Transkript des Videos von PD Dr. Georgia Schilling und Prof. Dr. Dirk Arnold, Hamburg:
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer,
mein Name ist Georgia Schilling. Ich bin leitende Oberärztin des Asklepios-Tumorzentrums in Hamburg und ich freue mich, dass in guter alter Tradition mein Chef, Prof. Dr. Dirk Arnold, Medizinischer Direktor des Asklepios-Tumorzentrums Hamburg, hier neben mir sitzt und wir wieder ein Interview zu den Highlights im Bereich der gastrointestinalen Tumoren beim ESMO-Kongress 2022 führen können.
Es war m.E. ein ziemlich aufregender ESMO-2022-Kongress, was die Präsentationen zu den Tumoren im unteren GI-Trakt betrifft. Ich konnte mich schwer entscheiden, Abstracts auszuwählen, ich hoffe aber nun, dass wir eine gute Auswahl getroffen haben. Es war viel Material.
HIPTEC4-Studie
Schilling: Beginnen möchte ich mit der HIPTEC4-Studie [1]. Sie wurde von chirurgischen Kollegen durchgeführt und präsentiert. In der Studie wurde die adjuvante hyperthermische intraperitoneale Chemotherapie (HIPEC) bei Patienten mit lokal fortgeschrittenem Kolonkarzinom und einem T4-Tumor untersucht.
Bei diesem Patientenkollektiv kommt es bei einem Viertel der Fälle in den ersten 3 Jahren zu peritonealen Rezidiven. Die HIPEC ist allerdings immer noch ziemlich umstritten. In der Studie wurden Patienten randomisiert nur operiert oder operiert und mit einer HIPEC mit Mitomycin C behandelt. Beide Gruppen wurden anschließend adjuvant chemotherapiert.
Die lokale Kontrolle war besser im HIPEC-Arm, aber im Gesamtüberleben (OS) und im krankheitsfreien Überleben (DFS) zeigten sich keine Unterschiede. Auch in Morbidität und Toxizität zeigten sich keine Unterschiede, was erfreulich ist. Wie ordnest Du diese Studie ein?
Arnold: Ja, das ist eine schwierige Sache, sie hat zu heftigen Diskussionen geführt. Sie war selten so kontrovers in Vorstellung und Kommentar. Die Autoren finden, dass die Reduktion der Lokalrezidiv-Wahrscheinlichkeit relevant ist, das waren numerisch 12% weniger, also fast eine Halbierung des relativen Lokalrezidiv-Risikos.
Es gab viel Kritik am Studiendesign, nicht zuletzt auch an der Durchführung der adjuvanten Therapie und dem Fehlen eines Gesamt-DFS oder OS-Vorteils. Man limitiert damit auch wieder die mögliche Wertigkeit des Lokalrezidivs.
Schilling: Ist das jetzt die Reanimation oder die Beerdigung der HIPEC?
Arnold: Ich glaube, es hilft nicht so richtig weiter. Wir haben keinen Stellenwert für die HIPEC auf Grund der PRODIGE-7-Studie, die vor Jahren publiziert worden ist. Die französischen Kollegen haben schon eine weitere Studie gemacht, in der sie Patienten mit bestehender peritonealer Infiltration, nicht nur T4-Tumoren, mit HIPEC behandelt haben. Auch diese Studie hat keinen Vorteil gezeigt.
Insofern glaube ich nicht, dass diese Studie dazu da ist, das Blatt zu wenden, um zu sagen, jetzt ist die HIPEC wieder da.
Gerade unter deutschen Chirurgen wird immer sehr heftig diskutiert, ist die PRODIGE-7-Studie so negativ, weil sie mit Oxaliplatin und nicht mit Mitomycin durchgeführt worden ist. Hier haben wir jetzt eine Mitomycin-Studie, aber ich glaube trotzdem nicht, dass dies wegweisende Unterschiede in sich trägt.
KRYSTAL-1- und CodeBreak-101-Studie mit KRASG12C-Inhibitoren
Schilling: Dann würde ich gern 2 Abstracts diskutieren, in denen es um die Inhibition der KRASG12C-Mutation geht, die wir seit längerem auch beim Bronchialkarzinom kennen. Es geht zum einen um die KRYSTAL-1-Studie mit Adagrasib ± Cetuximab [2] und um die CodeBreak-101-Studie mit Sotorasib plus Panitumumab beim refraktären, sehr weit fortgeschrittenen KRASG12C-mutierten Kolorektalkarzinom [3]
In beiden Studien war die Kombination deutlich besser als die Monotherapie. Das heißt, wir setzen diese Substanzen jetzt auf jeden Fall in der Kombination ein?
Arnold: Hoffen wir mal, dass wir sie bald einsetzen können. Sie sind aktiv. Beide selektiven KRASG12C-Inhibitoren haben in den Studien in Kombination mit unterschiedlichen EGF-Rezeptor-Antikörpern – das ist ein Substanzklasseneffekt – gezeigt, dass fast alle Patienten eine Krankheitsstabilisierung hatten. Zwei Drittel der Patienten zeigten ein objektives Tumoransprechen, trotz einer nicht unerheblichen Vortherapie. Das heißt, sie sind aktiv. Diese Doppelinhibition wirkt.
Aber das Problem ist, dass sie nicht lang wirkt. Das mittlere progressionsfreie Überleben (PFS) war unter der Kombination um die 5 Monate. Auch die Patienten, die angesprochen haben, haben im Median nur 7 Monate angesprochen, dann ging die Sache wieder los.
Damit können wir zeigen, dass wir Tumoren mit dieser Mutation beherrschen können, dieser Effekt ist aber nicht sehr langfristig. Hier müssen wir eher nach weiteren geeigneten Kombinationspartnern suchen, die dann aktivierende Mutationen, die sich als Resistenzmechanismus negativ auswirken, auch inhibieren können.
Schilling: In beiden Studien hatten die Patienten zahlreiche Vortherapien erhalten. Würdest Du diese Substanzen auch gerne in früheren Therapielinien sehen? Wir verlieren ja von Therapielinie zu Therapielinie Patienten. Die Substanzen sind beide sehr gut verträglich.
Arnold: Ich würde sie da schon gern sehen wollen, aber ich würde mir da keinen riesigen Unterschied versprechen. Die rasche Resistenzentwicklung wird auch dort stattfinden. Man kann zwar spekulieren, dass es während der Erstlinientherapie länger dauert. Aber sie werden die Biologie der Erkrankung alleine nicht so substanziell ändern, dass man von Beginn an diese geänderte Biologie automatisch mit einer verbesserten Prognose versehen wird.
Ich würde es gerne sehen, aber ich wäre nicht überrascht, wenn auch in der Erstlinientherapie kein so Riesen-Unterschied rauskommen wird.
Die kurze Zeit der Wirkung wird das Problem werden, die aktivierende Mutation treibt diese Tumoren. Die Frage ist, bleibt der Anfangstreiber über die gesamte Genese der Erkrankung der Treiber. Wenn das schon in der 3., 4. oder 5. Linie nicht sehr lange wirkt, dann wird es in der 1. Linie auch nicht sehr lange sein.
FRESCO-2-Studie
Schilling: Kommen wir zu einer weiteren Studie, die praktisch im gleichen Setting stattgefunden hat, nämlich weit fortgeschrittene metastasierte Kolorektalkarzinome. Es geht um die FRESCO-2-Studie mit Fruquintinib [4]. Hier wurde beim refraktären Kolorektalkarzinom sogar ein signifikant verbessertes Gesamtüberleben (OS) erreicht, der orale Tyrosinkinase-Inhibitor war gut verträglich mit wenig starken Nebenwirkungen. Auch hier die Frage, wo siehst Du die Substanz in der Zukunft? Auch wieder in der Last-Line?
Arnold: Ja. Es ist die beste Substanz, die wir in dieser Therapielinie haben. Wenn wir diese gefürchteten Cross-Trial-Comparisons vornehmen wollen z.B. mit anderen Studien, die im gleichen Studiendesign durchgeführt worden sind, wie die beiden Studien mit Regorafenib und die beiden Studien mit TAS-102, also Trifluridin/Tipiracil, und jetzt 2 Studien mit Fruquintinib – es gab schon FRESCO-1 bei chinesischen Patienten – dann sehen wir hinsichtlich der Effektivität, dass Fruquintinib gegen Placebo effektiver zu sein scheint als der andere TKI oder das Fluoropyrimidin. Auch die Verträglichkeit scheint ganz erfreulich gut zu sein.
Ich glaube, dass in den Cross-Trial-Comparisons zum einen Fruquintinib mit seiner guten Verträglichkeit sicher ein Standard ist, evtl. wird es der Standard in dieser refraktären Situation werden. Ob jetzt ein unselektiver Multi-TKI nach vorne in den Therapielinien geht und dort gut aufgehoben ist – da bin ich skeptisch. Ich glaube es eher nicht. Da brauchen wir selektivere Ansätze. M. E. haben wir aber für refraktäre Patienten damit einen wichtigen neuen Therapiestandard - hoffentlich auch bald zur Verfügung.
Schilling: Wann rechnest Du damit?
Arnold: Das ist jetzt eine Zulassungsfrage. Es wird sein obligates Jahr dauern, bis wir das haben. Wenn die Firma ein Compassionate-Use-Programm auflegt, was sie fast tun sollte bei dieser Datenlage, sollte es bald da sein.
NICHE-2-Studie
Schilling: Dann komme ich zu meinem ganz persönlichen Highlight des diesjährigen ESMO-Kongresses – über alle Abstracts, Studien und Vorträge hinweg – zur NICHE-2-Studie, dem LBA7 [5]. Sie wurde am 11. September 2022 im Präsidentensymposium von Dr. Myriam Chalabi, Niederländisches Krebs-Institut, Amsterdam, präsentiert.
Es ging um eine kurzzeitige neoadjuvante Doppel-Immuncheckpoint-Inhibitor-Therapie beim MMR-defizienten Kolorektalkarzinom. In Vorstudien, wie der NICHE-Studie, der Studie aus dem Memorial Sloan Kettering Cancer Center, die auf dem ASCO-Kongress präsentiert worden ist und die durch die Decke gegangen ist, obwohl es nur 14 Patienten waren, haben 100% der Patienten ein pathologisches Ansprechen gezeigt. Das war auch in der NICHE-2-Studie so, ohne dass die Operation verschoben werden musste, sind bis auf 3 alle Patienten zeitgerecht operiert worden. Wie schätzt Du diese Studie ein, siehst Du sie auch als Highlight?
Arnold: Ja, sie ist ein Highlight. Aber dieses Highlight ist nicht unvorbereitet gekommen. Wir haben in der Sloan-Kettering-Serie die klinischen Remissionen beim Rektumkarzinom gesehen und wir haben aus der NICHE-1-Studie von Myriam Chalabi auch die ersten klinischen Daten von 32 Patienten gesehen mit der hohen Raten von pathologischen Komplettremissionen. Die NICHE-2-Studie ist im Prinzip eine konfirmatorische Studie. Das Schöne daran ist, dass es jetzt eine große Patientengruppe ist mit über 100 Patienten. Da kann man schon was sagen.
Bis auf 2 Patienten hatten alle eine pathologische Remission (PR). Auch die 2 Patienten ohne PR hatten trotzdem nur noch 40% des Tumorgewebes. Das bei zwei Dritteln eine pathologische Komplettremission erreicht wurde, ist natürlich klasse. Bei der Studie ist besonders hervorzuheben, dass die Patienten sehr kurz behandelt worden sind. Sie erhielten einen Zyklus Nivolumab/Ipilimumab und dann noch einmal Nivolumab. Trotzdem reichte es, diese Tumoren so vollständig zu schädigen.
Jetzt stellt sich natürlich die Frage, was das klinisch bedeutet, wo ist der klinische Transfer. Beim Rektumkarzinom kann man diesen leicht machen und man kann sich eine Bestrahlung und Resektion sparen.
Beim Kolonkarzinom, wo wir von der Resektion weniger Morbidität haben und wo wir auf der anderen Seite aber auch ein Drittel der Patienten haben, die keine pathohistologische Komplettremission haben, wird es wahrscheinlich die Chirurgie bis auf Weiteres nicht ersetzen. Es sei denn, wir finden bessere zusätzliche Marker, wie z. B. ctDNA, die uns die Aussage erlauben, dass in bestimmten Fällen die Sache mit der medikamentösen Therapie erledigt ist.
Schilling: Die Behandlung war sehr kurz, wir haben 67% pathologische Komplettremission. Da ist ja auch noch Luft nach oben. Könnte man mit einer längeren Therapie noch mehr erreichen?
Arnold: Das ist eine gute Frage. Es ist spekulativ. Ich weiß es nicht. In dieser ersten Phase ging es sicher zunächst mal darum, dass man kurz therapiert. Eine längere Therapie wäre möglich und das wird sicher gemacht werden.
Schilling: Wie siehst Du den Stellenwert einer PE? Also wir therapieren jetzt 8 Wochen und dann gucken wir, welche Response wir erreicht haben, wenn die gut ist, dann…
Arnold: Wir haben jetzt keine Daten zur radiologischen Remission, wie gut Radiologie und Pathologie korrelieren, wir haben keine zusätzliche Endoskopie gehabt, um zu wissen, wie es intraluminal aussieht. Diese Punkte werden den therapeutischen Algorithmus prägen.
Schilling: Letzte Frage: In der Studie waren viele Patienten mit Lynch-Syndrom, wie auch in der Sloan-Kettering-Studie. Es war aber auch ein großer Anteil von Patienten mit sporadischer MMR-Defizienz, aber die haben nicht so gute Remissionsraten erreicht. Gibt es dafür eine Erklärung?
Arnold: Ja, das wissen wir von den Immuncheckpoint-Inhibitoren bei der metastasierten Situation, dass die Lynch-Patienten besser von der Immuntherapie zu profitieren scheinen als die Non-Lynch-Patienten. Die Unterschiede sind relativ komplex, sie hängen mit der hereditären Biologie zusammen. Das wird auch ein Faktor sein, den wir dann möglicherweise in den klinischen Algorithmen mit verarbeiten werden.
Schilling: Es gäbe noch viel zu diskutieren. Ganz herzlichen Dank, dass Du Dir wieder die Zeit genommen hast.
Ihnen zuhause liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, herzlichen Dank fürs Zuschauen und Zuhören und wir sagen Tschüss aus Paris.
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Diesen Artikel so zitieren: Onkologie im Gespräch: „Aufregende Studien“ zu Darmkrebs – unsere Experten diskutieren die Highlights vom Krebskongress in Paris - Medscape - 22. Sep 2022.
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