Eine Studie aus den USA zeigt, wie wichtig es ist, bei Patienten, die mit Schilddrüsenhormon behandelt werden, Euthyreose zu erreichen. Eine therapeutisch verursachte Hyperthyreose bzw. eine exogene Hypothyreose waren mit einem signifikant erhöhten kardiovaskulären Sterberisiko assoziiert.
„Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Intensität der Schilddrüsenhormontherapie ein modifizierbarer Risikofaktor für die kardiovaskuläre Mortalität sein könnte“, schreiben Dr. Josh M. Evron von der Division of Endocrinology and Metabolism an der University of North Carolina in Chapel Hill und seine Koautoren in JAMA Network Open [1].
Frühere Studien haben bereits Hinweise darauf geliefert, dass das kardiovaskuläre Risiko ab einem TSH-Wert von 10 mU/l ansteigt. „Diese Studie zeigt uns, dass dies bereits ab einem niedrigeren TSH-Wert von 5,5 mU/l der Fall ist“, kommentiert Prof. Dr. Jörg Bojunga vom Beirat der Sektion Schilddrüse der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie
Übertherapie mit Schilddrüsenhormon ist weit verbreitet
In Deutschland sei die Übertherapie mit Schilddrüsenhormon bzw. L-Thyroxin ein großes Problem, betont der Stellvertretende Direktor der Klinik und Leiter der Endokrinologie und Diabetologie sowie Ernährungsmedizin am Universitätsklinikum Frankfurt im Gespräch mit Medscape: „Aus Studien wissen wir, dass 30-50% aller Schilddrüsenüberfunktionen durch die Behandlung mit Schilddrüsenhormon bedingt sind. Ein großer Teil der Hyperthyreosen sind also gar keine Erkrankungen, sondern werden durch die falsche Therapie verursacht.“
Tatsächlich gehören Schilddrüsenhormone zu den am häufigsten verschriebenen Medikamenten in Deutschland, aber auch in anderen Ländern. „In den letzten Jahren haben die Verschreibungen immer weiter zugenommen. Eine britische Studie hat gezeigt, dass die meisten der damit behandelten Menschen nach den Leitlinien gar keine Indikation dafür haben“, ergänzt Bojunga.
Retrospektive Datenanalyse
Ein Blick auf Details. Die Forschungsgruppe um Evron analysierte retrospektiv Daten von 705.307 Erwachsenen, die mit Schilddrüsenhormon behandelt und zwischen 2 und 9 Jahren nachbeobachtet wurden. Die meisten von ihnen waren Männer (88,7%) im Alter von im Schnitt 67 Jahren. Für die meisten von ihnen standen mindestens 2 TSH-Messwerte zur Verfügung, für einen kleineren Teil auch noch mindestens 2 FT4-Messwerte.
Als Referenzbereich für eine Euthyreose wurde ein TSH-Wert zwischen 0,5 und 5,5 mU/l und ein FT4-Wert zwischen 0,7 und 1,9 ng/dl verwendet. Bei einem TSH-Wert unter 0,5 mU/l und einem FT4-Wert über 1,9 ng/dl wurde von einer exogenen Hyperthyreose ausgegangen. Ein TSH-Wert über 5,5 mU/l und ein FT4-Wert unter 0,7 ng/dl wurde als exogene Hypothyreose angesehen.
Erhöhtes Sterberisiko
Insgesamt verstarben im Zeitraum der Nachbeobachtung 75.963 Patienten (10,8%) an einem kardiovaskulären Ereignis: Herzinfarkt, Herzinsuffizienz oder Schlaganfall.
„Sowohl Patienten mit exogener Hyperthyreose als auch Patienten mit exogener Hypothyreose hatten ein erhöhtes Risiko, an einer kardiovaskulären Erkrankung zu versterben“, berichten die Autoren. Diese Assoziation habe auch noch nach Anpassung um Alter, Geschlecht und traditionelle kardiovaskulären Risikofaktoren bestanden.
Zu viel oder zu wenig – beides schlecht für die kardiovaskuläre Gesundheit
Lag eine exogene Hypothyreose mit einem TSH-Wert unter 0,1 mU/l vor, war das kardiovaskuläre Sterberisiko im Vergleich zu euthyreoten Patienten zum Beispiel um 39% erhöht. Bei einem FT4-Wert über 1,9 ng/dl stieg das Risiko um 29% an.
Und bei Patienten mit exogener Hypothyreose war zum Beispiel ein TSH-Wert über 20 mIU/l mit einem um 167% erhöhten kardiovaskulären Risiko assoziiert. Bei einem FT4-Wert unter 0,7 ng/dl betrug die Risikoerhöhung 56%.
Abweichungen von den Leitlinien
Die Leitlinien der American Thyroid Association und der European Thyroid Association empfehlen, mit einer L-Thyroxin-Therapie zu beginnen, falls das TSH über 10 mU/l liegt. Einigen Expertenempfehlungen zufolge ist auch schon ab einem TSH-Wert von 7 mU/l eine Therapie möglich. „Aber viele Ärzte behandeln schon ab einem TSH-Wert von 4,5 mU/l, das sollte man außerhalb von Schwangerschaften nicht regelhaft machen, vor allem nicht ohne Kontrolle, da sich viele Werte auch wieder normalisieren“, warnt Bojunga.
Er weist darauf hin, dass die mit einer leichten Schilddrüsenunterfunktion einhergehenden Beschwerden sehr unspezifisch seien: „Abgeschlagenheit, Müdigkeit, Gewichtszunahme, sexuelle Unlust – wir wissen aus Studien, dass diese Symptome sich nicht bessern, wenn man bei leicht erhöhtem TSH bereits Schilddrüsenhormon gibt.“ Zu beachten sei auch, dass sich die Beschwerden mit Symptomen der Menopause überschneiden. „Deshalb haben Frauen in den Wechseljahren ein besonders hohes Risiko, unnötig Schilddrüsenhormon zu bekommen.“
Kontrollen sind entscheidend
Falls Ärzte bei gesicherter Indikation mit Schilddrüsenhormon behandeln, sollten sie die Behandlung auch überwachen, um zu evaluieren, ob die Patienten im richtigen Bereich sind. Dabei gilt, dass in der Einstellungsphase häufiger kontrolliert werden sollte, sind die Werte stabil, reichen dann jährliche TSH-Messungen.
„Eine Schwäche der Studie ist, dass sie nicht nach Altersgruppen differenziert, alle TSH-Werte über 5,5 mU/l gelten als Hypothyreose“, sagt Bojunga. „Wir wissen heute aber, dass man es unter anderem vom Alter, vom Geschlecht und von der Körpermasse des Patienten abhängig machen muss, welche Dosis an L-Thyroxin man gibt bzw. welchen Referenzbereich man mit der Therapie anstrebt.“
Ältere brauchen weniger, Jüngere mehr Schilddrüsenhormon
Da die Schilddrüsenfunktion im Alter schlechter wird und dadurch das TSH ansteigt, wird bei älteren Menschen auch der TSH-Referenzbereich höher angesetzt. „Die US-Leitlinie empfiehlt zum Beispiel für 70-Jährige einen TSH-Wert zwischen 4 und 6 mU/l“, so Bojunga. „Deshalb sollte man bei älteren Menschen viel zurückhaltender mit der Therapie sein, während jüngere Menschen eher mehr Schilddrüsenhormon benötigen.“
Der Schilddrüsen-Spezialist weist außerdem darauf hin, dass in Deutschland immer noch zu häufig Schilddrüsenknoten mit einer L-Thyroxin-Dauertherapie behandelt werden. „Dass dies nicht geschehen soll, dazu gibt es sogar eine Negativempfehlung der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie im Rahmen der Klug-entscheiden-Initiative“, betont Bojunga.
Ebenfalls überholt sei die Vorstellung, dass man die Schilddrüse entlasten kann, indem man von außen Schilddrüsenhormon zuführt. „Das stimmt vor allem für ältere Menschen nicht; bei Jüngeren kann man es erwägen, aber nicht bei Älteren.“
Individuelle Therapie ist extrem wichtig
„Es ist extrem wichtig, die Therapie mit Schilddrüsenhormon zu individualisieren“, betont Bojunga. „Wir müssen zwischen jüngeren und älteren Patienten unterscheiden, bei Frauen in den Wechseljahren zurückhaltender sein und darauf achten, welche anderen Erkrankungen der Patient aufweist.“
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Medscape Nachrichten © 2022
Diesen Artikel so zitieren: Gefährliche Übertherapie: Hyperthyreose durch Schilddrüsenhormon mit höherer kardiovaskulärer Mortalität assoziiert - Medscape - 20. Jun 2022.
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