Mitte Februar berichteten die britischen Gesundheitsbehörden erstmals über eine ungewöhnliche Häufung von Hepatitisfällen bei Kindern. Seitdem sind weitere Fälle in verschiedenen Ländern dazugekommen. Bis zum 16. Juni wurden mehr als 440 Fälle von akuter Hepatitis unbekannter Ätiologie bei Kindern im Alter unter 16 Jahren aus der europäischen Region gemeldet. Die Ursache für die Häufung ist unklar, ein Zusammenhang mit einer COVID-19-Infektion ist bislang weder bestätigt noch widerlegt.
Daran ändern auch die Ergebnisse einer kleinen Fallstudie aus Israel nichts. Die von Dr. Shiri Cooper vom Schneider Children’s Medical Center of Israel in Petach Tikva und Kollegen beschriebenen 5 Fälle suggerieren aber einen Zusammenhang mit einer COVID-19-Infektion [1].
Fallstudie mit 5 Kindern aus Israel
Die Autorengruppe berichtet von 2 gesunden Säuglingen, bei denen es im Alter von 3 und 5 Monaten zu einem Leberversagen kam, das eine Lebertransplantation erforderlich machte. Die 3 weiteren Kinder – 2 im Alter von 8 Jahren und 1 im Alter von 13 Jahren - wiesen eine Hepatitis mit Gallenstauung auf. Alle Patienten konnten erfolgreich mit Steroiden behandelt werden.
Die 5 Patienten waren im Vorfeld asymptomatisch oder mild an COVID-19 erkrankt. Bei 4 der untersuchten Kinder betrug die mittlere Zeit von der Diagnose bis zur Feststellung von Schäden an den Gallengängen 74,5 Tage, wobei die Zeitspanne sehr breit war: 21 bis 130 Tage. Beim 5. Patienten war die Datenlage nicht ausreichend, um entsprechende Angaben zu machen.
Autoren suggerieren Zusammenhang mit COVID-19
Schon im Titel ihrer kleinen Studie bringen Cooper und Kollegen die beobachteten Schäden mit Long Covid in Verbindung. Die Leber- bzw. Gallenschäden könnten – so die Studienautoren – eine seltene Langzeitnebenwirkung von COVID-19 sein. Ein mögliches, direktes Einfallstor für das Virus in die Zelle, der ACE2-Rezeptor, sei, so schreiben sie, „auch im Darm, in der Gallenblase und den Hepatozyten vorhanden.”
Grundsätzlich kann SARS-CoV-2 die Leber infizieren
Prof. Dr. Bertram Bengsch, Leiter der Arbeitsgruppe ‚Translationale Systemimmunologie in der Hepatogastroenterologie‘ an der Klinik für Innere Medizin II am Universitätsklinikum Freiburg bestätigt auf Nachfrage: „Der zeitliche Verlauf legt einen Zusammenhang mit der vorangegangenen Coronavirus-Infektion nahe.“
Eine akute Hepatitis durch COVID-19 ist bei Kindern bereits berichtet worden. Außerdem wurden ähnliche Zusammenhänge in Einzelfällen auch bei Erwachsenen beschrieben. Bengsch weist daraufhin, dass Patienten mit vorbestehenden Lebererkrankungen ein höheres Risiko für schwere Verläufe von COVID-19 aufweisen.
Grundsätzlich könne SARS-CoV-2 die Leber infizieren. Eine postinfektiöse Hepatitis oder Begleithepatitis im zeitlichen Abstand zur Infektion sei aber möglicherweise „eher auch Ausdruck eines Einwanderns von aktivierten Immunzellen in die Leber, die dort eine unspezifische Entzündung vermitteln können”, erklärte Bengsch.
Für eine akute Hepatitis bei Kindern gibt es viele Gründe
Allerdings „gibt es vielfältige Gründe, warum Kinder eine akute Hepatitis haben können. Nicht immer kann man eine klare Ursache identifizieren“ kommentiert Prof. Dr. Ansgar Lohse, Direktor der I. Medizinischen Klinik und Poliklinik am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf die Studienergebnisse. „Die in dieser israelischen Studie beschriebenen Einzelfälle weisen einen gewissen zeitlichen Zusammenhang auf, der aber von Fall zu Fall so unterschiedlich ist, dass ein kausaler Zusammenhang spekulativ bleibt.”
Kritik an gemeinsamer Präsentation unterschiedlicher Altersgruppen
Prof. Dr. Sandra Ciesek, Direktorin des Instituts für Medizinische Virologie am Universitätsklinikum Frankfurt, weist außerdem darauf hin, dass es sich bei der Arbeit um retrospektive Fallberichte handelt und keine standardisierten Daten erhoben wurden, um die Ursache der Lebererkrankungen zu erforschen.
Dass die Fallserie sehr klein sei, gelte im Besonderen, wenn man bedenke, wie heterogen die Gruppe von Patienten sei: „Ein junger Säugling mit einem Alter von 3 Monaten sowie ein Kind im Alter von 13 Jahren werden hier gemeinsam präsentiert, obwohl in diesen Altersgruppen sehr unterschiedliche Aspekte und mögliche Ursachen berücksichtigt werden müssen.“
Expertin: Titel ist „irreführend“ und kann „unbegründete Ängste“ auslösen
Der Diskussionsteil in der Publikation enthalte zwar einige wichtige generelle Überlegungen zu einer möglichen Pathogenese, helfe aber bei der Ursachenfindung nicht entscheidend weiter, so Cieseks Urteil. „Der Titel ,Long COVID-19 Liver Manifestation in Children‘ ist also irreführend, da in dem Text kein Zusammenhang zwischen dem Krankheitsbild ,Long Covid‘ und den berichteten Hepatitisfällen nachgewiesen werden kann“, betont sie weiter.
Die Medizinerin hätte sich von den Autoren, den Reviewern und dem Journal gewünscht, die Veröffentlichung unter diesem Titel zu unterbinden. Er dürfte so insbesondere Laienleser in die Irre führen und einen nachgewiesenen Zusammenhang zwischen einer SARS-CoV-2-Infektion bei Kindern und einer schweren Leberschädigung suggerieren. Das könne „unbegründete Ängste auslösen“
Beschreibung und Aufarbeitung der einzelnen Fälle ist insuffizient
Dass die Patienten gut auf Kortison ansprachen, weise auf eine überschießende Immunreaktion als wichtigen Mechanismus der Krankheitsentstehung hin, erklärt Internist und Gastroenterologe Lohse. „Unklar bleibt jedoch, wogegen sich diese Immunreaktion richtet. Ein SARS-CoV-2-Nachweis im Gewebe fehlt, sodass durchaus auch andere Alltagsviren ebenso wie eine autoimmune Hepatitis infrage kommen. Für einen Zusammenhang mit der Impfung gibt es gar keinen Anhalt.“
Leider, so Ciesek, bleibe unklar, nach welchen Kriterien die 5 Fälle von den Autoren ausgesucht wurden, die Beschreibung und Aufarbeitung der einzelnen Fälle sei insuffizient. Zwar wurden bei den beiden Säuglingen IgG-Antikörper gegen SARS-CoV-2 nachgewiesen: „In diesem Alter kann der Nachweis sowohl durch eine Infektion des Säuglings als auch durch eine Infektion der Mutter (Nukleokapsid-IgG-Antikörper oder Spike-IgG-Antikörper) oder Impfung der Mutter (Spike-Antikörper) erklärbar sein.”
Infektions- und Impfstatus der Mütter bleibt ungeklärt
Ciesek kritisiert weiter, dass Angaben zum Infektions- und Impfstatus der Mutter fehlen und deshalb nicht klar sei, ob die beiden Säuglinge überhaupt eine SARS-CoV-2-Infektion durchgemacht haben, oder ob lediglich die maternalen Antikörper der geimpften oder genesenen Mutter nachgewiesen wurden (Nestschutz). Auch die erweiterte virologische Testung sei nicht einheitlich und zum Teil unvollständig gewesen.
„So wurde bei keinem der Kinder eine akute Hepatitis-E-Virusinfektion ausgeschlossen. Meiner Meinung nach gehört der Ausschluss einer akuten Hepatitis-E-Virusinfektion jedoch unbedingt zu einer Abklärung einer akuten Hepatitis dazu. Insbesondere nach Verzehr von nicht ausreichend gegartem Fleisch oder Wurst kann es zu einer Infektion mit dem Hepatitis-E-Virus kommen“, betonte Ciesek.
Gründe für die Häufung der Leberschäden weiterhin unklar
Bengsch wiederum hebt hervor, dass die Gründe für die Häufung der Leberschäden bei Kindern „nicht verstanden sind und hinsichtlich der virologischen und immunologischen Mechanismen genauer untersucht werden sollten”.
Die Kinder seien aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gegen das Coronavirus geimpft gewesen. Cieseks Einschätzung nach lassen sich aus den 5 Fällen keine konkreten Empfehlungen ableiten. „Zusammenfassend sollten die aktuell berichteten Fälle von schwerer akuter Hepatitis bei (Klein-)Kindern sorgfältig medizinisch aufgearbeitet werden. Eine Beteiligung von SARS-CoV-2 ist aber weiterhin weder bewiesen noch ausgeschlossen”, betont die Virologin.
Lohse verweist auf eine europaweite Datenerhebung im European Reference Network Hepatological Diseases. Diese weise „bisher nur einen sehr geringen Anstieg solcher Fälle auf”.
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Medscape Nachrichten © 2022
Diesen Artikel so zitieren: COVID-19 unter Verdacht – aber Experten sehen keinen Beweis für SARS-CoV-2 als Ursache von Leberschäden bei Kindern - Medscape - 23. Jun 2022.
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