Das „gute“ Cholesterin kann auch schlecht sein: Sehr hohes HDL-Cholesterin ist bei KHK mit einem höheren Sterberisiko assoziiert

Dr. Susanne Heinzl

Interessenkonflikte

13. Juni 2022

Entgegen der verbreiteten Annahme, dass HDL-Cholesterin (HDL-C) grundsätzlich „gut“ ist, sind sehr hohe HDL-C-Spiegel über 80 mg/dl bei Patienten mit koronarer Herzkrankheit (KHK) offenbar mit einem erhöhten Sterberisiko assoziiert. Zu diesem Schluss kommt eine prospektive, multizentrische Kohortenstudie aus den USA, deren Ergebnisse im Fachjournal JAMA Cardiology veröffentlicht wurden [1].

 
Dieser Schutzeffekt ist bei sehr hohen [HDL-C-]Spiegeln offenbar nicht vorhanden, das Risiko kann sich sogar erhöhen. Prof. Dr. Arshed A. Quyyumi
 

„Die Studie adressiert eine wichtige Wissenslücke“, sagt Prof. Dr. Arshed A. Quyyumi, Seniorautor und Direktor des Emory Clinical Cardiovascular Research Institute in Atlanta. „Die aktuell zur Verfügung stehenden und häufig eingesetzten Risikorechner behandeln einen hohen HDL-Cholesterin-Spiegel als Schutzfaktor. Aber dieser Schutzeffekt ist bei sehr hohen Spiegeln offenbar nicht vorhanden, das Risiko kann sich sogar erhöhen.“

Auch das Gesundheitsverhalten könnte eine Rolle spielen

In einem begleitenden Editorial weist PD Dr. Sadiya S. Khan allerdings darauf hin, dass die beobachtete Assoziation durchaus das Resultat residualer Störfaktoren sein könnte [2]. „In einer großen Bevölkerungsstichprobe werden der HDL-Cholesterin-Spiegel und die beobachteten Assoziationen möglicherweise vorwiegend von gesundheitlich relevanten Verhaltensweisen wie zum Beispiel dem Alkoholkonsum bestimmt“, schreibt die Kardiologin von der Northwestern University Feinberg School of Medicine in Chicago, die auch als Associate Editor des Fachjournals tätig ist.

Höhere Sterblichkeit statt kardiovaskuläre Protektion?

Die Ergebnisse der US-Forschungsgruppe kommen nicht gänzlich überraschend: Die lange etablierte Vorstellung, dass hohe HDL-C-Spiegel einen kardiovaskulär protektiven Effekt haben, wird durch neuere Befunde immer stärker in Frage gestellt.

So zeigten zum Beispiel 2 epidemiologische Studien aus Dänemark und Kanada eine Assoziation zwischen sehr hohen HDL-C-Werten und einer erhöhten Sterblichkeit in der Normalbevölkerung. Darüber hinaus ist es in den letzten Jahrzehnten in zahlreichen Studien nicht gelungen, durch eine pharmakologische Erhöhung des HDL-C-Spiegels das kardiovaskuläre Risiko zu verringern.

Was bewirkt hohes HDL-C bei KHK?

Wie sich sehr hohe HDL-C-Werte bei Patienten mit KHK auswirken, war unbekannt. Erstautorin Chang Liu von der Division of Cardiology an der Emory University School of Medicine in Atlanta und ihre Kollegen untersuchten, ob ein Zusammenhang mit dem allgemeinen sowie dem kardiovaskulären Sterberisiko besteht. Hierzu verwendeten sie die Daten von 14.478 KHK-Patienten aus der UK-Biobank (UKB) und von 5.467 KHK-Patienten der Emory Cardiovascular Biobank (EmCAB).

Zu wenig HDL-C ist nicht gut, zu viel aber auch nicht

Über eine mittlere Nachbeobachtungszeit von 8,9 Jahren in der UKB und 6,7 Jahren in der EmCAB war eine U-förmige Assoziation mit den Outcomes zu beobachten. Sowohl KHK-Patienten mit niedrigen als auch KHK-Patienten mit sehr hohen HDL-C-Spiegeln hatten – im Vergleich zu denjenigen mit mittleren Werten – ein erhöhtes Risiko.

Nach Adjustierung um verschiedene Störfaktoren waren sehr hohe HDL-C-Spiegel (> 80 mg/dl) in der UKB-Kohorte mit einem erhöhten Risiko für Tod jedweder Ursache (Hazard Ratio: 1,96) sowie für kardiovaskulär bedingten Tod (HR: 1,71) assoziiert. Die Vergleichsgruppe hatte HDL-C-Werte im Bereich von 40-60 mg/dl. Die Ergebnisse in der EmCAB-Kohorte fielen vergleichbar aus.

Genvarianten spielen keine Rolle, das Geschlecht aber schon

Weitere Untersuchungen in der ULB-Kohorte zeigten, dass genetische Polymorphismen, die mit hohem HDL-C verbunden sind, an den beobachteten Assoziationen nichts änderten.

 
Berichte über einen derartigen Zusammenhang hat es bisher nur für Menschen ohne bekannte KHK gegeben. Chang Liu und Kollegen
 

Sensitivitätsanalysen ergaben, dass Männer mit sehr hohen HDL-C-Spiegeln über 80 mg/dl im Vergleich zu Frauen ein höheres Risiko für Tod jedweder Ursache hatten.

HDL-C-Partikel könnten sich von anti- zu proinflammatorisch wandeln

„Unsere Kohortenstudie zeigt, dass sehr hohe HDL-C-Spiegel bei Patienten mit KHK paradoxerweise mit einem erhöhten Sterberisiko assoziiert sind“, schreiben die Autoren. „Berichte über einen derartigen Zusammenhang hat es bisher nur für Menschen ohne bekannte KHK gegeben.“

 
Ärzte sollten sehr niedrige und sehr hohe HDL-C-Spiegel als Warnsignal ansehen. PD Dr. Sadiya S. Khan
 

Die Assoziation zwischen sehr hohen HDL-C-Spiegeln und dem Sterberisiko könnte durch heterogene Gruppen von HDL-C-Partikel begünstigt werden, schreiben Liu und seine Kollegen. Sie könnten eine entscheidende Rolle spielen, die über die gemessenen HDL-C-Werte hinausgeht. Darüber hinaus könnte sich die Funktion der HDL-C-Partikel unter bestimmten Umständen, etwa oxidativem Stress, von anti- zu proinflammatorisch wandeln.

Hohes HDL-C ist nicht automatisch protektiv

„Es sind weitere Studien notwendig, die spezifische Mechanismen identifizieren, indem sie die Funktionalität verschiedener wichtiger HDL-C-Apolipoprotein-Komponenten untersuchen“, schlussfolgert die Autorengruppe.

 
Die Einordnung von HDL-C als ‚gutes‘ Cholesterin gilt nur für Werte bis zu 80 mg/dl. PD Dr. Sadiya S. Khan
 

Editorial-Autorin und JAMA-Cardiology-Redakteurin Khan empfiehlt derweil, hohe HDL-C-Spiegel künftig nicht mehr automatisch als protektiv anzusehen: „Ärzte sollten sehr niedrige und sehr hohe HDL-C-Spiegel als Warnsignal ansehen und eine intensivere Primär- und Sekundärprävention einleiten, da die Einordnung von HDL-C als ‚gutes‘ Cholesterin nur für Werte bis zu 80 mg/dl gilt.“
 

Kommentar

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