit im Alltag übergeht.

Eine weitere Form des Transfers sah so aus, dass die Teilnehmer angeregt wurden, Routinehandlung als Anker für selbstfürsorgliche Fragen wie „wie geht es mir eigentlich gerade“ zu nutzen. Das sieht dann so aus, dass man beispielsweise, wenn man morgens das Klinikgelände betritt, sich ganz kurz fragt: „Wie geht es mir eigentlich gerade? Was spüre ich gerade in meinem Körper? Wie fühlt sich gerade mein Atem an? Was geht mir gerade durch den Kopf?“

Neben solchen ganz konkreten, niederschwelligen Transfer-Übungen im Klinikalltag, haben wir auch noch ein Rollenspiel durchgeführt, wie man ein achtsames Gespräch mit Patientinnen und Patienten führt, so dass beide Seiten davon wechselseitig profitieren.

Medscape: Was muss sich in den Kliniken, an den Arbeitsbedingungen ändern?

Fendel: Was ich mir wünschen würde und was sich auch viele unserer Teilnehmerinnen und Teilnehmer wünschen würden, ist Zeit. Auf jeden Fall Zeit. Ärztinnen und Ärzte wünschen sich Zeit, um diese kostbaren Momente mit Patientinnen und Patienten zu nutzen und daraus langfristig Erfüllung und Sinn zu schöpfen.

Die Wahrnehmung ist zunehmend, dass diese Momente im direkten Kontakt mit Patientinnen und Patienten systematisch verkürzt werden. So gibt es z.B. Studien, dass Ärztinnen und Ärzte heutzutage viel mehr Zeit mit Dokumentation verbringen als mit ihren Patientinnen und Patienten.

Und wenn man dazu jetzt nur auf den Aspekt Wohlbefinden von Ärztinnen und Ärzten schaut, dann ist das fatal: Denn viele studieren ja Medizin aus der Idee heraus, Patientinnen und Patienten helfen zu wollen und nicht um zu dokumentieren.

Die Gratifikation, die sie aus diesem direkten Kontakt ziehen, durch ein Lächeln, durch Dankbarkeit, durch das Gefühl einer Besserung, wenn das systematisch verloren geht, dann ist das fatal. Denn genau solche Momente halten einen bei der Stange und machen langfristig zufrieden – und dadurch auch resilient und gesund.

Dazu braucht es mehr Zeit im Klinikalltag. Ich denke, man müsste verschiedene medizinische Behandlungen anders beziffern und z.B. auch eine Gesprächsziffer ausweiten. Sprechende Medizinsollte anders und besser honoriert werden. Dass die Situation so ist wie sie ist, ist auch Folge der Ökonomisierung in der Medizin und vielleicht auch der Idee einer kurzfristigen Profitmaximierung geschuldet – zu Lasten von langfristiger Zufriedenheit und Fürsorge.

Fragt man Patientinnen und Patienten, was sie sich wünschen, dann hört man häufig den Wunsch, dass man ihnen einfach mal zuhört und sie sich verstanden fühlen. Zumal das Zuhören an sich ja schon eine ganz zentrale Heilquelle ist.

Medscape: Sehen Sie die Gefahr, dass der Zeitmangel in Kliniken durch solche Trainingsprogramme kompensiert wird? Dass Achtsamkeit trainiert wird zur Selbstoptimierung?

Fendel: Die Frage, ob ein solcher Kurs zur Selbstoptimierung genutzt werden kann, haben wir uns oft und kritisch gestellt. Wir hatten durchaus die Sorge, dass junge, hochmotivierte Ärztinnen und Ärzte – die eine größere Leistungs- und Opferbereitschaft mitbringen, als das vielleicht andere Gruppen tun – das Erlernen von Achtsamkeit womöglich dahingehend missverstehen und diese Fähigkeiten nutzen, um ihre Leistung zu steigern und auf diese Weise ungewollt das System zu stabilisieren, das mitunter ja dafür verantwortlich ist, dass sie so belastet sind.

Das betrachten wir als eine große Ethik-Falle und Gefahr: Dass die Individuen, die ohnehin unter den Systembedingungen leiden, für die Behebung der Systemfehler individuell verantwortlich gemacht werden.

Deswegen haben wir den Zielhorizont der Muße gesetzt, der soll bewusst einen Gegenpol darstellen. Denn dabei geht es um Selbstfürsorge, um Selbstmitgefühl. Das soll die Teilnehmerinnen und Teilnehmer daran erinnern, dass sie mit der Achtsamkeitspraxis etwas für sich tun, um langfristig auch Erfüllung im Beruf zu finden. Allerdings hoit uns auch das Konzept der Muße nicht ganz aus dieser Ethik-Falle. Auf jeden Fall müssen sich die Arbeitsbedingungen verbessern. Das ist ganz wichtig.

Klar ist: Achtsamkeit ist kein Allheilmittel. Wir hoffen dennoch, dass sich über diese Fertigkeit auch die Systembedingungen ein bisschen verändern. Einige der Ärztinnen und Ärzte, die an unserem Programm teilgenommen haben, werden irgendwann Oberärztinnen, Oberärzte, Chefärztinnen oder Chefärzte. Und die sind dann aufgrund der erlernten und praktizierten Fertigkeiten achtsamer und gehen anders mit sich, mit ihren Kolleginnen und Kollegen und mit ihren Patientinnen und Patienten um. So kann dann vielleicht eine Systemtransformation passieren. Denn diese Ärztinnen und Ärzte werden langfristig zu neuen Vorbildern in der Medizinkultur und verändern sie von innen.

Medscape: Wir bedanken uns ganz herzlich für das Gespräch.

 

Kommentar

3090D553-9492-4563-8681-AD288FA52ACE
Wir bitten darum, Diskussionen höflich und sachlich zu halten. Beiträge werden vor der Veröffentlichung nicht überprüft, jedoch werden Kommentare, die unsere Community-Regeln verletzen, gelöscht.

wird bearbeitet....