Ärger über Cannabis-Bilanz: Wie Ärzte offiziell therapieren und was im Verborgenen geschieht – Kritik an BfArM-5-Jahres-Daten

Christian Beneker

Interessenkonflikte

7. Juli 2022

Seit 5 Jahren dürfen Ärztinnen und Ärzte ihre Patienten auf GKV-Kosten mit Cannabis-Arzneien versorgen. Auch dann, wenn die Mediziner für die entsprechenden Erkrankungen keine zugelassenen Fertigarzneimittel verwenden. Gemeint sind Cannabisblüten und -extrakte, Nabilon und Sativex. 2017 wurde das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) mit einer Begleiterhebung beauftragt.

Nun liegen die Ergebnisse vor. Die Begleiterhebung dient vor allem dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) als Entscheidungsgrundlage für eine mögliche Kostenübernahme weiterer Therapieansätze mit Cannabinoiden.

Eigentlich waren alle verordnenden Ärztinnen und Ärzte verpflichtet, anonym Daten zu liefern. Aber die Ärzteschaft nahm es mit der Pflicht nicht so genau. Das BfArM hat für den fraglichen Zeitraum anhand von Kassendaten rund 70.000 Cannabis-Therapien errechnet, erhielt aber nur 16.809 Datensätze zur Auswertung. Trotzdem sei die Zahl der Datensätze „relevant“ so das BfArM.

Cannabis wurde vor allem für die Behandlung von Schmerzen verordnet

Laut Begleiterhebung wurden vor allem Schmerzen mit Cannabisarzneien behandelt (76,4%), gefolgt von Spastiken (9,6%) und Anorexie (5,1%). In 14,5% der Fälle lag eine Tumorerkrankung vor und in 5,9% eine multiple Sklerose. Die Patientinnen und Patienten wurden im Schnitt bereits seit 8 Jahren wegen ihrer Symptomatik behandelt.

In den meisten Fällen (62,2%) verordneten die Ärztinnen und Ärzte den Wirkstoff Dronabinol, zum Beispiel als in der Apotheke hergestellte Rezeptur oder als Fertigarznei, gefolgt von Cannabisblüten (16,5%) und -extrakten (13%). Allerdings widersprechen diese Zahlen den Kassendaten. „Insbesondere die Verordnung von Cannabisblüten dürfte in der Praxis einen deutlich höheren Anteil ausmachen“, kommentiert das BfArM.

Leichte Nebenwirkungen häufig

Typische Nebenwirkungen wie Müdigkeit, Schwindel, Schläfrigkeit und Übelkeit traten bei der Verwendung aller Cannabismittel häufig auf. Schwerwiegende Nebenwirkungen wie Depression (1,2%), Halluzinationen (0,7%) und Sinnestäuschungen (0,6%) dagegen waren selten.

In 70% der Fälle besserte sich die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten durch die Cannabis-Therapie. Patienten, die Cannabis-Blüten erhielten, bewerteten den Therapieerfolg grundsätzlich höher, brachen die Therapie seltener ab und berichteten seltener von Nebenwirkungen.

Besorgt weist das BfArM hier auf den hohen THC-Gehalt der Blüten hin: 249 Milligramm pro mittlerer Tagesdosis im Unterschied zu den übrigen Mitteln mit rund 15 mg pro mittlerer Tagesdosis. Auch der Umstand, dass Cannabisblüten vor allem an junge Männer verschrieben wurden, macht dem BfArM wegen der höheren Affinität junger Männer zum Drogenkonsum Sorgen. „Ärztinnen und Ärzte sollten die Gefahr von Missbrauch und Abhängigkeit bei der Therapieplanung mit Cannabisblüten beachten“, so das BfArM.

 
Ärztinnen und Ärzte sollten die Gefahr von Missbrauch und Abhängigkeit bei der Therapieplanung mit Cannabisblüten beachten. BfArM
 

Welche Fachrichtungen stellen am meisten Rezepte aus?

Spitzenverordner waren laut BfArM-Erhebung die Anästhesiologen gefolgt von den Hausärzten und Neurologen. Allerdings bedauert das BfArM: Weder konnte (wegen der Anonymisierung aller Daten) geprüft werden, ob die Ärztinnen überhaupt ihrer Pflicht zur Meldung der Daten nachgekommen sind, noch konnte bei fraglich fehlerhaften Daten eine Klärung erfolgen.

Tatsächlich haben die Krankenkassen auch hier andere Daten veröffentlicht als das BfArM. Danach sind die Hausärztinnen die Spitzenverordner. Dies lasse vermuten, dass Anästhesisten womöglich konsequenter an der eigentlich verpflichtenden Begleiterhebung teilgenommen hätten als die niedergelassenen Ärzte, wodurch es im Bereich der Allgemeinmedizin zu einer Untererfassung gekommen sei.

Fachleute kritisieren die geringe Aussagekraft der Erhebung

Prof. Frank Petzke, Leiter Schmerzmedizin, Klinik für Anästhesiologie, Universitätsmedizin Göttingen (UMG) weist auf zukünftig halbwahre Verordnungen hin: „Dass Schmerz die Indikation ist, die wahrscheinlich am häufigsten von den Kassen akzeptiert wird, verleitet natürlich dazu, den Einsatz von medizinischem Cannabis auch vornehmlich im Bereich Schmerz zu begründen“, so Petzke. „Antragssteller neigen jetzt oder in Zukunft vielleicht eher dazu, einen Antrag im Bereich Schmerz zu stellen.“

Mehrere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kritisieren den geringen Rücklauf. Der Palliativmediziner Prof. Winfried Meißner, von der Klinik für Anästhesiologie und Intensivtherapie, Universitätsklinikum Jena, kritisiert die „offenbar fehlende Repräsentativität“. Aussagen zu Effektivität und Nebenwirkungen seien deshalb kaum möglich. „Es ist an der Zeit, dass die medizinische Zulassung und Erstattung durch die Solidargemeinschaft von Cannabinoiden auf der Basis hochwertiger Studien erfolgt – wie bei allen anderen Medikamenten – und das derzeitige Prozedere eine Übergangslösung bleibt“, sagt Meißner.

Prof. Kirsten Müller-Vahl, Oberärztin der Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie an der Medizinische Hochschule Hannover (MHH), lässt kein gutes Haar an der BfArM Untersuchung. „Die Aussagekraft des Berichts ist leider extrem gering. Es steht wenig Neues drin, das wir nicht vorher schon wussten. Der Datensatz ist unvollständig und die Methoden schwach“, so Müller-Vahl.

 
Die Aussagekraft des Berichts ist leider extrem gering. Prof. Kirsten Müller-Vahl
 

Kostenübernahmeanträge etwa bei psychiatrischen Indikationen für die Cannabis-Therapie würden anders als bei Schmerzdiagnosen sehr häufig abgelehnt – „mit der Begründung, die Leiden seien nicht schwerwiegend genug, es stünden andere Therapien zur Verfügung oder es fehle an Evidenz für die Behandlung“, kritisiert Müller-Vahl.

Dr. Oliver Tolmein, Fachanwalt für Medizinrecht, weist auf die Stigmatisierung von Cannabis hin. „Viel zu lange wurde Cannabis ausschließlich als Droge klassifiziert und der Konsum beziehungsweise der Anbau strafrechtlich verfolgt. Es gibt nur wenige Ärzte, die über ausreichend medizinische Expertise verfügen mit Cannabis zu therapieren.“ Prof. Dr. Ursula Havemann-Reinecke, Professorin für Psychiatrie mit Schwerpunkt Suchtmedizin und Senior Scientist, Universitätsmedizin Göttingen.

Die Psychiaterin Prof. Ursula Havemann-Reinecke von der Uni Göttingen, erklärt, die BfArM-Datenerhebung inspiriere zu „klinischen Placebo.-kontrollierten, aber auch experimentellen Forschungsvorhaben.Aber die Frage bleibe, wer diese Forschungsvorhaben bezahlen solle. „Wichtig ist, dass es wissenschaftliche, nicht finanziell und interessensgeleitete unabhängige Forschungsprogramme gibt, die derartige Forschungen finanziell unterstützen“, so Havemann-Reinecke. „Leider ist dies aktuell nicht der Fall.“

„Wir hatten von Anfang das Gefühl, dass wir nicht wissen, warum Cannabisblüten so gehypt wurden und es ist immer noch nicht wirklich klar, welchen Vorteil die Blüten, bei denen die Hauptwirkstoffe mit einer Vielzahl von anderen Substanzen vorliegen, bieten“, sagt Prof. Dr. Lukas Radbruch, Direktor der Klinik für Palliativmedizin, Universitätsklinikum Bonn. Die Blüten erzeugen dem Bericht zufolge nicht weniger Nebenwirkungen als andere Cannabismedikamente. Auch wird die Wirksamkeit von den Behandlern als sehr hoch beschrieben. Da es aber keine klinische Studie sei, wisse man nicht, ob das Projekt einen systematischen Fehler habe, also ob nur gemeldet wurde, wenn es funktioniert. Er kritisiert, dass „es keine Zahlen zur Abhängigkeit in dem Bericht gibt".

Weiter sagt Radbruch: „Als Therapeut sieht man ja gern mal einen guten Effekt. Daraus kann man aber nur wenig zur Wirkung von Cannabis schließen. In der Schmerztherapie können mit Cannabis durchaus Erfolge erzielt werden, wobei hier nie sehr eindeutig klar wird, ob durch das Cannabis tatsächlich der Schmerz gelindert wird oder der euphorisierende Effekt so manches übertüncht. Zudem wird grundsätzlich nicht so recht klar gemacht, dass Cannabis kein harmloses Medikament ist, kein Allheilmittel, das man breitflächig unter die Leute streuen sollte.“

 

Kommentar

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