4 Medikamente, hochwirksam, wenig Nebenwirkungen, aber teuer: Prof. Dr. Hans-Christoph Diener gibt einen Überblick über den aktuellen Stand der Antikörper-Therapie gegen Migräne
Transkript des Videos von Prof. Dr. Hans-Christoph Diener, Duisburg-Essen
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
ich bin Christoph Diener von der Medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen.
Der Monat Mai war bezüglich wichtiger neuer Studien nicht besonders ergiebig und alles, was beim Europäischen Schlaganfall-Kongress vorgestellt worden ist, hatte ich im Mai-Video bereits dargestellt.
Heute möchte ich mich auf den Einsatz monoklonaler Antikörper gegen Calcitonin Gene-related Peptide (CGRP) oder gegen den CGRP-Rezeptor bei Migräne konzentrieren.
1. Welcher wirkt am besten?
Es gibt mittlerweile 4 dieser monoklonalen Antikörper, und zwar
Erenumab in Dosierungen von 70 oder 140 mg subkutan alle 4 Wochen
Fremanezumab mit 225 mg 1mal pro Monat oder 675 mg alle 3 Monate
Galcanezumab mit 120 mg und 300 mg subkutan
Eptinezumab 100 mg und 300 mg intravenös
Wenn man die einzelnen monoklonalen Antikörper miteinander vergleicht, sind sie praktisch alle etwa gleich wirksam. Die 50%-Responder-Rate, also der Teil der Patienten mit einer Reduktion der Migränetage um 50% oder mehr, liegt zwischen 45 und 60%.
Bei Erenumab ist die höhere Dosis wahrscheinlich etwas besser wirksam. Fremanezumab hat den Vorteil, dass es Patienten gibt, die sich tatsächlich nur alle 3 Monate spritzen wollen. Eptinezumab hat durch die intravenöse Gabe einen besonders raschen Wirkungseintritt.
2. Wie häufig sind Nebenwirkungen?
Der große Vorteil dieser neuen Substanzen ist auf der einen Seite die Wirksamkeit und auf der anderen Seite das hervorragende Verträglichkeitsprofil. Es gibt sehr wenige Nebenwirkungen. Nur 3 bis 4% der Patienten brechen wegen Nebenwirkungen die Therapie ab.
Bei Erenumab ist eine besondere Nebenwirkung zu beachten, nämlich Verstopfung. Menschen, die bereits unter einer Verstopfung leiden, sollten besser nicht mit Erenumab behandelt werden.
3. Was sind die Zielgruppen?
Die Zielgruppen sind aufgrund der Kosten ganz eindeutig Patienten, die auf die bisherigen Migräneprophylaktika entweder nicht angesprochen haben, diese nicht vertragen haben oder bei denen diese kontraindiziert sind, sowie Patienten mit chronischer Migräne oder sehr häufiger Migräne.
In der Zwischenzeit gibt es einen direkten Vergleich zwischen Erenumab und Topiramat. Hier war Erenumab in 2 Aspekten eindeutig besser wirksam, nämlich es half besser als Topiramat und es gab sehr viel weniger Therapieabbrüche wegen Nebenwirkungen.
Insgesamt liegen die Therapieabbrüche bei monoklonalen Antikörpern zwischen 3 und 5%. Als neue Nebenwirkung wird eine Blutdruck-Erhöhung berichtet, das spielt im klinischen Alltag aber praktisch keine Rolle.
4. Welches sind die idealen Kandidaten?
Patienten, bei denen die bisher verfügbaren Migräneprophylaktika nicht wirksam waren oder nicht vertragen wurden.
5. Was sind Parameter für einen Behandlungserfolg?
Die 50%-Responderrate oder eine absolute Reduktion der Migränetage zwischen 3 und 6 Tagen pro Monat.
6. Was wissen wir zu Langzeit-Wirksamkeit und Sicherheit?
Für einige der monoklonalen Antikörper gibt es jetzt Registerdaten über 1 bis 3 Jahre. Diese Substanzen verlieren nicht an Wirksamkeit und es treten auch keine neuen Nebenwirkungen auf.
7. Wie lange sollte man Patienten mit Migräne behandeln?
Die Leitlinien der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft nennen einen Zeitraum von 9 bis 12 Monaten. Dann bietet sich eine Medikamentenpause an. Nach 4 bis 6 Wochen kann man meist ermessen, ob der Patient weiter behandelt werden soll oder ob die Behandlung beendet werden kann.
8. Welche Population ist besonders wichtig?
Das sind Patienten mit Übergebrauch von Schmerz- oder Migränemitteln. Bei diesen Patienten sind die monoklonalen Antikörper ebenfalls hoch wirksam, ohne dass man eine Medikamentenpause oder einen Medikamentenentzug machen muss. Der Ablauf sieht so aus, dass diese Patienten zunächst auf einen monoklonalen Antikörper eingestellt werden. Nur wenn dieser nicht wirkt, muss ein Medikamentenentzug gemacht werden.
9. Was sollte man machen, wenn ein bestimmter monoklonaler Antikörper nicht gut oder nicht ausreichend wirkt?
Dann ist ein Switch durchaus sinnvoll, also z. B. von Erenumab auf einen der 3 anderen Antikörper oder wenn die 3 anderen Antikörper nicht funktionieren auf Erenumab.
10. Gibt es Kontraindikationen?
CGRP hat eine wichtige Rolle bei der Vasodilatation in bestimmten Geweben. Deswegen gibt es bestimmte Patientengruppen, die nach derzeitigem Kenntnisstand besser nicht behandelt werden sollten, weil es noch nicht genügend Sicherheitsdaten gibt. Das sind Patienten mit schwerwiegenden vaskulären Erkrankungen, also koronare Herzerkrankung, Zustand nach Herzinfarkt, TIA, Schlaganfall, Subarachnoidalblutung, Patienten mit COPD, mit entzündlichen Darmerkrankungen, mit Wundheilungsstörungen, mit Morbus Raynaud. Bei diesen Patientengruppen soll man im Moment noch sehr zurückhaltend sein mit dem Einsatz der monoklonalen Antikörper.
Zusammengefasst:
Diese Substanzen sind hoch wirksam, sie haben eine gute Adhärenz, weil sie injiziert und nicht geschluckt werden. Größter Vorteil ist die geringe Rate an Nebenwirkungen. Derzeitiger Wermutstropfen ist die eingeschränkte Verordnungsfähigkeit aufgrund der hohen Kosten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die monoklonalen Antikörper gegen CGRP oder gegen den CGRP-Rezeptor sind ein wichtiger Fortschritt in der Prophylaxe der Migräne
Ich bin Christoph Diener von der Medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen und bedanke mich fürs Zuhören und fürs Zuschauen.
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Diesen Artikel so zitieren: Neuro-Talk: Wann sollte man Migräne mit Antikörpern behandeln? Prof. Diener beantwortet in seinem Review die 10 wichtigsten Fragen - Medscape - 27. Jun 2022.
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