Offenbar schieben viele Ärztinnen das Kinderkriegen auf und machen in ihrer Karriere erhebliche Zugeständnisse, um eine Familie gründen zu können. Das legen die Ergebnisse einer kleinen US-Studie nahe, die ein Forschungsteam der Northwestern University Feinberg School of Medicine in Chicago jetzt in der Fachzeitschrift JAMA Network Open veröffentlicht hat [1].
Die Publikation soll den Grundstein für landesweite Befragungen von Ärztinnen in den USA zum Thema Familienplanung legen, wie Erstautorin Kathryn Smith und ihre Kolleginnen berichten.
In Deutschland möglicherweise noch dramatischer
„Das ist eine beachtenswerte Studie, auch wenn ihre Ergebnisse für mich wenig überraschend kommen“, sagt die Vizepräsidentin des Deutschen Ärztinnenbunds, PD Dr. Barbara Puhahn-Schmeiser, im Gespräch mit Medscape. „Es ist immer gut, Daten zu haben, weshalb die vorliegende Arbeit auf jeden Fall ein Schritt in die richtige Richtung ist.“
Vergleichbare Untersuchungen aus Deutschland seien ihr nicht bekannt, ergänzt die Fachärztin für Neurochirurgie am Universitätsklinikum Freiburg. Allerdings könnte Situation hierzulande womöglich noch dramatischer sein als in den USA.
In leitenden Positionen sind Ärztinnen eher selten zu finden
Smith und ihre Kolleginnen berichten in ihrer Publikation, dass laut Daten der Association of American Medical Colleges (AAMC) aus dem Jahr 2020 rund 43% der Medizinstudierenden in den USA weiblich seien. Aber nur 21% der leitenden ärztlichen Positionen seien von Frauen besetzt.
„Bei uns in Deutschland liegt der Frauenanteil unter den Medizinstudierenden bei mehr als 60%, in den leitenden Positionen an Universitätskliniken ist er allerdings auf knapp 13% zusammengeschrumpft“, sagt Puhahn-Schmeiser. Deshalb sei es sehr wichtig, die vielfältigen Ursachen für diese Diskrepanz besser zu erforschen, um sie im Anschluss leichter aus dem Weg räumen zu können.
Die lange Ausbildung steht der Familienplanung oft im Weg
„Leider erfährt man in der vorliegenden Studie nichts darüber, wie viele der befragten Ärztinnen in leitenden Positionen Kinder haben“, bedauert Puhahn-Schmeiser, die selbst Mutter von 3 kleinen Kindern ist. „Es wäre interessant gewesen zu erfahren, ob diese Frauen vermehrt aufs Kinderkriegen verzichten oder sich vielleicht nur besser als andere organisieren.“
Generell hätten es gerade angehende Ärztinnen schwer, Kinder und Karriere unter einen Hut zu bekommen, so Puhahn-Schmeiser. „Erst steht ein langes Studium an, danach die Weiterbildung in der Klinik und schließlich noch die Facharztausbildung – hat man das alles geschafft, wird es mit dem Kinderkriegen allmählich ganz schön eng.“
Werden Ärztinnen von ihren Chefs weniger gefördert?
Weit mehr als die Hälfte der Medizinstudierenden ist weiblich, aber nach Abschluss der Promotion nimmt die Zahl der Medizinerinnen deutlich ab und unterschreitet die der männlichen Absolventen. Puhahn-Schmeiser zufolge steht dies im Zusammenhang mit der Familiengründungsphase.
„Aber es besteht auch die Gefahr, dass Frauen von ihren Chefs weniger gefördert werden, weil diese befürchten, dass die Kollegin aus Gründen der Familienplanung ausfallen könnte“, ergänzt die Neurochirurgin. „Ein größeres Bewusstsein für diese Problematik zu schaffen, ist sicherlich sinnvoll, weshalb ich die Studie von Smith und ihrem Team sehr begrüße.“
Persönliche Interviews mit den Ärztinnen
Die US-Wissenschaftlerinnen, unter ihnen 9 Frauen und 1 Mann, rekrutierten für ihre Studie zwischen November 2019 und Mai 2020 zunächst 16 Ärztinnen im Alter zwischen 30 und 39 Jahren, mit denen sie strukturierte Interviews führten. In den Gesprächen erfragten die Forschenden das Wissen der Frauen zum Thema Fertilität und verschiedene Aspekte rund um die Familienplanung: Darunter fiel etwa inwieweit sich die Ärztinnen von Kollegen und Institutionen unterstützt fühlten, welche Faktoren zu einem verzögerten Kinderkriegen beitrugen und welche Auswirkungen ihr Kinderwunsch auf Karriereentscheidungen hatte.
Ziel war es, anhand dieser Interviews ein Erhebungsinstrument zu entwickeln, mit dem sich die besonderen Bedürfnisse von Frauen in der Medizin in Bezug auf Fruchtbarkeit, Familienplanung und berufliche Laufbahn charakterisieren und feststellen lassen.
Teilweise unerwartete Ergebnisse
Die Auswertung der Interviewfragen zum Thema Fruchtbarkeit brachte 3 auffällige Aspekte zu Tage:
dass die Ausbildung an den medizinischen Fakultäten zum Thema Fruchtbarkeit unzureichend ist,
dass die Ärztinnen ihr Wissen vorwiegend aus informellen Quellen schöpfen, etwa aus eigenen Erfahrungen oder Erfahrungen von Patientinnen und Gleichaltrigen und
dass der Wunsch besteht, die medizinische Ausbildung durch eine frühzeitige Einführung in Unfruchtbarkeit und Möglichkeiten der Fertilitätserhaltung zu verbessern.
Auch bei der Befragung zum Thema Kinderwunsch stachen 3 Aspekte hervor:
die hohe Inzidenz später Mutterschaft, insbesondere durch Hindernisse in der Ausbildung und/oder im Arbeitsumfeld,
der wahrgenommene Mangel an Unterstützung durch Kollegen und in der Ausbildung, dort fehle es zum Beispiel an Informationen über Leistungen wie Elternurlaub oder Kinderbetreuung sowie an Hilfe bei der Suche nach Optionen zum Fruchtbarkeitserhalt (etwa das Einfrieren von Eizellen) und
die Auswirkungen des Kinderkriegens auf den beruflichen Werdegang, etwa die Wahl des Fachgebiets, Reduktion der Arbeitszeit, das Verlassen der akademischen Medizin zugunsten einer privaten Praxis oder die völlige Aufgabe der Arbeit als Ärztin.
Mehr als 2 von 3 Frauen änderten ihre Karrierepläne
Anhand dieser Ergebnisse entwickelten Smith und ihre Kolleginnen ein Umfrageinstrument, das sie zwischen April und September 2020 mit 24 Ärztinnen im Alter zwischen 29 und 42 Jahren erstmals erprobten. Die in den ersten Interviews ermittelten Themen hätten sich in dieser Pilotumfrage bestätigt, schreiben die Forschenden. Von den 24 befragten Ärztinnen hätten 17 (71%) das Kinderkriegen hinausgezögert und 16 (67%) ihre Karrierepläne für die familiengründung geändert.
Die meisten Frauen gaben an, dass mangelnde Flexibilität im Arbeitsplan (67%), Stress (67%) und Zeitmangel (63%) ihre Entscheidung, das Kinderkriegen aufzuschieben, beeinflusst hätten. 71% der Befragten waren besorgt darüber, wie sich die Dauer der medizinischen Ausbildung auf die Familiengründung auswirken würde.
Befragung bringt „alarmierende“ Zugeständnisse zu Tage
Von den 67% Frauen, die in ihrer berufliche Laufbahn in irgendeiner Weise Zugeständnisse gemacht hatten, gaben 7 (29%) an, keine beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten gesehen zu haben. Insgesamt 5 Frauen (21%) entschieden sich für ein anderes Fachgebiet und 4 Frauen (17%) verlegten ihren Arbeitsplatz von der Universität in eine Privatpraxis.
„Diese Ergebnisse sind alarmierend, insbesondere in Anbetracht der bekannten geschlechtsspezifischen Unterschiede in der akademischen Medizin in Bezug auf die Zeit bis zur Beförderung, das Erreichen eines akademischen Grades und die Besetzung von Führungspositionen“, schreiben die Forschenden.
Fast jede 2. Ärztin hatte mit Unfruchtbarkeit zu kämpfen
Von allen befragten Ärztinnen hatten 11 (46%) persönlich mit Unfruchtbarkeit zu kämpfen. Eine In-Vitro-Fertilisation hatten 7 von ihnen in Anspruch genommen. 10 der befragten Ärztinnen (42%) gaben an, eine Fertilitätserhaltung in Erwägung gezogen zu haben, 5 von ihnen hatten ihre Eizellen einfrieren lassen.
Ob die Frauen das Einfrieren von Eizellen oder Embryonen in Betracht zogen, wurde beeinflusst von Faktoren wie Alter, Beziehungsstatus, Kosten und Versicherungsschutz. 10 Ärztinnen (42%) gaben an, dass sie über das Einfrieren von Eizellen nachdenken würden, wenn es eine Kassenleistung wäre. Nur 6 der Frauen (25%) wussten, dass diese Option von ihrer Krankenversicherung übernommen wird, während 13 (54%) den Status ihrer Versicherung nicht kannten.
Wissen der Ärztinnen über Fertilität relativ gering
Das Wissen der Frauen zum Thema Fertilität erwies sich auch in der Pilotumfrage als relativ gering. Nur 14 der 24 Befragten (58%) gaben richtig an, dass die Fruchtbarkeit nach dem Alter von 35 Jahren am stärksten abnimmt. 21 Befragte (88%) wussten zwar, dass die Fruchtbarkeit bei Frauen im Alter von 43-45 Jahren weniger als 5% beträgt. Jedoch überschätzten 15 Befragte (63%) die Fähigkeit der assistierten Reproduktionstechnologie, die verminderte Fruchtbarkeit in dieser Altersgruppe aufzufangen.
„Diese Daten zeigen, dass die Aufklärung über die Grenzen der derzeit verfügbaren Technologien zur Behandlung von Unfruchtbarkeit und insbesondere zur Überwindung der Alterung der Eierstöcke verbessert werden muss“, schreiben die Forschenden.
Nächster Schritt ist eine groß angelegte nationale Umfrage
Eine Schwäche der Studie ist, dass die Teilnehmerinnen zu einem großen Teil auf einer Konferenz für Frauen in der Medizin an der Northwestern University Feinberg School of Medicine und über soziale Medien in der Physician Moms Group auf Facebook rekrutiert wurden. Somit ist die Stichprobe womöglich nicht repräsentativ für alle Ärztinnen. Zudem ist es denkbar, dass persönliche Erfahrungen mit Unfruchtbarkeit oder ein bestehender, aber schwer umzusetzender Kinderwunsch die Frauen zur Teilnahme an den qualitativen Interviews oder der Umfrage motiviert hatten.
Deshalb sei nun eine groß angelegte nationale Umfrage erforderlich, um die besonderen Bedürfnisse von Frauen in der akademischen Medizin in Bezug auf Fertilität, Kindererziehung und Elternschaft besser zu charakterisieren. Es sei wichtig, besser zu verstehen, wie diese Aspekte zur akademischen Fluktuation beitragen, schreiben Smith und ihr Team. Ziel müsse es sein, die geschlechtsspezifischen Ungleichheiten in der akademischen Medizin zu beseitigen.
Es fehlt an Unterstützung durch Kollegen und Vorgesetzte
„In der vorliegenden Studie betrafen die am häufigsten geäußerten Bedenken eine nicht förderliche Arbeitsplatzpolitik und -kultur“, schreiben die Forschenden. „Die Frauen gaben an, dass es ihnen an Unterstützung durch ärztliche Kollegen und Führungskräfte mangelt, insbesondere in Bezug auf die Inanspruchnahme einer Auszeit für Schwangerschaft, Mutterschaftsurlaub, Unfruchtbarkeitsbehandlungen oder elterliche Verpflichtungen.“
In Deutschland droht schwangeren Ärztinnen ein Beschäftigungsverbot
Die Freiburger Neurochirurgin Puhahn-Schmeiser sieht in Deutschland noch ein weiteres Problem, das auf Ärztinnen mit Kinderwunsch seit dem Jahr 2018 zukommt: „Mit der Novellierung des Mutterschutzgesetzes droht den Frauen, selbst wenn sie sich noch im Studium befinden, mit Bekanntwerden der Schwangerschaft eine deutliche Einschränkung ihrer Tätigkeit beziehungsweise ein sofortiges Beschäftigungsverbot – was die ohnehin schon so lange Ausbildung weiter in die Länge zieht“, sagt die Medizinerin. Durch die Coronapandemie habe sich die Situation trotz der nun bestehenden Möglichkeit, sich impfen zu lassen, weiter verschärft.
Die Gesetzesnovelle habe zur Folge, dass viele Ärztinnen das Kinderkriegen entweder hinauszögern oder aber eine Schwangerschaft so lange wie möglich verheimlichen – mit der Folge, dass sie dann gar keinen Mutterschutz erhalten. „Wir sind froh, dass wir ein Mutterschutzgesetz in Deutschland haben, denn viele Maßnahmen sind für die betroffenen Frauen sehr sinnvoll“, sagt Puhahn-Schmeiser, „zum Beispiel das Verbot von Nacht- und Wochenenddiensten während der Schwangerschaft.“ Ein generelles und undifferenziertes Beschäftigungsverbot aber behindere Ärztinnen zusätzlich in ihrer Karriere.
Viele Ärztinnen erleiden physische und emotionale Traumata
„Obwohl die Mehrheit der Menschen Kinder hat, gibt es in der medizinischen Kultur viele implizite und explizite Signale, dass die Familiengründung im Widerspruch zur Karriereentwicklung steht“, schreiben Dr. Ariela Marshall vom Department of Internal Medicine der University of Pennsylvania in Philadelphia und Dr. Arghavan Salles vom Department of Medicine der Stanford University in Palo Alto, Kalifornien, im einem ebenfalls in JAMA Network Open veröffentlichten Kommentar zu der Studie [2].
Dies führe zu physischen und emotionalen Traumata aufgrund von verspätetem Kinderkriegen und dem Gefühl, Gelegenheiten verpasst zu haben – weil man seine Karriere eingeschränkt hat, um Kinder zu bekommen oder weil man aufgrund beruflicher Verpflichtungen zu wenig Zeit mit seiner Familie verbringen konnte, so Marshall und Salles.
Die Unfruchtbarkeitsrate von Ärztinnen ließe sich senken
„Wie wir und andere bereits früher argumentiert haben, sollte das Bewusstsein für das Thema Fruchtbarkeit bereits im Medizinstudium geschaffen werden“, fordern die beiden US-Ärztinnen.
Zusätzlich zur finanziellen und klinischen Unterstützung müsse man die Kultur der medizinischen Ausbildung ändern, um Auszubildende zu unterstützen, die Eltern werden möchten: „Wenn die angehenden Ärztinnen das Gefühl haben, dass sie jederzeit eine Familie gründen können, fühlen sie sich vielleicht weniger unter Druck gesetzt, das Kinderkriegen bis zum Abschluss ihrer Ausbildung hinauszuzögern, was wiederum die Unfruchtbarkeitsrate senken könnte.“
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Medscape Nachrichten © 2022
Diesen Artikel so zitieren: Kind oder Karriere? Studie zeigt, dass Ärztinnen sich oft entscheiden müssen – oder sie warten zu lange. Dies sind die Gründe - Medscape - 8. Jun 2022.
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