MEINUNG

Gendergerechtigkeit in der Medizin und der Sprache: Es geht um Teilhabe, Macht und die „gläserne Decke“

Christian Beneker

Interessenkonflikte

22. Juni 2022

Dr. Christiane Groß ist Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes (DÄB). Eigentlich wollte sie beim diesjährigen Ärztetag in Bremen das Gender-Thema nicht ansprechen. Dann aber kam alles ganz anders. Mit Medscape sprach die gelernte Allgemeinmedizinerin und Psychotherapeutin über Macht, die „gläserne Decke“ und die Frage, ob man die BÄK in „Bundesärztinnenkammer“ umbenennen sollte.

Dr. Christiane Groß

Medscape: Frau Dr. Groß, waren Sie überrascht, dass das Thema Gendergerechtigkeit beim letzten Ärztetag in Bremen so intensiv diskutiert wurde? Die Umbenennung der BÄK in die „Bundesärztinnenkammer“ ist ja nur knapp gescheitert.

Groß: Na ja, wir hatten schon auf dem Ärztetag 2019 das Gendern thematisiert. Damals wollte sich das Gremium mit dem entsprechenden Antrag gar nicht erst befassen. 2021 war das schon anders. Dort reichte es zur Vorstandsüberweisung, wenn auch bis heute ohne Konsequenzen. Nach diesen Erfahrungen wollte ich das Thema in Bremen nicht erneut ansprechen, eine Denkpause lassen. Umso mehr habe ich mich gefreut, dass es die Kollegin Helene Michler getan hat.

Medscape: Worum geht es eigentlich Ihrer Meinung nach bei der Gender-Debatte und der Gleichberechtigung? Um Macht? Teilhabe? Fairness?

Groß: Ich glaube, es geht um Teilhabe. Wenn Frauen nicht überall auf Widerstände stoßen würden, dann hätten wir diese Diskussion um die Teilhabe nicht, und wahrscheinlich würde auch die Debatte über die gendergerechte Sprache nicht so scharf geführt.

 
Wenn man Teilhabe als Teilhabe an der Macht betrachtet, dann kann man sagen, dass Frauen daran gehindert werden, an der Macht teilzuhaben. Dr. Christiane Groß
 

Medscape: Teilhabe – woran? An der Macht?

Groß: Wenn man Teilhabe als Teilhabe an der Macht betrachtet, dann kann man sagen, dass Frauen daran gehindert werden, an der Macht teilzuhaben.

Medscape: Warum ist Macht in der Debatte um Frauen in Führungspositionen so ein Tabuthema?

Groß: Es fällt Frauen genauso schwer zuzugeben, dass sie Macht ausüben wollen, wie Männern. Sie zu haben und sich machtvoll zu positionieren, gilt als Tabu. Männer und Frauen wollen sie haben, und sie sind zugleich nur ungern bereit, ihr Machtstreben zuzugeben. Vielleicht möchten sie auch nicht gerne darauf hingewiesen werden, dass sie diese Macht nicht teilen wollen. Leider haben Frauen noch nicht ausreichend gelernt, Macht zu beanspruchen.

Medscape: Wie sieht Ihrer Meinung nach gute, machtvolle Führung aus?

Groß: Jeder guten Führungsperson geht es nicht um die eigene, persönliche Macht. Sondern ihr geht es um das Team, um das, was produziert wird, oder darum, wie medizinische Versorgung organisiert wird. Wenn solche Machtausübung das System voranbringt, dann würde ich von einem guten Einsatz von Macht sprechen.

Medscape: Frauen beklagen die „gläserne Decke“. Sie verhindert, dass sie in die Spitzenposten etwa an den Unikliniken, Ärztekammern oder auch den KVen aufsteigen. Woran bemerken Sie diese „gläserne Decke?“

Groß: Seit 20 Jahren beobachte ich Kammern, Fachgesellschaften oder die KVen. In den KVen kandidieren zu wenige Frauen auf aussichtsreichen Plätzen. Außerdem stelle ich fest: Führungspersönlichkeiten werden oft zu lange auf ihren Posten belassen. Wenn jemand in einer Führungsposition immer wiedergewählt werden kann, hat diese Person kein Interesse, einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin für sich heranzuziehen.

Und wenn doch, dann greift der „Thomas-Kreislauf“. Das bedeutet, dass Amtsinhabende Menschen fördern, die so heißen wie sie selber, die so handeln wie sie selber, die so sind wie sie selber. Es wäre schon ein Schritt, die Amtszeiten zu begrenzen!

Wenn ich nur 2-mal wiedergewählt werden kann, habe ich natürlich eher ein Interesse an einer guten Nachfolgerin oder einem guten Nachfolger. Leider bewegt sich da in der Selbstverwaltung und den Fachgesellschaften nur wenig. Ich bin für frischen Wind durch begrenzte Amtszeiten!

 
Wenn ich nur 2-mal wiedergewählt werden kann, habe ich natürlich eher ein Interesse an einer guten Nachfolgerin oder einem guten Nachfolger. Dr. Christiane Groß
 

Ein weiteres Problem für Frauen ist, dass Inhaber von Spitzenpositionen oft in eine weitere Spitzenposition berufen werden. Selbst wenn dieser Berufung eine Wahl vorausgeht, hilft das auch wenig, da die Wahlgremien auch weiterhin mehrheitlich männlich besetzt sind. Oft besteht noch nicht einmal das Bewusstsein, dass es hier ein Ungleichgewicht gibt.

Medscape: Sie sagen, dass Sie die Gleichberechtigungs- und Genderdebatte früher gar nicht interessiert hat. Heute ist das anders. Was hat Sie umgestimmt?

Groß: Ich habe festgestellt, dass es jungen Frauen, gerade auch in der Medizin, an inneren Bildern für Frauen an der Macht fehlt. Bei einem Workshop mit 10 Medizinstudentinnen und 3 -studenten habe ich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer gefragt, wo sie in 15 Jahren stehen wollen.

Die Männer hatten klare Vorstellungen von ihren Karrieren, etwa als Chefarzt in einem bestimmten Fach. Den Frauen fehlten solche Bilder. Ihnen fehlten offensichtlich klare Ziele. Da habe ich mich entschlossen, mich um die Frauen und ihre Chancen mehr zu kümmern.

 
In der Medizin herrschen männlich geprägte Berufsbilder vor … Dabei haben wir in der Ärzteschaft mehr als 50% Frauen. Dr. Christiane Groß
 

In der Medizin herrschen männlich geprägte Berufsbilder vor – zum Beispiel „der Chefarzt“. Dabei haben wir in der Ärzteschaft mehr als 50% Frauen. Da ist es eine Frage der Gerechtigkeit, das Gendersternchen zu benutzen oder das große „I“. Ich finde es allerdings oft zu sperrig, jedes Mal beide Geschlechterformen zu nennen: Ärztin und Arzt, Patientinnen und Patienten – und so weiter

Medscape: Vertreter von Behindertenverbänden, etwa der Sehbehinderten, argumentieren gegen das Gendersternchen, weil Sehbehinderte dann große Schwierigkeiten beim Lesen bekommen.

Groß: Das Argument kann ich verstehen. Allerdings muss man berücksichtigen, dass Sprache sich immer verändern wird und vielleicht das Gendersternchen irgendwann ganz normal und akzeptiert wird. Mir würde es sehr entgegenkommen, wenn wir weitere Begriffe finden, die beide Geschlechter beinhalten. Bei den „Studierenden“ ist es gut gelungen.

Ganz schrecklich finde ich, wenn ein neutraler Begriff feminisiert wird, wie wir es leider öfter bei dem Begriff Mitglied hören und sehen müssen. Die gendergerechte Sprache muss leichter werden und damit würde dann sicher auch die Diskussion weniger hart geführt werden.

Medscape: Welchen Einfluss hat die gendergerechte Haltung auf die Medizin?

Groß: Das geht natürlich hin zur Gendermedizin. Inzwischen weiß jeder Kardiologe und jede Kardiologin, dass Frauen bei einem Herzinfarkt andere Symptome haben können als Männer. Vor 20 Jahren wusste niemand davon. Lange Jahre wurden Medikamente nur an Männern erforscht, auch das hat sich geändert. Grundsätzlich müssen Frauen anders versorgt werden als Männer. Dazu braucht es ein noch viel stärker ausgeprägtes Bewusstsein in der Versorgung, auch bei den Patientinnen und Patienten selbst.

Medscape: Ist Gendermedizin ein Schritt zur personalisierten Medizin?

Groß: Auf jeden Fall! Gendermedizin ist Medizin für Frauen und Medizin für Männer, aber zu berücksichtigen sind auch die Unterschiede bei Kindern, alten Menschen und Menschen anderer Ethnien.

Medscape: Dann wäre die heutige Gendermedizin so etwas wie eine Avantgarde.

Groß: Das könnte man so sagen.

Medscape: Wo stehen wir in 10 Jahren?

Groß: Da werden wir nicht viel weiter sein, fürchte ich. 2016 waren nur 10% der Führungspositionen in der Universitätsmedizin von Frauen besetzt. 2019 waren es 13% und bis 2022 ist der Anteil nicht weiter gestiegen. Er stagniert. Kein Wunder, denn die Berufungskommissionen sind immer noch männlich. Das bedeutet anhaltend schlechtere Chancen für Frauen. Aber irgendwann werden wir zu einem Punkt kommen, an dem wir nicht mehr darüber reden müssen – an dem nur noch die Qualität zählt.

Medscape: Wann wird das sein?

Groß: 2050. Vielleicht.
 

Kommentar

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