800.000 Tote in 20 Jahren – die Opioid-Krise in den USA hat in den vergangenen beiden Jahrzehnten unzähligen Menschen in den Vereinigten Staaten das Leben gekostet. Allein in den Jahren 2011 bis 2016 stieg die Anzahl der Opioid-bezogenen Todesfälle in den USA um 75%, von 73,3 pro 1 Millionen Einwohner auf 131,0 pro 1 Million Einwohner. Diese Zahlen zitiert der Opioidreport 2022 des Bremer „socium“, Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik, in einer aktuellen Erhebung [1].
Die Forschungsfrage der Bremer Wissenschaftler lautete: Ist so eine Entwicklung wie in den USA auch in Deutschland möglich?
Um diese Frage zu beantworten, haben sie unter anderem Daten der Handelskrankenkasse (hkk) ausgewertet. Immerhin lag der Opioid-bezogenen Todesfälle in Deutschland im Jahr 2016 bei 9,5 pro 1 Million Einwohner. Das sind zwar deutlich weniger Opioid-Opfer als in den USA. Allerdings zeigte sich auch: Bei den Pro-Kopf-Verordnungen lag Deutschland zwischen 2014 und 2016 gleich hinter den USA.
Ein Land in Narkose
2015 stellte man in den USA Erstaunliches fest: dass die Lebenserwartung zurückging. Untersuchungen zeigten, dass dieser Effekt auf vermehrte Suizide und mehr Drogentote zurückzuführen war. Das schreibt Andrea Ernst vom Bremer socium.
„Die Todesrate durch Überdosierungen verdreifachte sich zwischen 1999 und 2017, die durch Opioid-Überdosierungen versechsfachte sich im gleichen Zeitraum (…). Mitte 2017 starben in den USA jeden Tag etwa 140 Menschen an den Folgen einer Schmerzmittelsucht, die sie nicht mehr kontrollieren konnten“, so Ernst.
Im selben Jahr rief Präsident Donald Trump den nationalen Gesundheitsnotstand aus. Zwar sank darauf die Sterberate. „Doch die Corona-Epidemie machte die beginnende Erholung unerwartet schnell wieder zunichte“, so Ernst.
Getriggert wurde die verheerende Entwicklung in den USA besonders durch die Firma Purdue Pharma, den Hersteller des Opioids OxyContin. Mitte der 1990er-Jahre brachte Purdue das Mittel auf den Markt.
Purdue schickte zugleich Pharmavertreter zu Ärztinnen und Ärzten, die bereit waren, das Schmerzmittel mit leichter Hand zu verschreiben. Diese „hoch aggressive Marketingstrategie“, wie die Bremer Wissenschaftler schreiben, verfing: offenbar auch durch die Verharmlosung von Risiken, etwa durch falsche Abhängigkeitsangaben.
So gaben viele Ärztinnen und Ärzte ihren Patienten zum Beispiel nach Operationen viel zu leichtfertig die Rezepte mit OxyContin und verschrieben immer höhere Dosen. Oder sie verschrieben das Mittel gegen chronische Schmerzen. In der Folge wurden immer mehr Menschen abhängig von dem Schmerzmittel. Als das Patent für OxyContin auslief, wechselten die Süchtigen die Droge und konsumierten fortan vermehrt Heroin.
2019 liefen bereits 1.600 Klagen gegen Purdue Pharma. Ein Vergleich und die Zahlung von 4,5 Milliarden Euro wurde Ende 20121 von einer Bundesrichterin gekippt. „Die vollständige juristische Aufarbeitung der ‚Droge-Epidemie auf Rezept‘, wird also noch dauern“, schreibt Ernst.
Spitzenreiter Fentanyl
In Deutschland wäre diese Entwicklung kaum möglich, schreiben die Bremer Forscher in ihrem Bericht. Allein deshalb nicht, weil hierzulande die Opioid-Analgetika nur auf Betäubungsmittelrezepten verschrieben werden dürfen. Die Vordrucke werden von der Bundesopiumstelle an den jeweiligen Arzt personenbezogen ausgegeben.
Trotzdem geben die Bremer Wissenschaftler nicht einfach Entwarnung. Denn auch in Deutschland werden immer mehr Opioid-Analgetika verschrieben: Von 1996 bis 2020 stiegen die Verschreibungen von Opioiden von 129 Millionen definierten Tagesdosen (DDD) auf 446 Millionen DDD. Das bedeutet eine Zunahme um das 2,5-Fache. Offenbar werden die starken Schmerzmittel immer häufiger auch an Patienten mit Rückenschmerzen oder Arthrose verschrieben, anstatt – wie eigentlich vorgesehen – an Palliativ- oder Krebspatienten.
Vor allem Fentanyl sei ein „kritischer Wirkstoff“, schreiben die Wissenschaftler. Das Opioid wirkt 100-mal stärker als Morphin. Tatsächlich wurden 2020 genau 51,7 Millionen DDD verschrieben. Damit lag Fentanyl als Spitzenreiter weit vor den Wirkstoffen Hydromorphon mit 32,8 Millionen DDD und Oxycodon mit 23,2 Millionen DDD.
Die Bremer Forscher schreiben überdies, dass es vor allem Hausärztinnen und Hausärzte sind, die Fentanyl und andere Opioide verschreiben. 95,3% aller Fentanyl-Verordnungen im Jahr 2020 kamen von Hausärzten. Fachärzte hingegen verordnen weitaus vorsichtiger: So verschrieben etwa Anästhesisten im selben Zeitraum nur 2,4% allen verordneten Fentanyls.
Experten raten: Sorgfältig verordnen
Auch die Darreichungsform von Fetanyl hat offenbar einen wesentlichen Einfluss. Der Boom der Opioide habe erst da begonnen, als Fentanyl immer häufiger als Schmerzpflaster verordnet wurde, sagte der inzwischen verstorbene Arzneimittelexperte Prof. Dr. Gerd Glaeske, Leiter der Bremer Arbeitsgruppe am socium, in einem Fernsehbeitragdes Senders ARTE. Wahrscheinlich spielt die leichte und praktische Anwendung des Pflasters eine Rolle.
Die Schmerzpflaster waren eigentlich für Palliativ- oder Tumorpatienten gedacht, die nicht mehr schlucken konnten. Inzwischen werden sie aber immer häufiger an Patienten mit nicht-tumorbedingten Schmerzen verschrieben. „Wir müssen an die Ärztinnen und Ärzte appellieren, diese Mittel in der richtigen Anwendung, in der richtigen Indikation anzuwenden“, so Glaeske. „Wenn ich aber bei allen möglichen Schmerzen Opioide einsetze, dann kann es gut sein, dass wir eine Situation bekommen wie in den USA. Vielleicht nicht in diesem Ausmaß. Aber in die Richtung, dass zu viele Menschen abhängig werden von diesen Opioiden.“
Die Befürchtung ist nicht aus der Luft gegriffen. In den Jahren 2019 und 2020 starben in der Stadt Schleswig 4 drogenabhängige Männer an Überdosen. Sie hatten sich laut Polizeidirektion Flensburg illegal Fentanyl-Pflaster beschafft und appliziert.
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Diesen Artikel so zitieren: Opioid-Epidemie in Deutschland? Report findet vor allem Fentanyl sei „kritischer Wirkstoff“ und oft falsch eingesetzt - Medscape - 6. Jul 2022.
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