Hier muss gespart werden! Diese Lauterbach-Vorschläge im GKV-Finanzstabilisierungsgesetz empören alle – Defizite schon „riesig“

Christian Beneker

Interessenkonflikte

13. Juli 2022

Mit dramatischen Worten warnte jüngst die Vorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Dr. Carola Reimann, vor den Folgen der leeren Kassen bei den gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV). Inflation und Energiekrise würden sich bereits jetzt bemerkbar machen, sagte Reimann dem Handelsblatt.

Das Defizit beträgt in der Tat für das Jahr 2023 GKV-weit 17 Milliarden Euro. Wenn Deutschland in eine Rezession abgleiten würde, würden auch die Kassensysteme in eine „historische Krise“ stürzen, sagte Reimann. Darauf sei niemand vorbereitet. Eine eventuelle Insolvenz „möchte man sich bei einer großen Kasse nicht vorstellen“, so Reimann weiter. Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach (SPD) müsse verstehen, dass die Kassen leer sind.

Lauterbach hält überall die Hand auf

Mit seinem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz, das als Referentenentwurf Medscape vorliegt, hat Lauterbach nicht nur Reimann auf den Plan gerufen. Auch Vertreter der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und der Arzneimittelindustrie kritisierten die Sparpläne des SPD-Politikers scharf. Unterstützer hingegen sucht man vergebens. Kein Wunder, denn Lauterbach will an vielen Stellen Geld abschöpfen – besonders bei der Pharmaindustrie.

So muss nach den Plänen des Ministers an einer ganzen Reihe von Stellschrauben gedreht werden, um dem Milliarden-Defizit Herr zu werden. Laut Gesetzentwurf wachsen die Ausgaben um rund 4% pro Jahr. Und der durchschnittliche Zusatzbeitrag müsste um 1,3% wachsen, wenn nichts unternommen würde (ein Beitragssatzpunkt entspricht etwa 16 Milliarden Euro).

Die Vorschläge im Einzelnen:

  • Der Bund, also der Steuerzahler, zahlt im Jahr 2023 zusätzliche 2 Milliarden Euro in den Gesundheitsfonds ein. Zusätzlich gewährt der Bund dem Fonds ein Darlehen von 1 Milliarde Euro.

  • Auch die Krankenkassen sollen an ihr Eingemachtes gehen. Die Finanzreserven werden mit einem kassenübergreifenden Solidarausgleich zur Stabilisierung der Beitragssätze herangezogen, heißt es in dem Gesetzentwurf. „Hierzu werden im Jahr 2023 die Finanzreserven der Krankenkassen, die abzüglich eines Freibetrags von 2 Millionen Euro 0,2 Monatsausgaben überschreiten, in 2 Stufen anteilig herangezogen und diese Mittel den Einnahmen des Gesundheitsfonds zugeführt.“

  • Für besonderen Ärger dürften die Pläne sorgen, der ambulanten Versorgung ans Portemonnaie zu gehen. So will der Minister die Neupatientenregelung kippen. Sie besagt, dass der Niedergelassene 10 Euro extrabudgetär erhält für jeden Patienten, den er erstmals behandelt.

  • Der Sparplan für die Klinken: Ab 2024 werden Pflegepersonalkosten nur noch dann ins Pflegebudget aufgenommen, wenn die Pflegenden qualifiziert sind und in der unmittelbaren Patientenversorgung auf bettenführenden Stationen eingesetzt werden.

  • Auch die Apotheker sehen schwereren Zeiten entgegen: Der Apothekenabschlag soll von derzeit 1,77 Euro auf 2 Euro erhöht werden. Lauterbach verspricht sich davon eine Ersparnis von jährlich 170 Millionen Euro.

Besonders die Arzneimittelhersteller bittet Lauterbach zur Kasse

Besonders bluten dürften die Arzneimittelhersteller. Bei ihnen sieht der Gesetzentwurf ein ganzes Bündel von Einsparungen vor:

  • So soll zum Beispiel das Preismoratorium um 4 Jahre verlängert werden statt, wie geplant, Ende des Jahres auszulaufen.

  • Außerdem erhebt Lauterbach in den Jahren 2023 und 2024 eine Solidaritätsabgabe von pharmazeutischen Unternehmen. Sie soll eine Ersparnis von 2 Milliarden Euro bringen.

  • Das Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz (AMNOG) soll weiterentwickelt werden: So erhalten Arzneimittel mit geringem oder nicht feststellbarem Nutzen „Vorgaben für Erstattungsbeträge“: Sie dürfen nicht mehr als 10% teurer sein als die Vergleichstherapie. Für Arzneimittel mit besonders hohem Nutzen hingegen sollen diese Vorgaben nicht gelten.

  • Weitere 50 Millionen Euro sollen eingespart werden, indem auch die Packungsgröße in die Erstattungsverhandlungen aufgenommen werden. So soll verhindert werden, dass Arzneimittel weiterhin weggeworfen werden müssen, weil die Packung für die vorgesehene Anwendung zu groß war.

  • Die Umsatzschwelle für Orphan Drugs wird von jährlich 50 Millionen Euro auf 20 Millionen Euro gesenkt. Dadurch greift die (umsatzorientierte) Nutzenbewertung früher. Erwartete Ersparnis: bis zu 20 Millionen Euro.

  • Die Krankenkassen erhalten einen 20-prozentigen Abschlag auf Medikamente, die in einer freien Kombination eingesetzt werden. Dies soll die Kassen um 250 Millionen Euro entlasten.

Kritik von allen Seiten

Der Gesetzentwurf ruft zahlreiche Kritiker auf der Plan. Der Präsident des Verbandes der forschenden Pharmaunternehmen, Han Steutel, kritisiert die Sparvorschläge aus Berlin: „Die Pharmaindustrie hat die Defizite der gesetzlichen Krankenversicherung nicht verursacht! Ihr Anteil an den Gesamtausgaben lag im letzten Jahrzehnt stabil bei 16%. Der Versuch, sie dennoch in eine Sanierungshilfe zu zwingen, wirkt nach wie vor willkürlich und treibt Juristinnen und Juristen eher die Sorgenfalten auf die Stirn.“

 
Die Pharmaindustrie hat die Defizite der gesetzlichen Krankenversicherung nicht verursacht! Han Steutel
 

Vor allem das Bestreben, das AMNOG zu einem „Mautsystem“ umzubauen, sei „hoch riskant“, sagte Steutel. Und er droht: Mit dem Gesetzentwurf riskiere Lauterbach „Marktrücknahmen von Arzneimitteln, die sich genauso wie Leistungskürzungen auswirken werden.“

 
Es kann und darf nicht sein, dass am Ende das enorme Engagement der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte bestraft wird, Neupatienten zusätzliche Termine anzubieten. Dr. Andreas Gassen
 

Der Vorstandsvorsitzende der KBV, Dr. Andreas Gassen, sagte: „Es kann und darf nicht sein, dass am Ende das enorme Engagement der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte bestraft wird, Neupatienten zusätzliche Termine anzubieten.“ Das Vertrauen der Ärzteschaft in die Politik sei „damit ein weiteres Malerschüttert.“

Der Präsident der Bundesärztekammer, Dr. Klaus Reinhardt, warnte vor „Leistungskürzungen durch die Hintertür. (…) Mit diesem Gesetz wird nicht nur bei den Kassenfinanzen gespart. Gespart wird hier vor allem am politischen Gestaltungswillen der Verantwortlichen. Statt eines schlüssigen Gesamtkonzepts zur finanziellen Stabilisierung des GKV-Systems, präsentiert die Politik nur Stückwerk“, sagte Reinhardt.

 
Gespart wird hier vor allem am politischen Gestaltungswillen der Verantwortlichen. Statt eines schlüssigen Gesamtkonzepts zur finanziellen Stabilisierung des GKV-Systems, präsentiert die Politik nur Stückwerk. Dr. Klaus Reinhardt
 

Der Ärztepräsident will stattdessen lieber die Steuerzahler, also die Versicherten, zur Kasse bitten: Der BÄK-Chef sprach sich dafür aus, den geplanten Bundeszuschuss in den Gesundheitsfonds von 2 Milliarden Euro auf 5 Milliarden Euro zu erhöhen. Außerdem regt die BÄK an, den Mehrwertsteuersatz auf Arzneimittel zu erhöhen.

Am heutigen Mittwoch soll im Bundesgesundheitsministerium eine Anhörung zu dem neuen Gesetz stattfinden.
 

Kommentar

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