Nach Schock-Gerichtsurteil in den USA: „Abtreibung wird tödlicher“ – Pläne der Bundesstaaten, Gegenmaßnahmen und Studiendaten

Michael van den Heuvel

Interessenkonflikte

29. Juni 2022

Während Deutschland am 24. Juni den Paragrafen 219a des Strafgesetzbuchs gestrichen hat und damit Werbeverbote für Schwangerschaftsabbrüche aufhebt, kippt der oberste US-Gerichtshof nahezu zeitgleich das bisher Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch. Er ist mehrheitlich in republikanischer Hand. 

„Die Verfassung gewährt kein Recht auf Schwangerschaftsabbrüche“, schrieb der Supreme Court. Landesweite Gesetze, die Abtreibungen regeln, gibt es nicht. Vielmehr entscheidet jeder Bundesstaat selbst, welche Möglichkeiten Frauen haben. 

Die noch von Barack Obama berufenen Richter Sonia SotomayorElena Kagan und Stephen Breyerschrieben in einer Erklärung, das Urteil bedeute, dass „eine Frau ab dem Moment der Befruchtung keinerlei nennenswerte Rechte hat“. 

 
Die Verfassung gewährt kein Recht auf Schwangerschaftsabbrüche. Supreme Court  
 

Recht auf Abtreibung: US-Bundesstaaten klaffen weiter denn je auseinander 

Zum Hintergrund: Im Jahr 1973 entschieden Richter in dem oft zitierten Urteil „Roe v. Wade“, dass eine Frau ihre Schwangerschaft grundsätzlich abbrechen darf. Vor dem aktuellen Urteil waren Eingriffe mindestens bis zur Lebensfähigkeit des Fötus, sprich bis zur 24. Woche, legal: unter anderem ein Ergebnis des Urteils „Planned Parenthood v. Casey“ aus 1992. 

„Die Hälfte [aller US-Staaten] wird recht restriktive Abtreibungsgesetze bekommen, und etwa die Hälfte wird den Status quo weitgehend beibehalten“, so die Einschätzung von Prof. Dr. Ron Allen. Er ist Experte für Verfassungsrecht und Professor für Recht an der Northwestern University. „Ich vermute, dass ein Großteil der Bevölkerung in Staaten leben wird, welche den Status quo beibehalten werden […].“ 

 
Die Hälfte [aller US-Staaten] wird recht restriktive Abtreibungsgesetze bekommen, und etwa die Hälfte wird den Status quo weitgehend beibehalten. Prof. Dr. Ron Allen  
 

Wie Medscape.com berichtet, werden 26 Staaten „sicher oder wahrscheinlich“ Abtreibung verbieten. Von ihnen werden 13 Staaten Verbote sofort umsetzen, selbst bei Vergewaltigungen. Dazu zählen Kentucky, Louisiana, Missouri und South Dakota. Und in Missouri, Arkansas bzw. Oklahoma haben Beamte Maßnahmen ergriffen, um ein Abtreibungsverbot umzusetzen. Ärzten drohen bei Missachtung hohe Geld- oder gar Gefängnisstrafen. Ausnahmen gelten nur bei medizinischen Indikationen.

Kalifornien, Oregon, Washington, Massachusetts, New Jersey, New York und weitere Bundesstaaten bekennen sich weiter zu ihrem liberalen Abtreibungsrecht. 

Beobachter überrascht das Urteil nicht. Der ehemalige Präsident Donald Trump hat die konservative Mehrheit im Obersten Gerichtshof durch die Ernennung von 3 Richtern während seiner vierjährigen Amtszeit gefestigt. Frühere, liberale Grundsatzurteile waren Trump ein Dorn im Auge. 

Abtreibungen werden nicht seltener – aber tödlicher 

Laut einer in The Lancet veröffentlichten Schätzung gibt es weltweit jährlich etwa 120 Millionen ungewollte Schwangerschaften, von denen 3 Fünftel mit einer Abtreibung beendet werden. Allerdings tun nur 55% der Frauen, die sich einer Abtreibung unterziehen, dies in einer sicheren Umgebung. Das bedeutet, dass jedes Jahr 33 Millionen Frauen auf der ganzen Welt ihr Leben riskieren, um eine Abtreibung mit unkontrollierten Methoden zu erreichen. 

„Die sexuelle und die reproduktive Gesundheit und entsprechende Rechte sind die Grundlage für ein Leben mit Wahlmöglichkeiten, Selbstbestimmung und Gleichberechtigung für Frauen und Mädchen auf der ganzen Welt“, so der Sprecher des UN-Generalsekretärs Antonio Guterres. Darüber hat Medscape.com berichtet. „Die Einschränkung des Zugangs zur Abtreibung hält die Menschen nicht davon ab, eine Abtreibung vorzunehmen, sondern macht sie nur noch tödlicher“, so der Sprecher.

Bereits im März hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) neue Leitlinien für das Management des freiwilligen Schwangerschaftsabbruchs (IVG) herausgegeben. Zu den wichtigsten Empfehlungen gehören die Entkriminalisierung von Abtreibungen, ihre Zugänglichkeit unter Vermeidung jeglicher Beschränkung oder Genehmigung durch Dritte, die Bevorzugung des pharmakologischen Ansatzes gegenüber dem chirurgischen Ansatz und die Vermeidung obligatorischer Wartezeiten bis zum Eingriff. 

Der UN-Bevölkerungsfonds (UNFPA) erklärte, dass 45% aller Abtreibungen weltweit unsicher seien, was Eingriffe zu einer der Hauptursachen für den Tod von Müttern mache. Fast die Hälfte aller Schwangerschaften weltweit seien ungewollt und mehr als 60% davon würden mit einer Abtreibung enden, so der UNFPA.

Darüber hinaus drohen weitere Folgen. Eine der umfassendsten Studien, die negative Auswirkungen untersucht haben, ist die  Turnaway-Studie. Eingeschlossen wurden 1.000 Frauen, die zum Zeitpunkt des Antrags auf Abtreibung rekrutiert wurden. Wissenschaftler haben gezeigt, dass Frauen, denen das Recht auf Schwangerschaftsabbruch verweigert wurde, mit größerer Wahrscheinlichkeit in Armut leben, nicht in der Lage sind, ihre Situation zu ändern, über zu wenig Geld verfügen, um die Bedürfnisse des Kindes zu erfüllen, und haben im Allgemeinen ein geringeres Bildungsniveau, eine geringere geistige und körperliche Gesundheit haben als Frauen, denen eine Abtreibung gestattet wurde.

Die Entscheidung des US-Gerichts sei „ein großer Rückschlag“ und ein „schwerer Schlag für die Menschenrechte der Frauen und die Gleichstellung der Geschlechter“, erklärte die UN-Menschenrechtsbeauftragte Michelle Bachelet.

Keine Mittel für internationale Aktionsbündnisse

Damit nicht genug: Eigentlich hatten die USA – zusammen mit 178 weiteren Ländern – ein Programm aus dem Jahr 1994 unterstützt. Die Unterzeichner waren sich einig, wie tödlich unsichere Abtreibungen sind. Sie forderten alle Nationen auf, unabhängig vom rechtlichen Status der Abtreibung, Frauen eine lebensrettende medizinische Nachsorge zu garantieren. 

Trumps Regierung sprach sich bei den Vereinten Nationen gegen die Förderung der sexuellen und reproduktiven Rechte und Gesundheit von Frauen aus, weil Republikaner darin einen möglichen Grund für Schwangerschaftsabbrüche sahen. Sie stellten sich gegen die seit langem vereinbarten UN-Resolutionen.

Dem UNFPA wurden Mittel gestrichen, weil dieser „ein Programm zur Zwangsabtreibung oder unfreiwilligen Sterilisation unterstützt oder sich an der Verwaltung eines solchen Programms beteiligt“, so der frühere US-Präsident. Die Vereinten Nationen erklärten, dies sei eine unzutreffende Wahrnehmung. Präsident Joe Bidenhat die Entscheidung revidiert und unterstützt den UNFPA wieder finanziell. 

Welche Möglichkeiten haben US-Amerikanerinnen nach dem Urteil?

Eine gewisse Freiheit bleibt auch nach der höchstrichterlichen Entscheidung. Frauen könnten Eingriffe legal in Staaten mit liberalem Recht durchführen lassen, vorausgesetzt, sie können sich die Reise und die Unterkunft vor Ort leisten. 

Wenn also eine Frau in einem Staat lebt, der die Abtreibung einschränkt, hindert die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs sie nicht daran, von ihrem Heimatstaat in einen Staat zu reisen, der die Abtreibung erlaubt“, sagt Biden. „Sie hindert einen Arzt in diesem Staat nicht daran, sie zu behandeln.“ 

Gleichzeitig forderte der Präsident den Kongress auf, den früheren Schutz von Frauen durch das Urteil „Roe v. Wade“ als Bundesgesetz wiederherzustellen. „Das kann keine Exekutivmaßnahme des Präsidenten bewirken“, sagte er. 

„Der Oberste Gerichtshof ist nur eine von vielen Regierungsbehörden, die das Recht auf Abtreibung schützen können“, sagte Nancy Northup, Präsidentin und CEO des Center for Reproductive Rights, New York. „Wir werden vom Kongress erwarten, dass er das Gesetz zum Schutz der Gesundheit von Frauen verabschiedet.Der Kongress kann dies … lösen. Wir werden von der Biden-Regierung erwarten, dass sie das Ausmaß ihrer Befugnisse nutzt.“

 
Wir werden vom Kongress erwarten, dass er das Gesetz zum Schutz der Gesundheit von Frauen verabschiedet. Nancy Northup  
 

Weitere Restriktionen sind denkbar

Möglicherweise geht um mehr als um die Revision des Urteils „Roe v. Wade“. Richter Clarence Thomasschrieb in einer Stellungnahme, dass der Oberste Gerichtshof weitere Urteile „überdenken“ solle. Dazu zählen die Fälle „Griswold v. Connecticut“ (Recht auf Empfängnisverhütung), „Lawrence v. Texas“ (Stärkung der Rechte gleichgeschlechtlicher Partnerschaften) und „Obergefell v. Hodges“ (staatliche Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe). 

Bald auch Verbot der Abtreibungspille?

Darüber hinaus versuchen einige Bundesstaaten, die Verwendung von RU-486 bzw. Mifegyne® (Mifepriston) zu verbieten oder stark einzuschränken. In der Gynäkologie findet Mifepriston zusammen mit Prostaglandinen Verwendung bei Schwangerschaftsabbrüchen. Ein Gesetz aus Tennessee, das 2023 in Kraft treten soll, würde die Lieferung über Online-Apotheken verbieten. Frauen müssten stattdessen 2-mal ihren Gynäkologen besuchen: für eine Untersuchung und später nochmals, um das Präparat abzuholen.

Das Guttmacher Institute schätzt, dass medikamentöse Abtreibungen 2017 in den Vereinigten Staaten 39% aller Abtreibungen und 60% aller Abtreibungen vor der 10. Schwangerschaftswoche ausmachten.

Biden warnte alle US-Bundesstaaten eindringlich davor, den Zugang zu solchen Präparaten zu erschweren. In seiner Erklärung stellte Generalstaatsanwalt Merrick Garland fest, dass „die FDA die Verwendung des Medikaments Mifepriston genehmigt hat. Staaten dürfen Mifepriston nicht verbieten, wenn sie mit dem Expertenurteil der FDA über seine Sicherheit und Wirksamkeit nicht einverstanden sind.“ 

 
Staaten dürfen Mifepriston nicht verbieten, wenn sie mit dem Expertenurteil der FDA über seine Sicherheit und Wirksamkeit nicht einverstanden sind. Merrick Garland  
 

Mehr als 60% aller US-Bürger sprechen sich laut Umfragen für das Recht auf Abtreibung aus. Biden und andere Demokraten planen, dies im nächsten Wahlkampf zu thematisieren. 

Mit Material von  Medsape.com .  

 

Kommentar

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