Weißer Kittel, graue Haare: Sollte es Altersgrenzen für die Ausübung des ärztlichen Berufs geben?

Maria Weiß, Dr. Nina Mörsch

Interessenkonflikte

22. Juni 2022

Anders als bei Piloten oder bei Angestellten im Auslandsdienst gibt es für Ärzte in den USA keine Altersgrenze, ab der sie ihren Beruf nicht mehr ausüben dürfen. Angesichts der allgemeinen Alterung der Ärzteschaft gewinnt die Frage „wie alt ist zu alt“ aber auch in Deutschland zunehmend an Bedeutung.

Arbeiten jenseits des Rentenalters

Etwa 30% der Ärzte haben in den USA das normale Rentenalter eigentlich schon überschritten. Altersgrenzen oder vorgeschriebene Untersuchungen ab einem bestimmten Alter sucht man meist vergebens. Auch die Öffentlichkeit scheint mit längst ergrauten Medizinern keine größeren Probleme zu haben, wie Medscape.com berichtet.

In Deutschland gehören laut der aktuellen Ärztestatistik der Bundesärztekammer über 13% aller Ärzte der Altersgruppe der 60 bis 65 an und weitere 8,5% haben das 65. Lebensjahr überschritten.

80 ist nicht gleich 80

Dr. Mark Katlic vom Lifebridge Health System in Baltimore, Maryland, USA, hat sich viele Jahre mit dieser Thematik beschäftigt. Ein Problem bei starren Altersgrenzen für bestimmte Tätigkeiten ist die hohe gesundheitliche Variabilität von Senioren.

80-Jährige unterscheiden sich deutlich stärker untereinander als beispielsweise 40-Jährige. So können einige ältere Menschen noch problemlos Studenten unterrichten, einen 10-km-Lauf absolvieren oder komplizierte Operationen durchführen. Andere haben bereits Schwierigkeiten, ihr Hemd ordentlich zuzuknöpfen, ein paar Stufen hochzulaufen oder sich an ihre letzte Mahlzeit zu erinnern. Das funktionelle Alter hat somit nichts mit dem chronologischen Alter zu tun.

Praxisgründung mit 82 Jahren

Von ähnlichen Beispielen lässt sich auch hierzulande berichten: So stellte die Ärztezeitung kürzlich Hausärzte vor, die mit über 70 Jahren den Schritt in die Selbstständigkeit gewagt haben, etwa der Allgemeinmediziner Dr. Maciej Kowalski. Er ist mit 82 Jahren einer der ältesten niedergelassenen Ärzte im Saarland ist und hat Anfang des Jahres eine neue Praxis eröffnet. Als Hauptmotivation nannte der Mediziner seine blendende Gesundheit. „Ich habe Glück, dass ich noch so fit bin. Und es war einfach pures Glück, dass mit der neuen Zulassung im vergangenen Jahr alles unkompliziert geklappt hat,“ zitiert ihn die Ärztezeitung.

In Baden-Württemberg plante vor etwa zwei Jahren eine Hausärztin mit 69 Jahren, in den wohlverdienten Ruhestand gehen. Doch nach Protesten von Patienten, die ihre wohnortnahe Versorgung gefährdet sahen, hat sie noch mal durchgestartet – von Bürokratie befreit als angestellte Ärzte im MEDI-MVZ.

Gründe andere Ärzte für diesen Schritt sind unter anderem wirtschaftlicher Natur oder Probleme, Nachfolger für ihre Praxis zu finden. Anderen fällt es einfach schwer, plötzlich nicht mehr zu arbeiten.

Altersdiskriminierung vermeiden

Altersbasierte Tests empfindet Frank Stockdale, ein noch praktizierender 86-jähriger Onkologe an der Stanford University, Kalifornien, daher als „Altersdiskriminierung“. Während ihrer Karriere müssen Ärzte ihre beruflichen Fähigkeiten ohnehin immer wieder unter Beweis stellen, daran ändert auch ein bestimmtes Alter nicht. Eventuell sollten Leistungsüberprüfungen ebenfalls für jüngere Ärzte gelten. Auch an anderen Orten in den USA hat sich älteres ärztliches Personal erfolgreich gegen solche Screening-Untersuchungen gewehrt.

Alterungsprozesse machen vor ärztlichem Personal nicht halt

Der Geriater Dr. James Ellison weist darauf hin, dass das Alter sowohl Vor- als auch Nachteile mit sich bringt. Erfahrungsbasiertes Wissen und Selbstvertrauen nehmen mit den Jahren zu – und damit auch die diagnostische Genauigkeit. Auf der anderen Seite lassen sich altersbedingte Veränderungen wie ein Volumenverlust des Gehirns und sinkende Neurotransmitterspiegel nicht wegdiskutieren.

Wie Sportler mit zunehmendem Alter langsam Geschwindigkeit, Kraft und Flexibilität verlieren, können Chirurgen an Koordinationsfähigkeit, Kraft und Sehschärfe bei schwierigen Operationen einbüßen. Auch die Prozessgeschwindigkeit, das Arbeitsgedächtnis und exekutive Funktionen sind im Alter oft eingeschränkt. Zudem macht die Alzheimer-Demenz vor älteren Ärzten nicht halt.

Willkürlich gezogene Altersgrenzen für medizinische Tätigkeiten werden der Problematik nicht gerecht. Als möglichen Ausweg nennen Experten Screening-Programme für ältere Mitarbeitende, die in den USA nur an wenigen Einrichtungen existieren, obwohl Defizite älterer Ärzte häufig von Kollegen registriert werden. Dies können Hygienemängel, Erinnerungslücken oder Orientierungsstörungen auf dem Weg zurück ins Büro sein – aber auch das Einnicken während einer Prozedur. Nicht selten werden solche Einbußen nicht gemeldet, sondern durch eine entsprechende Unterstützung des Kollegen kompensiert. Dies kann lange gutgehen, bis die Defizite zu offensichtlich werden und zu gefährlichen Situationen führen.

Am Lifebridge Health System werden noch nicht berentete Ärzte ab dem 75. Lebensjahr alle 2 Jahre getestet: nicht nur in der Chirurgie, sondern in allen Fachrichtungen. Jeder Arzt sollte kognitiv in der Lage sein, auch unter schwierigen Umständen rasche Entscheidungen zu treffen.

Der Beitrag ist im Original erschienen auf Coliquio.de .
 

Kommentar

3090D553-9492-4563-8681-AD288FA52ACE
Wir bitten darum, Diskussionen höflich und sachlich zu halten. Beiträge werden vor der Veröffentlichung nicht überprüft, jedoch werden Kommentare, die unsere Community-Regeln verletzen, gelöscht.

wird bearbeitet....