MEINUNG

„Liebe Ärzt*innen …“: Kommt das Gendern in der Medizinliteratur? Unser Autor schildert die Probleme. Wie offen sind Sie dafür?

Markus Vieten

Interessenkonflikte

4. Juli 2022

Lange habe ich mich aus der Gender-Affäre gezogen, indem ich seit den 1990er-Jahren in meinen eigenen Büchern und in Titeln anderer Autoren und Autorinnen, die ich in unterschiedlicher Funktion bearbeitet habe, im Vorwort diese beiden Sätze eingebaut habe:

„Um eine optimale Lesbarkeit zu gewährleisten haben wir uns dazu entschieden, „Arzt“ und „Patient“ in der männlichen Form erscheinen zu lassen. Selbstverständlich sind immer auch „Ärztinnen“ und „Patientinnen“ mitgemeint.“

Diese Alibi-Sätze im Vorwort hielten wir für ausgesprochen progressiv – wir dachten auch die andere Hälfte der Menschheit mit. Aber mehr ging einfach nicht. Wir konnten ja schlecht die ganze Sprache ändern oder uns neue Formen ausdenken!

Die meisten Boomer werden sich wohl noch an Rita Süßmuth erinnern. Sie weigerte sich als Gesundheitsministerin, 1987 ein Gesetz zu unterschreiben, in dem es hieß:

„Wenn der Arzt im Praktikum schwanger ist, hat er Urlaub nach den Regelungen des Mutterschutzgesetzes (…).“

Darüber lacht inzwischen wohl jeder – war aber nicht immer so. Zweifellos sind wir heute ein gutes Stück weiter, und das nicht nur in Deutschland, sondern in vielen Ländern Europas, Lateinamerikas, in Israel und den USA und selbst in manchen arabischen Staaten gibt es entsprechende Bewegungen. Das zeigt, die Erkenntnis, dass hier seit Jahrtausenden etwas ungerecht läuft, breitet sich aus.

So reagierten andere Länder auf die sprachlichen Herausforderungen

Doch mit der Beseitigung dieser Ungerechtigkeit und ihrer Folgen tut man sich allerorts schwer. Das ist aber kein Wunder, bedenkt man wie lang und wie tief sich diese Sprachgewohnheiten in die Kulturen eingebrannt haben. In Lateinamerika versuchen es jetzt junge Menschen mit einem neutralen „amigues“ statt „amigos“ oder „amiga“. Klingt für mich nicht problematisch, eigentlich sogar elegant, aber ich kann auch kaum Spanisch.

Markus Vieten

In Schweden, wo man bei vielen Substantiven nicht zwischen weiblicher und männlicher Form unterscheidet, wurde in die jeweiligen Wörterbücher ein 3., neutrales Geschlechtspronomen aufgenommen. Statt nur „han“ (er) oder „hon“ (sie) kann man jetzt auch ein neutrales „hen“ verwenden, wie in ähnlicher Weise auch in Finnland.

Die englischsprachigen Länder haben diese Probleme bekanntermaßen nicht, aber auch dort bemüht man sich in manchen Gesellschaftsschichten darum, die „mankind“ durch die „people“ oder die „humanity“ und „man“ (also das deutsche „man“) durch „one“ zu ersetzen.

Rezeptvorschläge für die deutsche Sprache

Und was machen wir? Wir versuchen es mit Gender-Sternchen, Binnen-I oder Doppelpunkt.

Bei meiner Arbeit mit Medizintexten werde auch ich zunehmend mit diesem Thema konfrontiert. Als das erste Buch vor mir lag, das es redaktionell mit Blick auf Geschlechtergerechtigkeit zu bearbeiten galt, schreckte ich zunächst noch etwas zurück.

Persönlich würde ich wohl eher das Sternchen vorziehen. Das Auge muss es gar nicht mehr „lesen“, sondern das Hirn erfasst direkt, worum es geht. Beim Binnen-I könnte es manchmal zu kurzen Verwechslungen mit dem „l“ (dem kleinen L) kommen und das Lesen ein wenig stören.

Die 4 Autoren jenes Buches aber hatten sich etwas besonders Abwechslungsreiches ausgedacht: In jedem der 16 Kapitel des Buches wurde konsequent für die Protagonisten der Texte eine andere der 4 möglichen Kombinationen verwendet:

  1. Patient/Therapeut

  2. Patientin/Therapeut

  3. Patient/Therapeutin

  4. Patientin/Therapeutin

So kam jede Kombination in dem gesamten Buch 4-mal an die Reihe. Ich hielt das für eine äußerst elegante und clevere Lösung. Aber ließ sich das auch in anderen Büchern umsetzen?

Nach dem Lesen wurde mir etwas übel

Ein anderes Buch übernahm ich, als bereits ein Großteil der Texte geschrieben war, zum Teil auch schon begonnen, bevor im vergangenen Jahr die Diskussion zu dem Gendern an Fahrt aufnahm. So war zum Teil gegendert worden, zum Teil auch nicht, und das Gendern selbst auch nach Gutdünken der Schreibenden. Es fehlte an einem einheitlichen Konzept, was auch das folgende Ergebnis hervorbrachte:

„Dix Hallpike-Test (DHT): Für den Test des linken posterioren Bogenganges sitzt der/die Patient*in mit ausgestreckten Beinen am linken Rand der Bettkante. Das Kopfteil ist 30° tiefgestellt. Der Kopf wird 45° zur linken Seite gedreht. Der/die Untersucher*in stabilisiert den Kopf, indem er/sie seinen/ihren rechten Unterarm an die linke Sapula legt und den Hinterkopf hält. Die linke Handkante stützt auf dem Schlüsselbein auf und stabilisiert mit dem Daumen das Kinn. Der/die Patient*in darf sich am linken Arm der/des Therapeut*in halten. Der/die Patient*in wird aufgefordert, beim folgenden Test die Augen geöffnet zu halten und zu sagen, wenn der Schwindel auftritt. Dann wird der/die Patient*in einer zügigen Bewegung nach hinten gelegt und beurteilt, ob ein Nystagmus auftritt.“

Nach dem Lesen war mir ein wenig schwindelig – und auch etwas übel … So ging das nicht. Wir brauchten ein einheitliches Konzept, es wurde verhandelt. Schließlich kam es zu einer Kompromissformel: In vielen Kapiteln gab es längere Fallgeschichten mit handelnden Personen, die auch Namen hatten. Diese Fälle wurden nach dem Muster aus dem zuvor erwähnten Buch mit sich abwechselnden Geschlechterrollen ausgestattet. Im übrigen Text wurde dann eine bunte Mischung aus Gender-Sternchen, verschiedenen Umschreibungen (z.B. „Betroffene“ statt „Patient*innen“ oder „die kranke Person“) und auch gelegentlichen Ausschreibungen gewählt („Die beteiligten Ärzte und Ärztinnen waren sich einig…“). Es fühlte sich zunächst alles etwas fremd an, aber am Ende erkannte ich auch, dass dies auch eine Möglichkeit wäre …

Wahrnehmung hat sich schon verändert

Bei meiner täglichen Arbeit mit Medizintexten ist mir seit diesen Arbeiten aufgefallen, dass ich inzwischen häufiger über ein grundlos verwendetes generisches Maskulinum stolpere als über die neuen Formulierungen „Studierende“ oder „Forschende“. Diese veränderte Wahrnehmung hatte ich nach so kurzer Zeit nicht erwartet, obwohl ich gegenüber dem gesamten Thema grundsätzlich aufgeschlossen bin.

Sicherlich ist es hilfreich, wenn man selbst zu der inneren Überzeugung gelangt ist, dass die Zeit reif ist, sich auf den Weg einer gendergerechten Schreib- und Sprechweise zu machen, auch wenn er vermutlich lang und holprig sein wird.

Offenheit statt Grabenkämpfe

Aber – um in dem Bild zu bleiben – ob wir gutgelaunt einen sonnigen Pfad voller bunter Ideen und neuer Möglichkeiten beschreiten, oder ob wir uns auf einem tristen Weg wegen des Regens die Kapuze tief ins Gesicht ziehen und rechts und links nichts mehr wahrnehmen, bleibt uns selbst überlassen. Wer sagt denn, dass das Thema grimmige Grabenkämpfe auf beiden Seiten erfordert!?

Manch einer mag auch der Meinung sein, wir hätten größere Probleme. Das stimmt! Aber an einem vollen Arbeitstag mit zig kranken Menschen, nachdem man dann die Tochter vom Volleyball abgeholt, die E-Mails gecheckt und sich mit den Französisch-Problemen des Sohns beschäftigt hat, schafft man es doch auch immer noch, sich später die Zähne zu putzen. Muss eben sein!

„Die Gewalt einer Sprache zeigt sich nicht darin, dass sie das Fremde abweist, sondern dass sie es verschlingt“ (Goethe). Nun, wenn man bedenkt, dass ein – zugegeben konstruierter – Allerweltssatz wie „Auf der Nase der Giraffe tanzen und schmusen ungeniert die Schmetterlinge“ nicht ein einziges „urdeutsches“ Wort (außer „auf“ und Artikel) enthält, erahnt man, was er meinte. Hier wurden sprachlich immerhin 5 Kulturen „verschlungen“: Die Nase kommt aus dem Lateinischen, die Giraffe aus dem arabischen Sprachraum, tanzen kommt aus Frankreich und schmusen aus dem jüdischen Kulturkreis. Und Schmetterlinge? Was meinen Sie? Slawisch.

Angesichts dessen kann es doch nicht so schwierig sein, mit simplen Mitteln wie Sternchen, Doppelpunkt, Binnen-I oder was uns sonst noch einfällt, alle Menschen beider Geschlechter einzubeziehen und den ihnen zustehenden Platz in Schrift und Sprache einzuräumen, damit zukünftig Alibi-Sätze im Vorwort ein Relikt aus dem letzten Jahrhundert bleiben.

Ich würde mir wünschen, dass alle Beteiligten – auch im Medizinbereich –  mehr Freude am Experiment mit neuen Formen haben. Die Diskussion steht immer noch am Anfang.

Auch wir bei Medscape nähern uns dem Thema an. Gern würden wir ihre Meinung dazu erfahren. Bitte teilen Sie uns diese in den Kommentaren mit.

Über den Autor

Markus Vieten ist Arzt und freier Autor, Redakteur und Übersetzer medizinischer Fachliteratur. In diesen Funktionen arbeitet er bereits seit vielen Jahren für Medscape. Im Internet: http://www.markusvieten.de
 

Kommentar

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