Sexualität ist für das körperliche und seelische Wohlbefinden der Menschen von großer Bedeutung. Sexuelle Störungen stellen häufig eine große Belastung für die partnerschaftliche Beziehung dar.
Eine Fülle von Informationen dazu sind im Internet zu finden. Doch das Thema Online-Sexualität ist oft negativ behaftet. Viele Menschen denken dabei zuerst an Pornografie. Das Internet ermögliche aber auch einen positiven Zugang zu sexuellen Themen, berichtet der Berliner Diplom-Psychologe Umut Özdemir in PiD – Psychotherapie im Dialog [1].
Eine breite Palette von Angeboten
Was früher Dr. Sommer, Erika Berger oder „Wa(h)re Liebe“ mit Lilo Wanders bereitgestellt hätten, könne nun sowohl auf Webseiten von Wissenschaftsmagazinen aber auch auf Social-Media-Plattformen wie YouTube, Instagram, TikTok etc. gefunden werden, berichtet Özdemir. Dort könnten sich Heranwachsende und Erwachsene Informationen zu allen Bereichen der Sexualität suchen, die sie benötigten.
Die Palette von Internetangeboten ist breit: „Die Welt der Pornografie gehört durchaus dazu. Darüber hinaus gibt es aber auch viele hilfreiche Aufklärungsseiten und Dating-Portale“, so Özdemir, der als Psychotherapeut sowie Paar- und Sexualtherapeut in Berlin arbeitet. Im Internet finde jeder und jede die zum eigenen Wissensstand und Interesse passenden Informationen.
Dieses Angebot hält er für sinnvoll. Denn der so genannte Sexualkunde-Unterricht sei hauptsächlich auf Themen wie Menstruationszyklus, vaginalen Geschlechtsverkehr, Empfängnis, Verhütung und übertragbare Geschlechtskrankheiten reduziert. Nicht alle Fragen, die Jugendliche zum Thema Sex und Sexualität haben, werden dort beantwortet. Auch weil Scham davon abhält, als peinlich empfundene Fragen zu stellen oder Themen auszusprechen. Als Beispiele nennt Özdemir die Themen Fetisch, bestimmte sexuelle Praktiken oder vermeintlich abnormale sexuelle Vorlieben.
Quelle der sexuellen Bildung
Da das Internet eine Fülle an Informationen zu den unterschiedlichsten Aspekten der Sexualität bietet, wird es eine immer wichtigere „Quelle der sexuellen Bildung für Jugendliche und junge Erwachsene“. Die erwünschten Informationen seien auf dem Smartphone von nahezu überall abrufbar und könnten in der Privatsphäre des eigenen Zimmers bzw. der eigenen Wohnung gelesen werden. Die oftmals mit dem Sprechen über Sexualität erlebte Scham entstehe nicht, alle Fragen könnten einer Suchmaschine gestellt werden.
Schon die Tatsache, im Internet zu den persönlichen Neigungen fündig zu werden, trage zur Akzeptanz der eigenen Sexualität bei, erklärt der Berliner Psychologe und Psychotherapeut. Zudem bestehe die Möglichkeit, durch den Online- Austausch mit anderen zu erkennen, dass Befürchtungen wie „Ich bin bestimmt die einzige Person“ nicht gerechtfertigt seien.
Während im näheren Umfeld vielleicht keine Personen mit der eigenen sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität vorhanden sind bzw. die meisten Menschen nicht um die sexuellen Vorlieben der näheren Umgebung wissen, können online weltweit Gleichgesinnte gefunden werden. So könne eine wahrgenommene oder reale Rolle als Außenseiter aufgehoben werden. Offline empfinde man sich als Outgroup, während man online die eigene Ingroup und somit ein soziales Netz gefunden habe, so der Experte. Hier bestehe die große Chance, empfundene Einsamkeit und eventuelle Selbstwerteinbußen zu kompensieren.
Wichtig: Medienkompetenz
Die Informationssuche im Netz setze jedoch ein gewisses Maß an Medienkompetenz voraus, denn es kursierten dort auch etliche Mythen, wie Özdemir anmerkt. Dazu gehöre etwa die Behauptung, Masturbation entleere die Hormonspeicher.
Dass man nicht alles für bare Münze nehmen dürfe, werde auch am Beispiel pornografischer Filme deutlich: „Gestellte und stark geschnittene Szenen sollten nicht als Beispiel für das eigene Sexualleben und als Vergleichsreferenz für die eigenen äußeren Genitalien herangezogen werden“, mahnt der Berliner Sexualtherapeut. Dasselbe gelte für stark verfälschte Darstellungen in den sozialen Medien.
Eine große Rolle spiele das Internet laut Özdemir heute bei der Partnersuche spielen. Vor den 1990er-Jahren habe die Suche nach Sexual- oder romantischen Partnern im „Offline-Raum“ stattgefunden, also im Freundeskreis, am Arbeitsplatz, in der Schule, in Discos, auf Partys oder in Medien (Kontaktanzeigen).
Speziell für Menschen, die einer sexuellen Minderheit angehörten, könnten Dating-Portale die Suche nach der passenden Partnerin oder dem passenden Partner vereinfachen. Die Hemmschwelle, neue Kontakte online zu knüpfen, sei niedriger. Zudem löse sich das Stadt-Land-Gefälle über den Zugang des potenziellen Dating-Pools auf, berichtet Özdemir.
Die Online-Partnersuche sei für Angehörige sexueller Minderheiten zudem mit einer deutlich geringeren Angst vor Stigmatisierung verbunden. „Mittlerweile gibt es für nahezu jede sexuelle Orientierung eigene Plattformen“, sagt Özdemir. Durch passgenaue Angebote werde die Gefahr einer Zurückweisung verringert. Dementsprechend nehme auch der sogenannte Minderheitenstress ab, der durch diskriminierende Erfahrungen entstehe.
Ein Risiko: die Weitergabe sensibler Daten
Obwohl oft behauptet wird, dass Online-Dating zu riskantem Sexualverhalten führe, scheine das Internet nicht der entscheidende Faktor dafür zu sein, so der Experte weiter. Er vermutet eher, dass das Internet zu einer Auswahl von Sexualpartnern kongruent zu den eigenen Vorlieben genutzt werde.
Unstrittig ist allerdings, dass Internetangebote auch Risiken bergen. Dazu gehörten laut Özdemir beispielsweise die Fokussierung auf Äußerlichkeiten und die mögliche Weitergabe sensibler Daten einschließlich persönlicher Bilder. Insgesamt gesehen sei das positive Potenzial aber mindestens genauso groß. „Die digitale Multioptionswelt trägt mit dazu bei, Angst und Vorurteile in Bezug auf sexuelle Themen abzubauen“, ist er überzeugt.
Die richtigen Angebote finden und nutzen
Die Fülle der Internetangebote zum Therapie Sexualität macht es jedoch schwer, passende Angebote aufzustöbern. Eine Orientierungshilfe bietet die Soziologin und Psychologin Daniela Schultheis vom Pfalzklinikum Klingenmünster. Das große Angebot im Internet zeige, dass der Bedarf nach Informationen und Aufklärung zu diesem Thema hoch sei, so Schultheis. Erstaunlich sei, dass es viele Webseiten mit einem hohen Qualitätsanspruch gebe. Außer sehr guten Blogs und Podcasts sei auch das professionelle Angebot im Bereich sexueller Diversität erfreulich hoch.
Der Beitrag ist im Original erschienen auf Univadis.de.
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Diesen Artikel so zitieren: Sexualität im Internet: Nicht nur Porno, sondern Information, Austausch – und Aufklärung speziell bei „peinlichen“ Fragen - Medscape - 9. Jun 2022.
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