Lockdown-Magersucht: Essstörungen haben während der Pandemie deutlich zugenommen – vor allem bei jungen Frauen

Bettina Micka

14. Juli 2022

Auch wenn die körperlichen Risiken in der Pandemie für Ältere weitaus größer waren – psychisch belastender waren die Pandemie und ihre Folgen wie Lockdown und Quarantäne für die Jüngeren – und für Frauen mehr als für Männer. Das berichtete Prof. Dr. Hans-Christoph Friederich auf der Pressekonferenz anlässlich des Deutschen Kongresses für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie [1].

Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie (DGPM) gab einen Überblick, was bereits über die psychosomatischen Folgen der Pandemie bekannt ist. Prof. Dr. Stephan Herpertz, Direktor der Klinik für psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsklinikum Bochum, stellte die Auswirkungen anhand von Essstörungen vor.

Psychosomatische Folgen von Pandemie und Lockdown

In bisherigen Untersuchungen hat sich recht konsistent gezeigt, dass jüngere Menschen in der Pandemie psychisch stärker belastet waren. „So haben sich beispielsweise mehr junge Menschen und mehr Frauen als Männer während der Lockdowns einsam gefühlt“, berichtete Friederich.

 
Einsamkeit ist ein ‚sozialer Schmerz‘. Sie wird in Hirnarealen wahrgenommen, die auch Schmerz wahrnehmen. Prof. Dr. Hans-Christoph Friederich
 

„Einsamkeit ist ein ‚sozialer Schmerz‘“, erläuterte der DGPM-Präsident. „Sie wird in Hirnarealen wahrgenommen, die auch Schmerz wahrnehmen.“ Bekannt ist, dass einsame Menschen früher sterben und ein erhöhtes Risiko für verschiedene Krankheiten wie Diabetes und Herz-Kreislauferkrankungen haben. Welchen Einfluss eine zeitlich begrenzte Isolation auf die Gesundheit hat, sei aber nicht bekannt, so Friederich. 

Neben der Einsamkeit hat auch die Prävalenz moderater bis schwerer depressiver sowie angstbezogener Symptome im ersten Jahr der Pandemie leicht zugenommen (2,4 bzw. 1,5%). Zu diesem Schluss kam die kürzlich veröffentliche NAKO-Gesundheitsstudie mit rund 162.000 Teilnehmern.

Angestiegen ist in der Pandemie zudem die Zahl der Mediensüchtigen. Wie eine deutsche Studie an Studierenden feststellte, stieg die Prävalenz von 3% im Jahr 2019 auf 7,8% im Jahr 2020. Während vor der Pandemie Internetsucht bei jungen Männern noch häufiger war, fanden die Forscher 2020 keinen Unterschied mehr zwischen den Geschlechtern.

 
Mit jeder neuen Welle steigt die Prävalenz psychischer Störungen. Danach nimmt sie wieder ab. Prof. Dr. Stephan Herpertz
 

Die gute Nachricht ist jedoch, dass die psychischen Probleme überwiegend wohl nicht von Dauer sind, wenn sich die Situation wieder normalisiert. „Mit jeder neuen Welle steigt die Prävalenz psychischer Störungen. Danach nimmt sie wieder ab“, so Herpertz.

Das gilt allerdings nicht für alle Menschen. Wichtig sei es deshalb festzustellen, welche psychischen Belastungen und Erkrankungen sich unter welchen Umständen verstetigten und wie dies zu verhindern sei.

Von den Lock-Down-Kilos zur Essstörung

Der Lockdown hat bei vielen Menschen auch dazu geführt, dass sie an Körpergewicht zugelegt haben. Infolgedessen kann sich eine Essstörung entwickeln. Frauen sind weitaus häufiger betroffen. Bei Anorexia nervosa etwa liegt ihr Anteil bei 98%, bei Bulimia nervosa bei rund 80%.

Essstörungen sind ein Beispiel für psychosomatische Probleme, die in der Pandemie erstmals auftraten oder sich verschlimmert haben. So zeigte eine kürzlich erschienener kanadischer Review mit Daten aus 53 Studien und mit rund 36.000 Patienten mit Essstörungen, dass Krankenhauseinweisungen um 48% gegenüber der Vor-Corona-Zeit zugenommen haben. „Ausschlaggebend war hierfür der Trias aus Verlust der Tagesstruktur, Rückgang sozialer Beziehungen und der häufig kompensatorisch gesteigerte Konsum von digitalen Medien“, wie Herpertz erläuterte.  

 
Tatsächlich war Videotherapie in den Lockdown-Phasen zumindest eine Möglichkeit, psychisch kranke Menschen überhaupt zu versorgen. Prof. Dr. Stephan Herpertz
 

Herpertz beschrieb die Entwicklung einer Essstörung als Folge der psychischen Belastungen während der Pandemie am Beispiel einer jungen Frau mit Bulimia nervosa. Die 19-jährige Studentin hatte gerade ihr Studium in einer anderen Stadt begonnen, als der Lockdown kam.

Durch den ausschließlich digitalen Unterricht vereinsamte sie. Zunehmend entglitt ihr die Tagesstruktur. Immer häufiger surfte sie im Internet. Aus Frust und Langweile nahm sie mehr hochkalorische Lebensmittel zu sich. Zudem bewegte sie sich kaum noch.

In der Folge nahm sie deutlich an Gewicht zu. Die Diskrepanz zwischen sich und dem Schönheitsideal in der virtuellen Welt zerrüttete ihr Selbstbewusstsein. Sie zog die „Notbremse“ ernährte sich extrem kalorienarm und trieb exzessiv Sport. Die extreme Kontrolle beim Essen konnte sie jedoch nicht lange durchhalten. Es kam zum Kontrollverlust in Form von Essanfällen. Zudem erbrach sie mehrmals pro Woche.

Die Patientin erhielt aufgrund der Kontaktbeschränkungen zunächst eine videogestützte Therapie, die später in Präsenz fortgesetzt wurde.

Zur Bedeutung der Videotherapie sagte Herpertz gegenüber Medscape: „Tatsächlich war das in den Lockdown-Phasen zumindest eine Möglichkeit, psychisch kranke Menschen überhaupt zu versorgen. Und das wurde sehr gut angenommen.“ Gerade liefe die multizentrische Studie SUSTAIN, die u.a. Präsenz-Therapie und videogestützte Therapie bei Essstörungen vergleiche. Ergebnisse sind in 2 Jahren zu erwarten.
 

Kommentar

3090D553-9492-4563-8681-AD288FA52ACE
Wir bitten darum, Diskussionen höflich und sachlich zu halten. Beiträge werden vor der Veröffentlichung nicht überprüft, jedoch werden Kommentare, die unsere Community-Regeln verletzen, gelöscht.

wird bearbeitet....