Mehr als 8 h Sitzen ist schlecht fürs Herz. Aber in ärmeren Ländern scheint dies noch gefährlicher zu sein – liegt´s am Sport?

Nadine Eckert

Interessenkonflikte

11. Juli 2022

Eine große Studie mit mehr als 100.000 Teilnehmern bestätigt, dass langes Sitzen mit einem erhöhten Risiko für Mortalität und kardiovaskuläre Ereignisse einhergeht – das durch Sport teilweise ausgeglichen werden kann. Allerdings wurde die Assoziation nun erstmals in 21 Ländern untersucht. Ergebnis: Menschen in einkommensschwachen Ländern sind durch zu viel im Sitzen verbrachte Zeit offenbar besonders gefährdet.

„In der modernen Gesellschaft verbringen die Menschen immer mehr Zeit im Sitzen“, schreiben die Studienautoren um Sidong Li vom Nationalen Zentrum für Kardiovaskuläre Erkrankungen an der Chinesischen Akademie für Medizinische Wissenschaften in Peking in JAMA Cardiology  [1]. „Studien zeigen, dass zum Beispiel in den USA über das vergangene Jahrzehnt die im Sitzen verbrachte Zeit um fast 1 Stunde am Tag zugenommen hat.“

Evidenz stammt bisher fast ausschließlich aus Ländern mit hohem Einkommen

Die im Sitzen verbrachte Zeit sei in verschiedenen Studien mit einem erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität in Verbindung gebracht worden, ergänzen Li und ihre Kollegen. Allerdings stamme diese Evidenz fast ausschließlich aus Ländern mit hohem Einkommen und China.

 
Tatsächlich kaprizieren sich viele Studien auf Europa und Nordamerika. So passiert es schnell, dass man den Rest der Welt aus dem Blick zu verliert. Prof. Dr. Ulrich Laufs
 

Seniorautor der Studie ist Dr. Salim Yusuf vom Population Health Research Institute, Hamilton Health Sciences & McMaster University, Hamilton, Kanada. „Yusuf ist bekannt dafür, in seinen Arbeiten immer die globale Perspektive zu betonen“, kommentiert Prof. Dr. Ulrich Laufs, Direktor der Klinik und Poliklinik für Kardiologie am Universitätsklinikum Leipzig, auf Nachfrage von Medscape. „Das ist eine wichtige Botschaft, denn tatsächlich kaprizieren sich viele Studien auf Europa und Nordamerika. So passiert es schnell, dass man den Rest der Welt aus dem Blick zu verliert.“

Teilnehmer aus 21 Ländern mit unterschiedlichen Einkommensniveaus

Ob in Ländern mit mittlerem und geringem Einkommen eine vergleichbare Assoziation zwischen zu viel Sitzen und kardiovaskulärer Risikoerhöhung zu beobachten ist, untersuchten Li und ihre Koautoren anhand von Daten der Prospective Urban Rural Epidemiology-Studie. In diese populationsbasierte Kohortenstudie wurden Personen im Alter von 35 bis 70 Jahren aus 21 Ländern mit hohem, mittlerem und geringem Einkommen aufgenommen und median 11,1 Jahre nachbeobachtet.

Die täglich im Sitzen verbrachte Zeit sowie die körperliche Aktivität gaben die Studienteilnehmer auf Fragebögen selbst an. Dass es sich um eigene Angaben der Teilnehmer handele, müsse bei der Interpretation der Ergebnisse berücksichtigt werden, schreiben die Studienautoren und merkt auch Laufs an.

Der primäre Endpunkt der Studie war eine Kombination aus Gesamtmortalität und schweren kardiovaskulären Ereignissen: kardiovaskuläre Mortalität, Herzinfarkt, Schlaganfall, Herzversagen.

Mehr als 8 Stunden im Sitzen sind mit deutlicher Risikoerhöhung assoziiert

Unter den 105.677 Studienteilnehmenden, die im Schnitt 50,4 Jahre alt waren, kam es im Verlauf von 11,1 Jahren zu 6.233 Todesfällen und 5.696 schweren kardiovaskulären Ereignissen: 2.349 Herzinfarkte, 2.966 Schlaganfälle, 671 Fälle von Herzversagen und 1.792 kardiovaskuläre Todesfälle.

Im Vergleich zur Referenzgruppe (weniger als 4 Stunden Sitzen am Tag) war mehr Zeit im Sitzen (mindestens 8 Stunden am Tag) mit einem signifikant erhöhten Risiko für den kombinierten Endpunkt assoziiert (HR 1,19; 95%-KI 1,11-1,28; p (Trend) <0,001). Dies galt ebenfalls für die Gesamtmortalität (HR 1,20; 95%-KI 1,10-1,31; p (Trend) <0,001) und schwere kardiovaskuläre Ereignisse (HR 1,21; 95%-KI 1,10-1,34; p (Trend) <0,001).

Sitzen ist offenbar besonders in Ländern mit niedrigerem Einkommen gefährlich

Eine Stratifizierung der Länder nach Einkommensniveau ergab eine signifikante Interaktion zwischen dem Einkommensniveau und der täglich im Sitzen verbrachten Zeit hinsichtlich des kombinierten Endpunkts und der Gesamtmortalität.

Die Assoziation mit dem kombinierten Endpunkt war in Ländern mit geringem und mittlerem Einkommen signifikant stärker ausgeprägt: Bei einer im Sitzen verbrachten Zeit von mindestens 8 Stunden am Tag betrug die Hazard Ratio 1,29 (95%-KI 1,16-1,44) – verglichen mit Ländern mit hohem oder hohem mittlerem Einkommen (HR 1,08; 95%-KI 0,98-1,19; p (Interaktion) =0,02).

Keine Assoziation in Nordamerika und Europa bei Stratifizierung nach Einkommensniveau?

In Ländern mit hohem und hohem mittlerem Einkommen habe die Assoziation zwischen der im Sitzen verbrachten Zeit und dem kombinierten Endpunkt keine statistische Signifikanz erreicht, berichten die Autoren. „Bei einer Stratifizierung nach geographischen Regionen stellten wir fest, dass längere Zeiten im Sitzen in allen Regionen mit dem kombinierten Endpunkt assoziiert waren – mit Ausnahme von Nordamerika und Europa“, schreiben sie.

 
Daraus darf man allerdings nicht schlussfolgern, dass langes Sitzen in Nordamerika oder Europa nicht gesundheitsschädlich ist. Prof. Dr. Ulrich Laufs
 

„Daraus darf man allerdings nicht schlussfolgern, dass langes Sitzen in Nordamerika oder Europa nicht gesundheitsschädlich ist“, betonte Laufs.

Körperliche Aktivität scheint den Effekt des Sitzens abmildern zu können

Im Vergleich zu Studienteilnehmern, die weniger als 4 Stunden am Tag saßen und körperlich sehr aktiv waren, hatten Studienteilnehmer, die mindestens 8 Stunden am Tag saßen, ein um 17 bis 50% höheres assoziiertes Risiko für den kombinierten Endpunkt. Die breite Spanne der Risikoerhöhung ergab sich aus dem körperlichen Aktivitätsniveau:

 
Die Studie zeigt, dass bei Personen, die viel Sport machen, die sitzende Zeit immer noch eine Relevanz für die kardiovaskuläre Morbidität und die Mortalität hat, der negative Effekt aber quantitativ weniger stark ausgeprägt ist. Prof. Dr. Ulrich Laufs
 

„Die Studie zeigt, dass bei Personen, die viel Sport machen, die sitzende Zeit immer noch eine Relevanz für die kardiovaskuläre Morbidität und die Mortalität hat, der negative Effekt aber quantitativ weniger stark ausgeprägt ist“, sagte Laufs.

Für den Ausgleich sollte es tatsächlich sportliche Aktivität sein

Die Autoren betonen, dass sich der positive, ausgleichende Effekt der körperlichen Aktivität über verschiedene Intensitätsniveaus erstreckte, aber es musste sich um Sport handeln: „Zeit im Sitzen durch Sport zu ersetzen war mit einem stärkeren Effekt (HR 0,95) assoziiert als Zeit im Sitzen durch andere, nicht der Erholung dienende körperliche Aktivität zu ersetzen (HR 0,98)“, berichten sie.

Für die Autoren um Li liegt darin auch eine Chance: „Die im Sitzen verbrachte Zeit zu reduzieren und gleichzeitig das Niveau körperlicher Aktivität anzuheben, könnte ein wichtige Strategie sein, um weltweit die Last an vorzeitigen Todesfällen und kardiovaskulären Erkrankungen zu senken“, schlussfolgern sie.

Sportliche Aktivität für Unterschiede zwischen Ländern verantwortlich?

„Die Studie bestätigt, dass die im Sitzen verbrachte Zeit ein negativer Prädiktor ist“, so Laufs. „Dies scheint aber vor allem bei körperlicher Inaktivität der Fall zu sein. Es besteht die Hoffnung, dass man durch gezielte sportliche Aktivität einen Teil des negativen Effekts einer sitzenden Lebensweise aufheben kann.“

 
Es besteht die Hoffnung, dass man durch gezielte sportliche Aktivität einen Teil des negativen Effekts einer sitzenden Lebensweise aufheben kann. Prof. Dr. Ulrich Laufs
 

Ob die sportliche Aktivität – zumindest teilweise – für die Unterschiede zwischen den Ländern verantwortlich ist, lässt sich auf Grundlage der Studie nicht beantworten. Allerdings spricht einiges dafür. „Wir wissen aus anderen Arbeiten, dass sportliche Aktivität mit dem Bildungsniveau und dem Einkommen korreliert, dies könnte hier eine Rolle spielen“, so Laufs. Auch kulturelle Unterschiede könnten dazu beitragen, dass Sport weniger Bedeutung zugemessen werde.

Interessant wäre es deshalb, so Laufs weiter, noch zu untersuchen, ob es innerhalb der Länder mit niedrigerem Einkommen Unterschiede zwischen Menschen mit niedrigerem und höherem sozioökonomischem Status gibt.
 

Kommentar

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