Lebensstil-Interventionen bei Typ-2-Diabetes: Einen Versuch wagen – oder gleich Medikamente verschreiben?

Nadine Eckert

Interessenkonflikte

13. Juni 2022

Die Lebensstilmodifikation gilt nach wie vor als Grundlage der Therapie beim Typ-2-Diabetes, erweist sich im Alltag aber häufig als wenig erfolgreich. Gleichzeitig gibt es hocheffektive medikamentöse Therapieoptionen. Sollte man auf den Ratschlag, weniger zu essen und sich mehr zu bewegen, nicht einfach verzichten – und eines der zunehmend potenten Medikamente verschreiben? Dazu gehen die Meinungen in der Fachwelt weit auseinander, wie sich beim Diabetes Kongress in Berlin zeigte [1]

Hypokalorische Fomuladiäten bringen Patienten in Remission

Die Lebensstilmodifikation sei in der Therapie des Typ-2-Diabetes unverzichtbar, davon ist Prof. Dr. Stephan Martin vom Westdeutschen Diabetes- und Gesundheitszentrum in Düsseldorf überzeugt: „Es gibt die Möglichkeit, den Typ-2-Diabetes durch Lebensstilmodifikation zu besiegen.“  

 
Es gibt die Möglichkeit, den Typ-2-Diabetes durch Lebensstilmodifikation zu besiegen. Prof. Dr. Stephan Martin  
 

Als besonders wirksam habe sich ein hypokalorischer Mahlzeitenersatz erwiesen. In der Diabetes Remission Trial (DiRECT) erreichten damit von 306 übergewichtigen und adipösen Diabetespatienten 24% einen Gewichtsverlust über 15 kg; 46% gingen in klinische Remission. Definiert war die klinische Remission als HbA1c-Wert unter 6,5% nach 12 Monaten ohne Einnahme von Antidiabetika.

„Die Patienten hatten im Mittel seit 4 Jahren Typ-2-Diabetes, nahmen vor der Studie teils 2-3 Medikamente ein, die alle abgesetzt werden konnten, weil der HbA1c unter 6,5% lag“, so Martin. 

Bei neuen Diabetes-Diagnosen extrem gute Erfolgsaussichten

Patienten, die in der Studie mindestens 15 kg abgenommen hatten, erreichte sogar zu 86% eine Remission. „Das heißt, wenn jemand mit einem neu diagnostizierten Diabetes kommt, hätte ich wahrscheinlich eine nahezu 100-prozentige Chance, Remission, zu erreichen, und das schon bei einer überschaubaren Gewichtsabnahme“, so Martin.

Beim Typ-2-Diabetes ist die Insulinproduktion postprandial vermindert. Doch in der DiRECT-Studie war zu beobachten: Wenn Patienten Gewicht verlieren, ist bereits nach 8 Wochen wieder eine normale postprandiale Insulinsekretion messbar.

Betazellen lassen sich aus dem „Winterschlaf“ wecken

„Das liegt daran, dass die Betazellen beim Typ-2-Diabetes nicht kaputt sind, sie befinden sich in einem hibernierenden Zustand“, erklärte Martin. In diesen „Winterschlaf“ werden sie versetzt, so die Hypothese der DiRECT-Studiengruppe, weil die Leber ihre Fettlagerungskapazität erreicht hat und Fett jetzt im Pankreas abgelagert wird.

„Eine radikale Ernährungsumstellung führt zu einer Entfettung der Leber, auch wenn sich zum Beispiel beim subkutanen Fettgewebe gar nicht viel tut“, erklärt Martin. Die Arbeitsgruppe gehe davon aus, dass man, wenn man die Leber entfette, auch die Bauchspeicheldrüse entfette.

Die persönliche Fettschwelle unterschreiten

„Man dachte lange, um den Typ-2-Diabetes zu bekämpfen, muss man viel Gewicht verlieren“, sagt Martin. „Das ist aber offenbar nicht der Fall. Auch Patienten mit massivem Übergewicht müssen nur ihre persönliche Fettschwelle unterschreiten.“ 

 
Man dachte lange, um den Typ-2-Diabetes zu bekämpfen, muss man viel Gewicht verlieren. Das ist aber offenbar nicht der Fall. Prof. Dr. Stephan Martin  
 

Mit 306 Patienten war DiRECT eine recht kleine Studie. Andere Untersuchungen bestätigen jedoch die Ergebnisse. In der in Katar durchgeführten DIADEM-1-Studie mit 147 Patienten erreichten 61% eine klinische Remission. In Kanada gibt es eine vergleichbare Studie, die in Apotheken durchgeführt wurde und bei der ein hypokalorischer Mahlzeitenersatz mit verringertem Kohlenhydratgehalt zum Einsatz kam. Dabei konnten 35% aller Teilnehmer nach 1 Jahr ihre Diabetesmedikamente absetzen.

Selbst langjährige Diabetespatienten werden wieder therapiefähig

In Deutschland wurde die In der TeLiPro-Studie durchgeführt, die neben einer hypokalorischen Formuladiät mit verringertem Kohlenhydratgehalt auch ein telemedizinisches Coaching umfasste. Eingeschlossen wurden 200 Patienten. Sie hatten im Mittel seit 11 Jahren Typ-2-Diabetes. Erreicht wurden günstige Effekte auf HbA1c, Gewicht, Blutdruck, BMI, Hunger und Insulinbedarf. „Man kann die Patienten auch nach langjähriger Diabeteserkrankung wieder therapiefähig machen“, so Martin.

Einen wirklich guten Prädiktor zur Frage, welche Patienten auf eine extrem hypokalorische Formuladiät ansprechen und Remission erreichen, gibt es nicht. „Das bedeutet, wir müssen es den Patienten anbieten, um zu schauen, ob es wirkt, und der überwiegende Teil wird es schaffen“, sagte Martin und ergänzte: „Diese Patienten haben weiterhin einen Typ-2-Diabetes; sie sind nicht geheilt und müssen weitergeführt werden. Man nimmt sie nicht aus dem DMP heraus.“

„Ein Typ-2-Diabetes muss keine Einbahnstraße sein, es gibt einen Weg zurück in die Gesundheit“, betonte Martin. „Aber dafür müssen wir von unseren Patienten auch etwas fordern.“ Der hypokalorische Mahlzeitenersatz sei dafür hervorragend geeignet, da schnell Erfolge zu sehen seien, was wiederum die Motivation der Patienten stärke.

 
Ein Typ-2-Diabetes muss keine Einbahnstraße sein, es gibt einen Weg zurück in die Gesundheit. Prof. Dr. Stephan Martin  
 

Diabetes ist mehr als hoher Blutzucker

Deutlich pessimistischer bewertete Prof. Dr. Stephan Jacob, Praxis für Prävention und Therapie am Kardiometabolischen Institut Villingen-Schwenningen, Möglichkeiten der Lebensstilintervention: „Der Typ-2-Diabetes ist mehr als eine Hyperglykämie. Er ist eine kardiovaskulär-renale Erkrankung, die schon lange vor der ersten Diagnose eines zu hohen Blutzuckers beginnt.“ 

Studien zeigen, dass atherosklerotische Veränderungen sich meist in einer Zeit ohne allzu hohen Blutzucker entwickeln. „40% der Patienten haben schon bei der Diagnose mikrovaskuläre Veränderungen“, berichtete Jacob. „Und mehr als 80% der Typ-2-Diabetiker haben ein metabolisches Syndrom.“ 

Kardiovaskuläre Ereignisse verhindern

Menschen mit Typ-2-Diabetes seien „absolute Risikopatienten, die durch die Korrektur des Blutzuckers nicht länger leben“, so Jacob. Die Verbesserung eines Faktors wie dem Blutdruck oder dem Blutzucker bringe nur dann einen Vorteil, wenn dadurch kardiovaskuläre und renale Ereignisse verhindert würden und das Überleben verlängert werde.

Die Evidenz dafür, dass die Lebensstilmodifikation dazu in der Lage ist, erweist sich als extrem begrenzt. In der DPP-Studie waren nach 18 Jahren günstige Effekte auf HbA1c, Blutdruck und Gewicht zu sehen, aber kein Effekt auf kardiovaskuläre Ereignisse und auf die Mortalität.

30-Jahres-Daten der Da Qing Diabetes Prevention Outcome Study zeigen reduzierte schwere kardiovaskuläre Ereignisse und eine reduzierte Mortalität in der Lebensstil-Gruppe. „Aber so lang muss man aber erstmal leben, um den Vorteil zu haben“, kommentiert Jacob.

Selbst die mit großen Erwartungen versehene LookAHEAD-Studie sei daran gescheitert, mit einer intensiven Lebensstilintervention harte kardiovaskuläre Endpunkte zu verbessern.

Klare Erfolge mit SGLT2-Hememrn und GLP-1-Rezeptoragonisten

In krassem Gegensatz dazu stehen Erfolgsmeldungen zu Pharmakotherapien: „Mit SGLT2-Hemmern und GLP-1-Rezeptoragonisten ist es bei Patienten mit Typ-2-Diabetes sogar in der Primärprävention gelungen, schwere kardiovaskuläre Ereignisse zu verhindern“, sagte Jacob.

 „Angesichts der klaren Daten für medikamentöse Interventionen dürfen wir unseren Patienten eine evidenzbasierte Therapie nicht vorenthalten.“ Die Zeiten, in denen man Patienten geraten habe, erstmal eine Diät zu machen, seien vorbei. 

 
Angesichts der klaren Daten für medikamentöse Interventionen dürfen wir unseren Patienten eine evidenzbasierte Therapie nicht vorenthalten. Prof. Dr. Stephan Jacob  
 

Allerdings könnte es auch zu viel erwartet sein, diese Art von klaren Daten für Lebensstilinterventionen zu bekommen, wie Martin ergänzte: „Es gibt für vieles nicht die nötige Evidenz, das stimmt, aber wir werden diese Evidenz auch nie bekommen.“ Und weiter: „Die Kriterien für evidenzbasierte Medizin, die man bei pharmakologischen Studien anwendet, lassen sich nicht auf Studien zum Lebensstil übertragen.“

 
Die Kriterien für evidenzbasierte Medizin, die man bei pharmakologischen Studien anwendet, lassen sich nicht auf Studien zum Lebensstil übertragen. Prof. Dr. Stephan Martin  
 

Bedeutung softer Parameter nicht unterschätzen

Darüber hinaus stellte der Düsseldorfer Diabetologe in Frage, dass „nur die Verhinderung von Herzinfarkten und die Verlängerung des Überlebens“ zähle. Er plädierte dafür, „soften Parametern“ viel mehr Bedeutung zuzumessen: „Wenn ich einem Patienten durch eine Lebensstilintervention zum Gewichtsverlust verhelfe, ihm die Möglichkeit gebe, sich wieder mehr zu bewegen, vielleicht eine Knieoperationen vermeide, dann ist das für den Patienten viel wichtiger als nach 30 Jahren noch 2 Jahre länger zu leben.“

 

Kommentar

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