Anhaltende neuropsychiatrische Folgeschäden von Militärangehörigen, die bei einem Kampfeinsatz dabei waren, gehen offenbar nur selten auf eine chronisch traumatische Enzephalopathie (CTE) zurück. Das berichtet ein Team um den US-Pathologen Prof. Dr. David Priemer von der F. Edward Hébert School of Medicine der Uniformed Services University of the Health Sciences in Bethesda, Maryland, im New England Journal of Medicine [1].
Den Analysen der Forscher zufolge ist es für einen Soldaten wahrscheinlicher, aufgrund einer Kontaktsportart oder eines Schädel-Hirn-Traumas im zivilen Leben eine CTE zu erleiden, als diese infolge einer Explosion oder eines bei einem militärischen Einsatz entstandenen Schädel-Hirn-Traumas (SHT) zu entwickeln.
Extreme Druckunterschiede können das Gehirn verletzen
„Priemer und seine Kollegen haben sich die Mühe gemacht, 225 Gehirne verstorbener Soldaten zu obduzieren, was natürlich sehr aufwändig war“, kommentiert Oberstarzt Prof. Dr. Peter Zimmermann, leitender Arzt der Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie am Bundeswehrkrankenhaus Berlin, im Gespräch mit Medscape.
„Eine weitere Stärke der Studie ist es, dass die Wissenschaftler objektive Outcome-Parameter hatten“, sagt der Experte für Psychotraumatologie. Dies sei bei der Erforschung psychischer Erkrankungen ansonsten vergleichsweise selten der Fall.
„Beides ist sicherlich ein Grund dafür, dass die Arbeit so hochrangig publiziert ist“, vermutet Zimmermann. Denn die Aussagekraft der Studie halte er persönlich für relativ gering. „Aber man weiß natürlich, dass Explosionen das Gehirn durch die extremen Druckunterschiede schädigen können, und kennt auch verschiedene Mechanismen, die zu den Verletzungen des Gewebes führen“, sagt der Mediziner.
Und dass die gesundheitlichen Auswirkungen von Explosionen – zum Beispiel axonale Scherverletzungen – ernst genommen werden sollten, selbst wenn es dabei zunächst zu keinen sichtbaren Schäden komme, habe auch die vorliegende Arbeit noch einmal gezeigt.
Über die langfristigen physischen Folgen sei bislang hingegen wenig bekannt, sagt Zimmermann. „Und hier setzt die aktuelle Studie an, die sich mit der Frage beschäftigt hat: Kommt es durch Explosionen zu enzephalopathischen Erscheinungen?“
Nur 10 der untersuchten Gehirne zeigten Anzeichen einer CTE
Priemer und seine Kollegen untersuchten zu diesem Zweck das Hirngewebe von 225 ehemaligen Soldaten – unter ihnen 217 Männer im Alter von 18 bis 87 Jahren sowie 8 Frauen zwischen 20 und 63 Jahren – aus einer Hirnbank, die der Untersuchung verstorbener Militärangehöriger gewidmet war, auf Anzeichen von CTE. Dazu entnahmen sie im Schnitt pro Gehirn 13 Proben, die Hirnrinde enthielten.
Die Aufnahme der Gehirne in die Hirnbank war unabhängig davon erfolgt, ob die verstorbene Person zum Zeitpunkt ihres Todes im aktiven Dienst gewesen oder bereits aus dem Militärdienst ausgeschieden war, und auch unabhängig von ihrer medizinischen Vorgeschichte.
Zusätzlich analysierten die Forscher retrospektiv erhobene Informationen zur Vorgeschichte der Verstorbenen, insbesondere ob diese Explosionen ausgesetzt gewesen waren, ob sie Kontaktsportarten betrieben hatten, andere Arten von traumatischen Hirnverletzungen erlitten hatten oder an einer neuropsychiatrischen Störung erkrankt gewesen waren.
Wie das Team um Priemer berichtet, fand sich nur bei 10 der 225 untersuchten Gehirne (4,4%) ein neuropathologischer Befund von CTE. Die Hälfte der CTE-Fälle hatte zudem nur eine charakteristische Läsion.
Von den 45 Gehirnen der Verstorbenen, die einer Explosion ausgesetzt gewesen waren, wiesen 3 (6,7%) eine CTE auf.
Bei den 180 Gehirnen von Verstorbenen, die keine Explosion miterlebt hatten, fanden sich 7 Fälle von CTE (3,9%).
Demnach erhöhte sich das relative Risiko für die Erkrankung durch eine Explosion etwa um den Faktor 1,7.
„Eigentlich sind die Fallzahlen aber zu gering, um mit ihnen verlässliche statistische Berechnungen vorzunehmen“, kommentiert Zimmermann. „Vermutlich hatten die Wissenschaftler im Vorfeld mit deutlich mehr Fällen von CTE gerechnet.“
Alle Soldaten mit CTE hatten eine Kontaktsportart ausgeübt
Von den 21 Verstorbenen, die während des Militärdienstes keine Explosion, aber durch einen Aufprall ihres Kopfes ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten hatten, wiesen ebenfalls 3 eine CTE auf (14,3%). Bei den anderen 204 Soldaten waren es 7 (3,4%). Das relative Risiko erhöhte sich demnach durch ein SHT etwa um den Faktor 4,2.
Alle Gehirne mit einer CTE stammten von den 60 Verstorbenen, die an Kontaktsportarten teilgenommen hatten – am häufigsten an American Football (27) und Kampfsportarten (15). 10 der 60 Kontaktsportler wiesen eine CTE auf (16,7%), verglichen mit 0 von 165, die keine solche Sportart betrieben hatten.
„Das heißt, die vorliegende Studie macht, ohne es zu wollen, vor allem Aussagen zu den Folgen von Kontaktsport und weniger zu den von Explosionen“, sagt Zimmermann. „Somit liefert sie eigentlich keine echte Antwort auf die von den Forschern gestellte Frage.“
Bei den Verstorbenen mit einem im zivilen Leben erlittenen, aber nicht sportbedingten Schädel-Hirn-Trauma diagnostizierten die Pathologen in 8 von 44 Fällen (18,2%) eine CTE, verglichen mit 2 von 181 Gehirnen (1,1%) von Verstorbenen ohne eine solche Verletzung. Somit war das relative Risiko in diesem Fall um den Faktor 16,5 erhöht.
Fast 4 von 10 Soldaten hatten an psychiatrischen Störungen gelitten
Insgesamt 88 Verstorbene (39,1%) wiesen mindestens eine psychiatrische Störung auf. Eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) war bei 52 Verstorbenen diagnostiziert worden, eine Depression bei 44 und Angstzustände bei 25.
Von den Verstorbenen mit einer CTE hatten 6 (60%) mindestens eine Diagnose einer psychiatrischen Störung erhalten, im Vergleich zu 82 (38%) der Verstorbenen ohne CTE. Die PTBS war die häufigste Diagnose in beiden Gruppen. Insgesamt 6 Verstorbene mit CTE (60%) hatten eine Vorgeschichte mit Alkohol- und/oder Substanzmissbrauch, im Vergleich zu 91 Verstorbenen ohne die Erkrankung (42%).
In 216 Fällen lagen Angaben zur definitiven Todesursache und -art vor. Die meisten Todesfälle (124) hatten eine natürliche Ursache. Zudem gab es 49 Suizide (22,7%), und 40 Todesfälle (18,5%) wurden als Unfälle eingestuft, darunter waren 12 Todesfälle aufgrund einer Drogenüberdosis.
Das Durchschnittsalter zum Zeitpunkt des Todes betrug 55,4 Jahre bei den natürlichen Todesursachen, 37,8 Jahre bei den Suiziden und 38,5 Jahre bei den unfallbedingten Todesfällen. Im Schnitt waren die Soldaten somit sehr jung gestorben.
Bei den übrigen Todesfällen handelte es sich um Tötungsdelikte (1 Todesfall) oder um Todesarten, die nach der Untersuchung durch die Gerichtsmediziner nicht geklärt werden konnten (2 Todesfälle). Suizid war die Todesursache in 4 der CTE-Fälle (40%) und in 45 der 206 Nicht-CTE-Fälle (22%), bei denen die Todesursache und -art geklärt werden konnten.
Kausale Schlussfolgerungen lassen sich nicht ziehen
Aufgrund der geringen Anzahl von CTE-Fällen und weiten Konfidenzintervallen bei der Berechnung des relativen Risikos sei die Studie nicht aussagekräftig genug, um auf einen Zusammenhang zwischen Explosionsexposition und CTE zu schließen, schreiben die US-Forscher – und unterstützen damit die Aussagen Zimmermanns.
Alle Verstorbenen, die einer militärischen Explosions- oder Aufprallexposition ausgesetzt gewesen seien und eine CTE aufgewiesen hätten, hätten auch an Kontaktsportarten teilgenommen und darüber hinaus häufig eine Vorgeschichte mit einem nicht sportbedingten zivilen SHT gehabt, so das Team um Priemer.
Kausale Schlussfolgerungen könnten aus der Studie somit nicht gezogen werden, jedoch seien die relativen Risiken bei zivilen Expositionen numerisch höher als bei militärischen Expositionen gewesen.
Aufgrund der geringen Anzahl von CTE-Fällen sei die Studie zudem zu schwach, um Beziehungen zwischen CTE und neuropsychiatrischen Folgeschäden zu untersuchen, schreiben die Autoren. Allerdings seien in den meisten Fällen von Suizid, Alkohol- oder Drogenmissbrauch oder psychiatrischen Erkrankungen keine pathologischen Merkmale von CTE gefunden worden.
„Ich gehe auch davon aus, dass solche Ereignisse und Erkrankungen eher psychische als rein physische Ursachen haben“, sagt Zimmermann. „Aus meiner Sicht wäre es daher hilfreich, sich zu überlegen, wie man die seelische und körperliche Symptomatik von Soldaten noch besser voneinander differenzieren kann – auch wenn sich viele Anzeichen eines Schädel-Hirn-Traumas und einer posttraumatischen Belastungsstörung ähneln.“
Präventionsprogramme für Soldaten sind wichtig
Wichtig seien in jedem Fall gute Präventionsprogramme, die man jedem Soldaten auch zukommen lassen müsse, fordert Zimmermann. Allerdings gebe es viele Armeen, darunter auch westeuropäische, in denen solche Programme so gut wie gar nicht vorhanden seien. Apps und Internetangebote seien in diesem Fall nicht ausreichend.
„Die Bundeswehr hingegen scheint das Thema momentan sehr konsequent anzugehen und lässt vielversprechende Methoden sowohl zur Primär- als auch zur Sekundärprävention entwickeln, die teilweise schon erprobt werden“, sagt Zimmermann. Unter anderem gebe es inzwischen eine sehr viel größere Zahl an Truppenpsychologen als noch vor einigen Jahren, die zum Beispiel Entspannungskurse für die Soldaten anbieten würden.
Er selbst habe am Berliner Forschungs- und Behandlungszentrum Psychotraumatologie und Posttraumatische Belastungsstörungen gemeinsam mit Kollegen ein Handbuch für den Psychologischen Dienst der Bundeswehr erarbeitet, berichtet Zimmermann. Es enthalte im ersten Teil allgemeine präventive Maßnahmen und im zweiten Teil eine Anleitung zum Umgang mit moralischen Konflikten.
„Zu den allgemeinen Aspekten gehören zum Beispiel das frühe Erkennen psychischer Erkrankungen, erste Hilfsmaßnahmen wie Entspannungsübungen sowie das Wissen um die vorhandenen Hilfsangebote und um die besondere Bedeutung sozialer Kontakte und Beziehungen als präventives Element“, erläutert Zimmermann. Gedacht seien die Inhalte des Buches für alle Soldaten vor, während und nach Auslandseinsätzen. Begleitend zu dem Buch gebe es Einführungskurse für die Truppenpsychologen.
Im fMRT werden Gehirnveränderungen durch militärische Einsätze sichtbar
„Auch Studien, die wir selbst vorgenommen haben, zeigen, dass Auslandseinsätze alles andere als harmlos für das Gehirn der Soldaten sind“, sagt Zimmermann. Mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) habe man beispielsweise Veränderungen im anterioren Cingulum aufgespürt, einer Region, die an der Verarbeitung von Emotionen beteiligt sei.
„Je länger die Soldaten im Einsatz gewesen waren, desto stärker waren die Auffälligkeiten – unabhängig davon, ob die Probanden psychisch erkrankt waren oder nicht.“ Das Ergebnis unterstütze die Forderung, dass Auslandseinsätze zeitlich begrenzt sein und wenige Monate nicht überschreiten sollten.
In einer anderen Untersuchung habe man per MRT zeigen können, dass nach traumatischen Erfahrungen der Hippocampus, der fürs Gedächtnis und Emotionen wichtig sei, geschrumpft sei. „Allerdings nahm das Volumen dieser Hirnregion durch eine gute Traumatherapie auch wieder zu“, berichtet Zimmermann.
Wieder andere Studien hätten gezeigt, dass auch das Herz und der Hormonhaushalt durch Auslandseinsätze zu Schaden kommen können. „All das beweist für mich“, so Zimmermann, „wie wichtig es ist, sich um die psychische Gesundheit von Angehörigen des Militärs zu kümmern.“
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Diesen Artikel so zitieren: Explosionen führen laut einer US-Studie bei Soldaten offenbar nur selten zu chronisch traumatischen Enzephalopathien - Medscape - 28. Jun 2022.
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