Adipositas-„Epidemie“: Die Rolle von Obesogenen und Entwicklungen in der Therapie

Dr. Thomas Kron

Interessenkonflikte

21. Juli 2022

Schätzungen zufolge werden bis 2030 weltweit eine Milliarde Menschen adipös sein. Die Prävalenz-Werte für Übergewicht und Adipositas in der europäischen Region kommen denen auf dem amerikanischen Kontinent nahe. Das geht aus einem am 3. Mai 2022 veröffentlichten WHO-Bericht hervor. „Adipositas kennt keine Grenzen, [und] in Europa und Zentralasien wird kein einziges Land das Ziel der WHO erreichen, den Anstieg der Adipositas zu stoppen“, sagt Hans Henri P. Kluge (WHO-Regionaldirektor für Europa, Kopenhagen, Dänemark). 

Neue Wirkstoffe spenden etwas Hoffnung

Glücklicherweise gibt es auch positive Entwicklungen im Kampf gegen die überflüssigen und gefährlichen Pfunde. So ist, wie von  Univadis   kürzlich berichtet, in die Pharmakotherapie der Adipositas wieder etwas Bewegung geraten. Die Hoffnungen sind groß, bald neue, dauerhaft sichere und wirksame Präparate zur Verfügung zu haben.

Einer dieser „Hoffnungsspender“ ist der duale Inkretin-Wirkstoff Tirzepatid, mit dem eine signifikante Gewichtsreduktion erzielt werden kann, wie die Ergebnisse einer Phase-3-Studie zeigen, die im  New England Journal of Medicine  erschienen sind.

An der placebokontrollierten Studie nahmen 2.539 Erwachsene ohne Typ-2-Diabetes teil, die entweder einen Body-Mass-Index (BMI) von mindestens 30 kg/m2 hatten oder einen BMI zwischen 27 bis 30 kg/m2 und mindestens einem kardiovaskulären Risikofaktor. Zu Beginn der Studie wogen die Teilnehmer im Mittel knapp 105 kg, der mittlere BMI-Wert lag bei 38 kg/m2; die Teilnehmer erhielten entweder ein Placebo oder Tirzepatid in einer von 3 Dosierungen (5, 10 und 15 mg).

Die durchschnittliche Gewichtsreduktion nach 72 Wochen betrug bei Tirzepatid 15, 19,5 und 20,9%, in der Placebo-Gruppe dagegen nur 3%. Eine Reduktion ihres Körpergewichts um mindestens 20% erreichten mit Tirzepatid 50 (10 mg) und 57%  (15 mg) der Patienten. In der Kontroll-Gruppe gelang dies nur 3%. 

Krebs-Schutz durch Adipositas-Chirurgie?

Schon als sehr wirksam bewährt haben sich chirurgische Eingriffe zur Gewichtsreduktion, die zudem mehr können, als nur den BMI senken. Möglicherweise schützen sie sogar vor Krebs. Dies lässt eine US-Studie vermuten, deren Ergebnisse kürzlich im Fachmagazin  JAMA  erschienen sind. 

In die US-Studie wurden Erwachsene mit einem BMI von 35 oder mehr aufgenommen, die sich einer bariatrischen Operation unterzogen. Diese Patienten wurden mit adipösen Patienten ohne operative Therapie verglichen. 5.053 Patienten wurden operiert, 25.265 gehörten zur Kontroll-Gruppe. Hauptresultat: Die kumulative Inzidenz der krebsbedingten Mortalität nach 10 Jahren betrug 0,8% in der chirurgischen Gruppe und 1,4% in der Kontroll-Gruppe; die Berechnungen ergaben eine bereinigte Hazard Ratio von 0,52.

Operation nicht mehr Ultima Ratio

Dennoch sind sich viele Wissenschaftler  einig, dass solche operativen Maßnahmen nicht mehr als Ultima Ratio der Therapie von adipösen Patienten eingestuft werden sollten. Dieses „Ultima Ratio“-Prinzip der Krankenkassen in der Adipositas-Chirurgie entspreche nicht mehr dem Stand der medizinisch-wissenschaftlichen internationalen Leitlinien und klinischen Evidenz, so z.B. das Fazit eines aktuellen Rechtsgutachtens von Prof. Dr. Stefan Huster „zum Anspruch auf Leistungen der bariatrischen Chirurgie“ im Auftrag der AG Adipositas des Bundesverbandes Medizintechnologie.

Vorbeugen ist besser als Heilen

Mindestens ebenso wichtig wie wirksame Therapie ist die Prävention. Dafür müssen die Ursachen der steigenden Adipositas-Prävalenz identifiziert und bekämpft werden. Dass ein Teil des Problems hochkalorische bzw. stark zuckerhaltige Nahrungsmittel sind, mit denen schon Kinder umworben werden, ist bekannt. 

Es gibt aber offenbar noch weitere Faktoren – und zwar in unserer Umwelt. Allgegenwärtige Umweltchemikalien, so genannte Obesogene, spielten eine wichtige Rolle bei der Adipositas-Pandemie, schreiben die Autoren einer aktuellen Serie von 3 Beiträgen zum Zusammenhang von Übergewicht und Umweltfaktoren [1,2,3].

Obesogene seien, so erklären der US-Forscher Dr. Jerrold J. Heindel (US National Institute of Environmental Health Sciences) und seine Mitautoren, eine Untergruppe von Umweltchemikalien, die als endokrine Disruptoren wirkten und daher den Stoffwechsel beeinflussten. Diese Chemikalien, dazu zählten etwa Pestizide und PCB, kämen quasi über all vor: im Wasser und Staub, in Lebensmittelverpackungen, Körperpflegeprodukten und Haushaltsreinigern, in Möbeln und auch in elektronischen Geräten.

Obesogene über mehrere Generation wirksam

Die Obesogen-Hypothese besat, dass durch die Exposition gegenüber endokrinen Disruptoren die physiologische Steuerung von Energie-Aufnahme und Energie-Verbrauch gestört wird. Die Folge: Es wird mehr gegessen als notwendig.

Die empfindlichsten Lebensphasen für die Wirkung von solchen Obesogenen sind den Wissenschaftler zufolge die intrauterine Phase und die frühe Kindheit. Auch genetische und epigenetische Faktoren spielen eine wesentliche Rolle. Die schädlichen Effekte der Obesogene können daher von einer Generation an die nachfolgenden Generationen weitergegeben werden.

So wurde nach Angaben der Autoren z.B. in einer Studie festgestellt, dass das Ausmaß der Adipositas von Frauen signifikant mit der DDT-Belastung ihrer Großmütter korrelierte, auch wenn sie dem inzwischen verbotenen Pestizid nie direkt ausgesetzt waren.

Die Autoren um Heindel schlagen daher vor, sich mehr auf die Mechanismen zu konzentrieren, die für das veränderte Essverhalten verantwortlich sind, also auf die obesogenen Umweltchemikalien, die die physiologische Steuerung der Nahrungsaufnahme störten. Statt die Adipositas weiterhin primär mit Diäten, Pillen und Skalpell zu bekämpfen, sollte die Exposition gegenüber Umweltchemikalien vor allem in den sensiblen Lebensphasen reduziert werden. 

Dieser Artikel ist im Original erschienen auf Univadis.de.

 

Kommentar

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