Mitten in der Corona-Sommerwelle hat der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Dr. Andreas Gassen, gefordert, die Isolations- und Quarantänepflicht bei Corona-infizierten Menschen aufzuheben. „Wir können uns nicht dauerhaft vor dem Virus verstecken. Wir müssen zurück zur Normalität. Wer krank ist, bleibt zu Hause. Wer sich gesund fühlt, geht zur Arbeit“, erklärte Gassen am Wochenende in der Neuen Osnabrücker Zeitung. „So halten wir es mit anderen Infektionskrankheiten wie der Grippe auch.“
Zwar müsse man von Hunderttausenden nicht erkannter Ansteckungen täglich ausgehen. „Aber: Die Verläufe sind fast immer milde.“ So seien nicht die vielen Infektionen das Problem, sondern, „dass positiv getestete auch ohne Symptome mehrere Tage zuhause bleiben, in Isolation geschickt werden“, so Gassen. „Wir sind das letzte Land in Europa, das noch so aufgeregt über einen Corona-Notstand diskutiert.“
Der Schritt solle helfen, Personalengpässe unter anderem in Krankenhäusern zu verhindern. Derzeit häufen sich Berichte über geschlossene Krankenhausstationen und gesperrte Klinikbetten, weil Corona-bedingt das Personal fehlt, vor allem in der Pflege.
FDP: Quarantäne nur per Krankschreibung
Die offizielle Regelung in Deutschland lautet derzeit allerdings immer noch: Wer mit dem Coronavirus infiziert ist, muss derzeit für 5 Tage in häusliche Isolation. Beschäftigte im Gesundheitswesen müssen vor der Rückkehr zur Arbeit zudem per Schnell- oder PCR-Test nachweisen, dass sie negativ sind und 48 Stunden symptomfrei sein. Für Menschen, die Kontakt mit Corona-Infizierten hatten, wird eine 5-tägige Quarantäne dringend empfohlen. Gassens Vorpreschen wurden daher scharf kritisiert.
Nicht aber von der FDP. Der gesundheitspolitische Sprecher der FDP-Fraktion im Bundestag, Prof. Dr. Andrew Ullmann, sieht in der Vorschrift zur Quarantäne offenbar einen zu großen Eingriff durch den Staat. Zukünftig solle die Pflicht zur Quarantäne nur per Krankschreibung durch den Arzt ausgesprochen werden können, so Ullmann.
Widerspruch zu Gassens Forderungen
Anders Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach (SPD): „Infizierte müssen zuhause bleiben. Sonst steigen nicht nur die Fallzahlen noch mehr, sondern der Arbeitsplatz selbst wird zum Sicherheitsrisiko“, twitterte Lauterbach bereits am Wochenende. „Die Krankschreibung soll telefonisch erfolgen.“
Auch der Deutsche Hausärzteverband regierte: Ulrich Weigeldt, Vorsitzender des Verbandes, sagte der WELT am Dienstag: „Meiner Ansicht nach sollten wir bei den aktuellen, vernünftigen Regeln bleiben, die ja die Isolationsdauer bereits auf 5 Tage verkürzt haben. Wer einen positiven Test hat, sollte einige Tage zuhause bleiben, auch wenn er sich ganz gut fühlt.“ Weitere Ansteckungen sollten vermieden werden, vor allem von Mitarbeitern in der Gesundheitsversorgung.
Der Marburger Bund (MB) Niedersachsen kritisierte Gassens Vorstoß als „an der Realität vorbei.“ Die Aufhebung der Isolationspflicht hätte „katastrophale Folgen“, erklärten die beiden Vorsitzenden des MB Niedersachsen, Hans Martin Wollenberg und Andreas Hammerschmidt. „Es kann keine Lösung sein, dass Menschen zur Arbeit gehen, obwohl sie ansteckend sind. Eine Infektion mit SARS-CoV-2 ist und bleibt weiterhin keine einfache Atemwegserkrankung. Das Festhalten an der Isolationspflicht ist nicht nur wichtig für den Schutz vulnerabler Patientengruppen, sondern auch gelebter Mitarbeiterschutz!“ Die beiden Vorsitzenden betonten: „Unsere Erfahrung zeigt, dass viele Infizierte im Laufe der Erkrankung sehr wohl Symptome entwickeln.“
Daniela Behrens (SPD) twitterte: „Oberster Ärztevertreter fordert das Ende aller #Corona-Schutzmaßnahmen. Das wollte er schon mal. Kurze Zeit später waren übrigens Intensivbetten voll. In #Nds haben wir nicht auf ihn gehört, tun es auch dieses Mal nicht. Ich bezweifle, dass die Mehrheit der Ärzte seine Meinung teilt.“
Schützenhilfe erhielt Behrens von ihrem Ministerpräsidenten Stephan Weil. „Eine Pandemie ist keine Privatveranstaltung“, sagte Weil dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). „Infizierte, die sich nicht isolieren, können auch ohne eigene Symptome andere anstecken und deren Gesundheit gefährden.“ Am Arbeitsplatz würde sie andere Beschäftigte einem unnötigen Risiko aussetzen. „Auch ein Blick in die Kliniken und auf die Todeszahlen zeigt, dass derzeit überhaupt kein Anlass besteht, um über eine Aufhebung der wenigen verbliebenen Schutzmaßnahmen zu diskutieren.“
Die FDP steht mit ihrer Unterstützung von Gassens Position offenbar allein da. So habe die Gesundheitspolitikerin Saskia Weishaupt von den Grünen für ihre Fraktion klargestellt: „Wer Corona hat, muss zu Hause bleiben“, schreibt der SPIEGEL. Menschen sollten an ihrem Arbeitsplatz nicht der Gefahr ausgesetzt sein, sich anzustecken.
Die gesundheitspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, Kathrin Vogler, hat Gassens Vorschlag offenbar barsch abgetan. Gassens Vorschlag sei „Quatsch“, zitiert sie der SPIEGEL.
Fanden Sie diesen Artikel interessant? Hier ist der Link zu unseren kostenlosen Newsletter-Angeboten – damit Sie keine unserer Nachrichten aus der Medizin verpassen.
Credits:
Photographer: © Pusteflower9024
Lead Image: Dreamstime
Medscape Nachrichten © 2022 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Schluss mit COVID-Quarantäne? Das sagen Kritiker zum Vorpreschen des KBV-Chefs Gassen – oder ist Deutschland zu ängstlich? - Medscape - 27. Jul 2022.
Kommentar