Pharmakologische Adipositastherapie nähert sich der bariatrischen Chirurgie an: Beispiellose Gewichtsabnahme mit Tirzepatid

Dr. Mitchel L. Zoler

Interessenkonflikte

27. Juni 2022

Eine Behandlung mit dem dualen Inkretinagonisten Tirzepatid führte bei der überwiegenden Mehrheit der Personen mit Adipositas, aber ohne Diabeteserkrankung sicher zu einem „beispiellosen“ Gewichtsverlust. Das ist das Ergebnis der placebokontrollierten SURMOUNT-1-Studie an über 2500 adipösen oder übergewichtigen Personen, die mindestens eine gewichtsbedingte Komplikation aufwiesen.

Dr. Ania M. Jastreboff

In der zulassungsrelevanten Studie sei die wöchentliche subkutane Injektion des Twinkretins Tirzepatid (in einer Dosierung von 5, 10 oder 15 mg) nicht direkt mit bariatrischen Operationen oder mit Semaglutid-Injektionen (2,4 mg/Woche; Wegovy), dem aktuellen Champion unter den Gewichtsreduktionsmitteln, verglichen worden. Dennoch seien die neuen Ergebnisse beeindruckend, meinte Dr. Ania M. Jastreboff, leitende Prüfärztin der SURMOUNT-1-Studie beim 82. Jahreskongress der American Diabetes Association (ADA)[1].

Noch nie zuvor beobachteter Effekt

Denn die höchste getestete Dosis von Tirzepatid (15 mg/Woche, über 72 Wochen) führte bei 91- 96% der Patienten zu einem Gewichtsverlust von mindestens 5% gegenüber dem Ausgangsgewicht. Ein solcher Effekt sei bisher noch in keiner Phase-III-Studie mit einem Mittel zur Gewichtsreduktion beobachtet worden, sagte Jastreboff, die zudem Endokrinologin und Leiterin der Abteilung für Gewichtsmanagement und Adipositasprävention an der Yale School of Medicine in New Haven, USA, ist.

Zudem betrug die durchschnittliche pozentuale Gewichtsabnahme bei den 630 Personen, die 15 mg Tirzepatid pro Woche erhielten, 22,5% in der On-Treatment-Analyse und 20,9% in der Intention-to-Treat-Analyse. Auch das ist eine Größenordnung, die nie zuvor bei einer anderen pharmakologischen Intervention beobachtet wurde.

Dr. Lee M. Kaplan

Und in einer explorativen Datenanalyse verloren 40% der Personen, die mit der höchsten Testdosis von 15 mg Tirzepatid pro Woche behandelt wurden, mindestens 25% gegenüber dem Ausgangsgewicht (On-Treatment-Analyse zu). Für Jastreboff ist dies ein weiteres Beispiel für eine noch nie dagewesene Gewichtsabnahme.

Bei Ansprechen auf Tirzepatid fühlt man sich früher satt

Schaue man sich die Daten aus einem anderen Blickwinkel an, so Jastreboff auf einer Pressekonferenz, liege das Durchschnittsgewicht der Teilnehmenden zu Beginn der Studie bei 104 kg und die durchschnittliche Gewichtsabnahme nach 72 Wochen Behandlung betrage 16-23 kg.

Sie wies jedoch darauf hin, dass nicht jeder Mensch auf Tirzepatid anspricht. „Doch wenn man auf die Substanz reagiert, fühlt man sich früher satt, nimmt sich seltener eine 2. Portion und isst wahrscheinlich häufiger kleinere Mengen.“

Lebenslange Behandlung erforderlich

Solche Mittel zur Gewichtsreduktion müssten allerdings dauerhaft eingenommen werden, ähnlich wie Medikamente gegen Bluthochdruck und Fettstoffwechselstörungen, betonte Jastreboff. „Wenn man das Medikament gegen Fettleibigkeit absetzt, steigt der Sollwert der Körperfettmasse wieder an. Daher ist eine Langzeitbehandlung erforderlich.“

 
Wenn man auf die Substanz reagiert, fühlt man sich früher satt. Dr. Ania M. Jastreboff
 

In den USA wurde Tirzepatid (Mounjaro, Lilly) vor kurzem für die Behandlung des Typ-2-Diabetes zugelassen. Für die Europäische Union hat der Hersteller die Zulassung bei der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA beantragt. Eine Entscheidung wird noch in diesem Jahr erwartet.

 SURMOUNT-1 sollte die Wirkung der Substanz auf Übergewicht und Adipositas untersuchen. Die Firma Lilly wird wohl bald auch die Zulassung für die zusätzliche Indikation Gewichtsreduktion stellen. Die ersten Ergebnisse der Studie sorgten bereits für große Aufregung, als Lilly sie im April vorstellte. Selbst in der New York Times erschien ein Artikel.

Pharmakologische Therapie nähert sich der Wirksamkeit der Chirurgie an

Der GLP-1-Rezeptoragonist Semaglutid (Ozempic, Novo Nordisk) ist in den USA und auch in Europa zur Behandlung des Typ-2-Diabetes (1 oder 2 mg pro Woche) zugelassen. Unter dem Namen Wegovy hat es außerdem die Zulassung zur Gewichtsreduktion (in der höheren Dosierung von 2,4 mg pro Woche). Auch Wegovy wurde bereits als „bahnbrechend“ für die Behandlung von Fettleibigkeit angepriesen.

 
[Die Ergebnisse] rücken Tirzepatid in die Nähe der Gewichtsverluste, die mit bariatrischen Eingriffen erreicht werden. Dr. Louis J. Aronne
 

Doch die Ergebnisse der SURMOUNT-1-Studie „rücken Tirzepatid in die Nähe der Gewichtsverluste, die mit bariatrischen Eingriffen erreicht werden“, sagt Dr. Louis J. Aronne, der an der Studie mitgewirkt hat. Er ist Professor und Direktor des Zentrums für Gewichtsmanagement und metabolische klinische Forschung an der Weill-Cornell Medicine in New York City.

Vermutlich stärkere Gewichtsabnahme als mit Semaglutid

Die Ergebnisse seien „erstaunlich“ und katapultieren die Therapie des Übergewichts „in eine neue Ära“, meint Dr. Lee M. Kaplan, Direktor des Instituts für Adipositas, Stoffwechsel und Ernährung am Massachusetts General Hospital in Boston, der nicht an der Studie beteiligt war.

Obwohl kein direkter Vergleich möglich sei, deuteten die Ergebnisse darauf hin, dass „Tirzepatid zu einer stärkeren Gewichtsabnahme führt als Semaglutid“ und „das Ausmaß der Gewichtsreduktion durch bariatrische Operationen erreichen oder sogar übertreffen könnte“, fügte Kaplan hinzu.

Mehr Behandlungsoptionen für die Adipositastherapie

Zeitgleich zu Jastreboffs Bericht auf dem ADA-Kongress wurden die Ergebnisse online im New England Journal of Medicine publiziert [2]. Die Autoren eines begleitenden Editorials stimmen Kaplan zu. „Es ist bemerkenswert, dass der Gewichtsverlust unter Tirzepatid dem durch einen Magenbypass gleicht, was die Behandlungsoptionen in der Adipositastherapie vermehrt“, schreiben sie.

 
Tirzepatid könnte das Ausmaß der Gewichtsreduktion durch bariatrische Operationen erreichen oder sogar übertreffen. Dr. Lee M. Kaplan
 

„Die Zeiten ändern sich, und es gibt jetzt mehr Möglichkeiten für adipöse Menschen, Gewicht zu verlieren“, ergänzen Dr. Clifford J. Rosen von der Tufts University School of Medicine in Boston und Dr. Julie R. Ingelfinger, stellvertretende Herausgeberin des New England Journal of Medicine [3].

Verstärkt der duale Inkretin-Agonismus die Wirkung?

Tirzepatid ist der erste Wirkstoff aus einer neuen Klasse von dualen Rezeptoragonisten. Deren Molekülstruktur so gestaltet ist, dass sie sowohl den Rezeptor für GLP-1 (Glucagon-like Peptid 1) als auch für GIP (Glucose dependent insulinotropic peptide) aktiviert. Dies sind die beiden vorherrschenden Inkretine im Darm des Menschen. Die Wirkkombination hat Tirzepatid den Spitznamen „Twinkretin“ eingebracht.

 
Die Zeiten ändern sich, und es gibt jetzt mehr Möglichkeiten für adipöse Menschen, Gewicht zu verlieren. Dr. Clifford J. Rosen und Dr. Julie R. Ingelfinger
 

Semaglutid ist dagegen ein Single-Inkretin-Agonist, dessen Wirkung sich ausschließlich auf den GLP-1-Rezeptor konzentriert. Aronne führte die offensichtlich höhere Wirksamkeit von Tirzepatid im Vergleich zu Semaglutid direkt auf seine zusätzliche Inkretin-Aktivität zurück: „Der duale Ansatz erhöht die Wirksamkeit.“

Starke Wirkung und beruhigendes Sicherheitsprofil

Die in SURMOUNT-1 gezeigte starke Wirkung und das beruhigende Sicherheitsprofil öffnen die Tür zu einem neuen Therapieansatz bei Adipositas, der in der Vergangenheit oft hinter der Behandlung von Dyslipidämie, Bluthochdruck und Diabetes zurückstehen musste.

 
Der duale Ansatz erhöht die Wirksamkeit. Dr. Louis J. Aronne
 

„Jetzt, wo wir die Adipositas sicher und effektiv behandeln können, ist es aus therapeutischer Sicht sinnvoll, damit auch zu beginnen“, sagt Aronne. Und Jastreboff stimmte dem zu: „Vielleicht können wir einen Diabetes verhindern, wenn wir direkt die Adipositas behandeln“, sagte sie.

Mittel zur Gewichtsreduktion gewinnen in den USA an Bedeutung

Es gab Bedenken hinsichtlich des Zugangs von Patienten zu diesen neuen Wirkstoffen in den USA, da bereits die Kosten für Semaglutid gegen Adipositas 1000 Dollar pro Monat übersteigen, aber Aronne zeichnet mit seinen Daten ein optimistischeres Bild.

Demnach habe sich in den ersten Monaten nach der Zulassung von Semaglutid zur Adipositasbehandlung auf dem US-Markt die Zahl der Rezepte für Markenmedikamente gegen Fettleibigkeit etwa verdoppelt. Dieser Anstieg gehe vor allem auf die Einführung und den zunehmenden Einsatz von Semaglutid zurück.

Klinisch bedeutsame Verbesserung kardiometabolischer Parameter

Unter Tirzepatid hätten sich bei allen in der Studie berücksichtigten, vordefinierten kardiometabolischen Parametern klinisch bedeutsame Verbesserungen gezeigt, berichtete Jastreboff:

  • Verringerung des Taillenumfangs um durchschnittlich 17% bei Personen, die eine der beiden höchsten Dosierungen einnahmen

  • Rückgang der Gesamtfettmasse im Mittel um 34%

  • Absenkung des HbA1c-Ausgangswertes um durchschnittlich 0,5% unter den beiden höchsten Dosierungen

  • Deutliche Senkung des Nüchtern-Plasmaglukosespiegels und des Nüchtern-Insulinspiegels

  • Senkung des Triglyzeridspiegels um durchschnittlich 28%

  • Absenkung des systolischen Blutdrucks um durchschnittlich rund 8 mmHg innerhalb von 24 Behandlungswochen.

„Ich glaube, dass die Versicherer aufgrund dieser Vorteile die Kosten für Tirzepatid übernehmen werden“, prognostizierte Aronne.

SURMOUNT-1: Details zur Studie

An der SURMOUNT-1-Studie nahmen 2539 Patienten mit Adipositas oder Übergewicht und mindestens einer gewichtsbedingten Komplikation an einem von 119 Standorten in 9 Ländern teil. Sie hatten einen BMI von mindestens 30 kg/m2 bzw. mindestens 27 kg/m2 und mindestens eine gewichtsbedingte Komplikation, die kein Diabetes war. Sie wurden in einem Verhältnis von 1:1:1:1 randomisiert und erhielten 72 Wochen lang 1-mal wöchentlich subkutanes Tirzepatid (5, 10 oder 15 mg) oder ein Placebo. Es wurde zu Beginn eine 20-wöchige Dosis-Eskalationsphase angesetzt.

 
Ich glaube, dass die Versicherer aufgrund dieser Vorteile die Kosten für Tirzepatid übernehmen werden. Dr. Louis J. Aronne
 

Die beiden primären Endpunkte waren zum einen die durchschnittliche prozentuale Veränderung des Körpergewichts vom Studienbeginn an bis 72 Wochen später. Zum anderen wurde der Prozentsatz an Teilnehmern ermittelt, die nach spätestens 72 Wochen eine Reduzierung des Körpergewichts um mindestens 5% gegenüber dem Ausgangswert erreicht hatten.

Nebenwirkungen betrafen vorwiegend den Magen-Darm-Trakt

Die häufigsten unerwünschten Ereignisse unter Tirzepatid betrafen den Magen-Darm-Trakt. Sie waren in der Regel leicht bis mittelschwer und traten hauptsächlich während der Dosis-Eskalationsphase auf. Unerwünschte Ereignisse führten bei 4,3%, 7,1%, 6,2% bzw. 2,6% der Teilnehmer, die 5 mg, 10 mg, 15 mg Tirzepatid bzw. Placebo erhalten hatten, zum Abbruch der Behandlung.

Die Studie lief von Dezember 2019 bis April 2022, also während des Höhepunkts der COVID-19-Pandemie, was Jastreboff als „erstaunliche Leistung“ bezeichnete.

Dr. Jamy Ard, Professor an der Wake Forest University School of Medicine und Co-Direktor des Wake Forest Baptist Health Weight Management Center in Winston-Salem, der beim ADA-Kongress die Präsentation von SURMOUNT-1 leitete, kommentierte die Ergebnisse launisch: „Das ist ziemlich aufregend. Wenn jemand das anders sieht, sollte er vielleicht seinen Puls prüfen, ob er noch lebt.“

Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
 

Kommentar

3090D553-9492-4563-8681-AD288FA52ACE
Wir bitten darum, Diskussionen höflich und sachlich zu halten. Beiträge werden vor der Veröffentlichung nicht überprüft, jedoch werden Kommentare, die unsere Community-Regeln verletzen, gelöscht.

wird bearbeitet....