Neuropsychiatrische Defizite bei Long-COVID-19 lassen die Alarmglocken schrillen: Haben Ärzte die Folgen für das Gehirn bislang „übersehen“?

Nancy A. Melville

Interessenkonflikte

10. Juni 2022

Patienten, die an „Brain Fog“ und anderen typischen Symptomen von Long-COVID leiden, weisen bei neuropsychiatrischen Tests erhebliche Defizite auf. Diese korrespondieren mit dem Ausmaß der vorangegangenen COVID-19-Infektion und sind ein weiterer Beleg für die massiven Auswirkungen der Erkrankung auf die psychische Gesundheit.

Dr. Sean T. Lynch

„Die Symptome, die wir in diesem Beitrag beschreiben, wurden schon von vielen Ärzten beobachtet. Aber unsere Studie ist eine der ersten, in der die spezifischen Defizite mithilfe neuropsychologischer Tests identifiziert wurden, um das Syndrom besser charakterisieren zu können“, sagte Erstautor Dr. Sean T. Lynch in einem Interview.

Die Studienergebnisse wurden auf der Jahrestagung der American Psychiatric Association (APA) vorgestellt und im Journal of the Academy of Consultation-Liaison Psychiatry veröffentlicht [1].

Studie mit 60 genesenen COVID-19-Patienten

Lynch, der an der Abteilung für Psychiatrie des Westchester Medical Center Health System in Valhalla, New York, tätig ist und seine Kollegen untersuchten in ihrer Studie 60 Personen. Diese waren 6 bis 8 Monate zuvor akut an COVID-19 erkrankt gewesen. Alle Probanden unterzogen sich neuropsychologischen, psychiatrischen, medizinischen und funktionellen Tests. Auch die Lebensqualität wurde erfasst.

Von den 60 Studienteilnehmern befanden sich 32 aufgrund von Brain Fog in einem speziellen Programm für Überlebende von COVID-19 in ärztlicher Behandlung. Die übrigen 28 Personen nahmen an einer laufenden Längsschnittuntersuchung zu neuropsychologischen, medizinischen und psychiatrischen Folgeerscheinungen von COVID-19 teil, benötigten aber keine medizinische Hilfe wegen anhaltender Symptome.

Testbatterie zeigt Beeinträchtigung bei fast 2 Drittel  

Die Bewertung neurokognitiver Beeinträchtigungen umfasste eine Reihe von Tests, wie sie bei Infektionskrankheiten und anderen Krankheiten eingesetzt werden. Dazu zählten unter anderen der Test of Premorbid Function, das Patient Assessment of Own Function, der Trail Making Test Parts A and B sowie der Stroop Color and Word Test.

Insgesamt zeigte die Testbatterie bei 37 (62%) der Teilnehmer eine neuropsychologische Beeinträchtigung. Bei 16 Personen (27%) deuteten die Testergebnisse sogar auf eine schwere Beeinträchtigung hin.

Probanden schneiden weit unter erwartetem Niveau ab

Probanden, die an Brain Fog litten, wiesen bei Tests zur Aufmerksamkeit, zur Verarbeitungsgeschwindigkeit, zum Gedächtnis und zur Exekutivfunktion niedrigere Werte auf als erwartet. Sie hatten im Vergleich zu den Kontrollpersonen signifikant häufiger Testergebnisse, die eine schwere Beeinträchtigung widerspiegelten (38% vs. 14%; p<0,04).

 
Wir waren jedoch überrascht, dass 27% der Personen in der Stichprobe extrem niedrige Ergebnisse bei neuropsychologischen Tests aufwiesen. Dr. Sean T. Lynch
 

„Wir haben erwartet, dass wir in dieser Studie eine gewisse Beeinträchtigung finden würden“, so Lynch. „Wir waren jedoch überrascht, dass 27% der Personen in der Stichprobe extrem niedrige Ergebnisse bei neuropsychologischen Tests aufwiesen. Sie lagen bei mindestens 1 neuropsychologischen Test mindestens 2 Standardabweichungen unter dem für ihr Alter und Bildungsniveau zu erwartenden Ergebnis.“

Genesene mit Brain Fog leiden an Depressionen, Fatigue und PTBS

Die Studienteilnehmer in der Gruppe mit Brain Fog berichteten auch in signifikant stärkerem Ausmaß von Depressionen, Fatigue, posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) und funktionellen Schwierigkeiten sowie über eine geringere Lebensqualität.

Schwere Beeinträchtigungen bei den neuropsychologischen Tests korrelierten mit dem Ausmaß der akuten COVID-19-Symptome sowie mit den Depressions-Scores, mit der Anzahl der Begleiterkrankungen und mit den subjektiven kognitiven Beschwerden.

Erhöhte Entzündungswerte korrelieren mit Symptomen

Eine Analyse der Serumspiegel bekannter Entzündungsmarker bei 50 der 60 Teilnehmer ergab, dass 45% einen erhöhten IL-6-Wert, 20% einen erhöhten TNF-alpha-Wert und 41% einen erhöhten CRP-Wert aufwiesen - verglichen mit labordiagnostischen Referenzwerten.

Die Forschungsgruppe stellte auch fest, dass die IL-6-Werte mit den akuten COVID-19-Symptomen, der Anzahl der Begleiterkrankungen, der Fatigue und Maßen der Exekutivfunktion korrelierten. Das C-reaktive Protein (CRP) wiederum korrelierte mit den aktuellen COVID-19-Symptomen und den Depressions-Scores.

Schweregrad der COVID-19-Erkrankung ist ein Prädiktor

Was klinische Faktoren anbelangt, die ein schlechtes Abschneiden bei neuropsychologischen Tests vorhersagen könnten, sagte Lynch: „Die Marker, die sich als signifikant erwiesen haben, sind der Schweregrad der akuten COVID-19-Erkrankung, die aktuellen Post-COVID-Symptome, Parameter für Depression und Angst, das Ausmaß der Fatigue und die Zahl der Begleiterkrankungen.“

Lynch wies darauf hin, dass die noch laufende Studie Nachuntersuchungen über bis zu 18 Monate vorsehe. „Bei den [Nachuntersuchungen] soll in Erfahrung gebracht werden, ob sich die Symptome im Laufe der Zeit verbessern und ob die eingeleiteten Maßnahmen erfolgreich waren“, sagte er.

Online-Umfrage untermauert schädlichen Effekt auf die Psyche

Die schädlichen Effekte von Long-COVID auf die Psyche werden von einer weiteren Studie bestätigt, die ebenfalls auf der Jahrestagung der APA präsentiert wurde. Es handelt sich um eine online durchgeführte Befragung von 787 ehemaligen COVID-19-Patienten.

In der von Prof. Dr. Michael Van Ameringen, Professor für Psychiatrie und Verhaltensneurowissenschaften an der McMaster University in Hamilton, Kanada, vorgestellten Arbeit gaben alle Befragten (100%) an, nach wie vor Beschwerden zu haben. Und 68% erklärten, dass sie noch immer nicht zur normalen Funktion zurückgekehrt seien – und das obwohl nur 15% der Befragten eine so schwere COVID-19-Erkrankung gehabt hatten, dass eine Krankenhausbehandlung erforderlich gewesen war.

Am häufigsten sind Fatigue, Brain Fog und Konzentrationsschwierigkeiten

Ein großer Teil wies erhebliche Depressionen, Angstzustände und posttraumatische Belastungsstörungen auf. Die am häufigsten erwähnten anhaltenden Symptome waren Fatigue bei 75,9%, Brain Fog bei 67,9%, Konzentrationsschwierigkeiten bei 61,1% und körperliche Schwäche bei 51,2% der Teilnehmer.

Nicht weniger als 88,2% der Patienten gaben an, unter anhaltenden neurokognitiven Symptomen wie Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen zu leiden; 56% berichteten über Probleme bei der Wortfindung und 54,1% über verlangsamtes Denken.

Befragte berichten von Angstzuständen, Depressionen und PTBS

Die Befragten litten oft an Angstzuständen (41,7%) sowie an Depressionen (61,4%). Auf dem Generalized Anxiety Disorder-7 Questionnaire (GAD-7) und dem Patient Health Questionnaire (PHQ-9) lagen ihre Scores über 9.

Bis zu 40,5% der Befragten hatten wahrscheinlich eine PTBS, mit Werten über 30 auf der PTBS-Checkliste (PCL-5). Ihr mittlerer Resilienzwert auf der Brief Resilient Coping Scale lag bei 13,5, was auf eine geringe Resilienz schließen lässt.

Von den Befragten gaben 43,3% an, in der Vergangenheit wegen psychischer Probleme behandelt worden zu sein, während 33,5% zum Zeitpunkt der Befragung in Therapie waren.

Erhöhen psychische Vorerkrankungen die Anfälligkeit für Long-COVID?

Ameringen wies darauf hin, dass es sich bei der Studie um eine Online-Befragung ohne Kontrollgruppe gehandelt habe. Trotz dieser methodischen Einschränkung würden die Resultate aber die Frage aufwerfen, welche Rolle frühere psychiatrische Erkrankungen bei Long-COVID spielten.

 
In unserer Stichprobe hatten 40% der Befragten eine psychiatrische Vorgeschichte, so dass man sich fragen muss, ob das auch eine Anfälligkeit für Long-COVID bedeutet. Prof. Dr. Michael Van Ameringen
 

„In unserer Stichprobe hatten 40% der Befragten eine psychiatrische Vorgeschichte, so dass man sich fragen muss, ob das auch eine Anfälligkeit für Long-COVID bedeutet“, sagte er in einem Interview. „Etwa 1 Drittel war in psychiatrischer Behandlung, aber ich denke, je stärker man beeinträchtigt ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass man Hilfe sucht.“

Auffallend hohe Zahl hat noch immer Probleme im Alltag

Patienten, die zur Akutbehandlung der COVID-19-Erkrankung ins Krankenhaus eingeliefert worden waren, hatten ein höheres Risiko für eine PTBS im Vergleich zu Patienten ohne stationäre Therapie (p<0,001). Ein niedrigeres Risiko hatten Patienten unter 30 Jahren (p<0,05) sowie 31- bis 50-Jährige (p<0,01) gegenüber Patienten über 50 Jahren.

 
Das ist kein kleines Problem – das sind Menschen, die in der Gesellschaft nicht mehr funktionieren. Prof. Dr. Michael Van Ameringen
 

Ameringen wies auf die auffallend hohe Zahl an Probanden hin, die noch immer Probleme im Alltag haben: „Das ist kein kleines Problem – das sind Menschen, die in der Gesellschaft nicht mehr funktionieren“, sagte er.

Bei Pandemien wird das Gehirn oft „übersehen“

Dr. Avindra Nath, klinischer Direktor der National Institutes of Neurologic Disorders and Stroke in Bethesda sprach auf der APA-Tagung ebenfalls über neurologische Folgen von COVID-19. Er wies darauf hin, dass kognitive und psychiatrische Symptome, etwa Brain Fog, Depressionen und Angstzustände, nicht nur bei COVID-19 auftreten würden.

Dr. Avindra Nath

„Wir haben das schon einmal gesehen“, sagte er. „Es gibt mindestens 7 oder 8 humane Coronaviren, und das Interessante ist, dass jedes von ihnen das Gehirn angreift und neurologische Komplikationen verursacht.“ Die Viren würden an verschiedenen Rezeptoren binden, so Nath. „Aber die Folgen sind gleich.“

Mehr neuropsychiatrische Symptome als nach anderen Atemwegserkrankungen

Bemerkenswert ist eine bereits 2021 in The Lancet Psychiatry veröffentlichte Studie. Sie zeigt, dass Symptome wie Demenz, Stimmungsschwankungen und Angstzustände nach COVID-19 im Vergleich zu anderen Atemwegsinfektionen signifikant häufiger auftreten, wobei die Unterschiede 180 Tage nach der Infektion besonders deutlich ausgeprägt waren.

 
[Bei Pandemien] wird das Gehirn tendenziell übersehen. Dr. Avindra Nath
 

Nath sagte, er habe im Laufe der Jahrzehnte beobachtet, dass bei Pandemien „das Gehirn tendenziell übersehen wird“. Er erklärte, dass „das, was am Ende am wichtigsten sein kann, das ist, was im Gehirn passiert, denn das sind die Dinge, die wirklich die langfristigen Folgen verursachen“.

 
Bei vielen Patienten bleiben diese Symptomen zurück und sie wissen nicht, was sie dagegen tun sollen. Dr. Avindra Nath
 

 „Diese Patienten sind depressiv, sie haben Demenz, sie haben Brain Fog, und selbst jetzt, wo wir diese Probleme erkennen, haben wir sie nicht sehr gut untersucht“, sagte er. „Es gibt so viel, was wir noch nicht wissen, und bei vielen Patienten bleiben diese Symptomen zurück und sie wissen nicht, was sie dagegen tun sollen.“
 

Kommentar

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