Rettung bei Migräne, Schlaganfall, Herzinfarkt und Schmerzen aller Art. ASS kann fast alles. Prof. Dr. Hans-Christoph Diener feiert den Geburtstag eines Tausendsassas.
Transkript des Videos von Prof. Dr. Hans-Christoph Diener, Duisburg-Essen
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
ich bin Christoph Diener von der Medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen. Üblicherweise berichte ich Ihnen hier welche wichtigen neuen Publikationen in der Neurologie im vergangenen Monat erschienen sind. Aber der Juni war ziemlich „lausig“, deshalb habe ich mir etwas anderes ausgedacht: Wir feiern das 125jährige Jubiläum von Aspirin (Acetylsalicylsäure, ASS).
Das ist ein unglaubliches Medikament, wenn man in Betracht zieht, dass es heute noch in großem Umfang weltweit eingesetzt wird. Das Ganze hat in Wuppertal mit Felix Hoffmann begonnen, der bemüht war, ein Schmerzmittel für Menschen mit Arthrose zu entwickeln, was besser magenverträglich und wirksam sein sollte als die bis dahin verfügbaren Medikamente.
Er synthetisierte die Acetylsalicylsäure. Aspirin wurde dann innerhalb kurzer Zeit weltweit zur Behandlung von Schmerzen, insbesondere von Gelenkschmerzen, eingesetzt.
Weltweit verbreitetes Schmerzmittel
Auch heute noch ist die ASS m.E. das weltweit am weitesten eingesetzte Schmerzmittel. Sie ist auch bei Spannungskopfschmerzen wirksam. Bei Migräne ist sie wahrscheinlich genauso wirksam wie die Triptane.
In vielen europäischen Ländern gibt es eine spezielle Applikationsform, nämlich die intravenöse Zubereitung zur Behandlung des Status migränosus oder akuter Migräneattacken durch den Notarzt oder den hausärztlichen Notdienst. ASS ist übrigens auch migräneprophylaktisch in einer Dosis von 300 mg am Tag wirksam.
Hemmung der Blutgerinnung
In den 1930er Jahren ist im Bereich des Mississippi einem Zahnarzt aufgefallen, dass Menschen, die ASS wegen Gelenkschmerzen einnehmen, bei Zahnextraktionen vermehrt geblutet haben. Er begann dann, diese Patienten zu fragen, ob sie schon Blutungskomplikationen hatten oder andere Ereignisse aufgetreten waren. Dabei ist ihm aufgefallen, dass Menschen, die regelmäßig ASS nahmen, offenbar keine Herzinfarkte hatten.
Es hat dann allerdings bis zur Mitte der 1970er Jahre gedauert, bis wirklich klar war, dass ASS ein Thrombozytenfunktionshemmer ist und möglicherweise in der Sekundärprävention von vaskulären Erkrankungen wirksam ist.
1974 ist die erste randomisierte Studie im BMJ erschienen, die gezeigt hat, dass ASS in der Sekundärprävention nach Myokardinfarkt die Rate an vaskulären Ereignissen reduziert.
In den USA und Europa wurde ASS dann 1980 zur Sekundärprävention des Schlaganfalls und 1985 zur Sekundärprävention des Myokardinfarkts zugelassen.
Für fast 50 Jahre wurde ASS auch fast flächendeckend in der Primärprävention von vaskulären Ereignissen eingesetzt. In der Zwischenzeit gibt es allerdings genügend Studien, die zeigen, dass ASS in der Primärprävention nicht wirklich wirksam ist und lediglich das Blutungsrisiko erhöht.
In der Sekundärprävention ist ASS eindeutig wirksam beim Schlaganfall, die frühe Gabe direkt nach TIA und ischämischem Insult reduziert das Rezidivrisiko in den ersten 4 Wochen um 50% und in der Langzeittherapie um 20%.
Ganz spannend sind die Dosierungen. In den USA werden üblicherweise 81 oder 325 mg, in Europa praktisch flächendeckend 100 mg gegeben.
Dann konnte auch gezeigt werden, dass die Kombination von ASS und Clopidogrel nicht wirksamer ist als ASS alleine und Clopidogrel alleine. Allerdings ist die Kombination von Dipyridamol und ASS wirksamer als ASS alleine. Dies gilt auch für die Kombination von ASS mit Cilostazol.
In der Kurzzeitprophylaxe für einen Zeitraum von 10 bis 30 Tagen nach Hochrisiko-TIA und leichtem Schlaganfall konnte gezeigt werden, dass die Kombination von ASS plus Clopidogrel bzw. ASS plus Ticagrelor wirksamer ist als ASS alleine, allerdings ist auch das Blutungsrisiko höher.
Bei Menschen, die antikoaguliert werden müssen, ist die zusätzliche Gabe von ASS zur Antikoagulation nicht besser wirksam als die Antikoagulation alleine bei erhöhtem Blutungsrisiko.
Für den klinischen Alltag gibt es noch eine wichtige Beobachtung: Bei Menschen über 75 Jahren ist bei der Einnahme von ASS auch in niedriger Dosis das Risiko oberer gastrointestinaler Blutungen erhöht. Deswegen sollte in diesen Fällen ASS mit einem Protonenpumpenhemmer kombiniert werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, 125 Jahre Aspirin – unglaublich, dass ein Medikament über einen so langen Zeitraum verwendet wird, dass es sinnvoll ist, dass es preiswert ist, dass es relativ selten zu Blutungskomplikationen führt. Dabei habe ich den ganzen Bereich der Onkologie sowie andere Indikationen noch gar nicht erwähnt.
Also ein Grund zu feiern für Aspirin! Hoffentlich nicht, indem sie ASS wegen Kopfschmerzen einnehmen müssen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin Christoph Diener von der Medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen und bedanke mich fürs Zuhören und fürs Zuschauen.
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Diesen Artikel so zitieren: Neuro-Talk: 125 Jahre alt – Happy Birthday ASS! Wie ein pfiffiger Zahnarzt dazu beitrug, Millionen Herz- und Schlaganfallpatienten zu retten - Medscape - 18. Jul 2022.
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