Im 3. Jahr der Corona-Pandemie sinkt die Inzidenz weltweit auf den niedrigsten Stand seit mehr als 6 Monaten. Deutschland ist hier keine Ausnahme. Doch wie könnte es weitergehen – neigt sich die SARS-CoV-2-Welle ihrem Ende entgegen, wie viele Menschen hoffen? In JAMA Network Open beleuchtet Dr. Carlos del Rio von der Emory University School of Medicine den Status quo und mögliche Entwicklungen [1].
Der Experte will keine falschen Hoffnungen wecken. Während es lange Zeit so aussah, als würde aus der Pandemie vielleicht eine Endemie werden, steigen die Infektionsraten in den USA seit Mai 2022 wieder an.
Solche Trends lassen sich durch mehrere Faktoren erklären, nämlich durch neue Subvarianten wie BA.2.12.1, durch die sinkende Immunität nach Impfungen oder nach früheren Infektionen sowie durch die Aufhebung etlicher Vorschriften aus Pandemie-Zeiten. Maskenpflichten oder Abstandsregeln gibt es immer seltener.
Subvarianten von Omikron gewinnen an Bedeutung
Zum Hintergrund: Nachdem die Omikron-Variante BA.1 im November 2021 erstmals in Südafrika identifiziert worden war, breitete sie sich weltweit aus und verdrängte in kurzer Zeit andere Varianten. Seitdem sind mehrere Linien und Sublinien entstanden. Die häufigsten sind derzeit BA.1, BA.1.1, BA.2 und BA.2.12.1.
Die Reproduktionszahl der BA.2-Variante ist 1,4-mal höher als die von BA.1.2. Solche Unterschiede lassen sich auf 53 Mutationen zurückführen, von denen 29 im Bereich des Spike-Proteins liegen. Klinische Symptome der BA.2-Infektion ähneln denen von BA.1, wobei leichte Symptome der oberen Atemwege wie Halsschmerzen und Pharyngitis häufig auftreten. Darüber hinaus berichten viele Patienten über gastrointestinale Symptome, etwa Durchfall, Übelkeit und Erbrechen, sowie über unspezifische Symptome, beispielsweise Muskelschmerzen, Kopfschmerzen, eine verstopfte Nase und Müdigkeit.
BA.2.12.1 wurde zuerst in New York nachgewiesen und ist jetzt die vorherrschende Variante in den USA. Bis zum 25. Mai 2022 war in etwa 5% der sequenzierten SARS-CoV-2-Isolate BA.2.12.1 zu finden. Diese Subvariante trägt zusätzlich die Spike-Mutationen S704L und L452Q. Die L452Q-Mutation wurde schon bei den Delta- und Lambda-Varianten beobachtet. Sie ermöglicht es dem Virus, stärker an den Angiotensin-Converting-Enzym-2-Rezeptor zu binden und dadurch kontagiöser zu werden.
Eine vorherige Infektion mit BA.1 scheint nur eine minimale Kreuzimmunität gegen BA.2.12.1 zu bieten, so dass sich Personen mit beiden Varianten infizieren können.
2 weitere Varianten, nämlich BA.4 und BA.5, sind vor kurzem in Südafrika und in Europa aufgetaucht. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) stuft sie als „Variants of Concern“ bzw. als „Lineages under Monitoring“ ein.
Wie andere Omikron-Subvarianten scheinen auch BA.4 und BA.5 deutlich kontagiöser zu sein als die Prä-Omikron-Varianten. Während Experimente darauf hindeuten, dass zumindest ein Teil des Wettbewerbsvorteils von BA.4 und BA.5 auf Unterschiede in der viralen Replikation zurückzuführen sind, gibt es Hinweise, dass andere Faktoren wie eine Immunevasion oder eine höhere Kontagiosität die rasche Verbreitung erklären könnten.
Wie bei BA.2.12.1 scheinen Personen, die zuvor mit einer früheren Omikron-Variante (BA.1) infiziert waren, nicht gut gegen eine Infektion mit BA.4 und BA.5 geschützt zu sein. Glücklicherweise verursachen BA.4 und BA.5 nach aktuellem Wissensstand keine schwereren Erkrankungen als frühere Varianten.
In den USA waren Mitte Mai 2022 BA.2 und BA.2.12.1 die vorherrschenden Varianten. Es ist jedoch recht wahrscheinlich, dass mehr Fälle mit BA.4 und BA.5 auftreten werden, wenn der Sommer näher rückt und mehr Infektionen aus Südafrika und Europa importiert werden.
„Zusammenfassend lässt sich sagen, dass SARS-CoV-2 seit dem Auftreten von Omikron sehr viel effizienter übertragen wird und sich der Immunität eher entziehen kann“, schreibt del Rio.
Die weitere Kontrolle der Pandemie
Als die 1. Omikron-Welle in den USA abgeebbt ist, führten die Centers for Disease Control and Prevention (CDC) am 3. März 2022 den COVID-19 Community Level indicator ein. Ziel des Tools ist, zu entscheiden, welche Präventionsmaßnahmen auf regionaler Ebene erforderlich sind.
Das Schutzniveau kann niedrig, mittel oder hoch sein, je nach Auslastung der Krankenhausbetten, nach Zahl an Krankenhauseinweisungen und nach Gesamtzahl der COVID-19-Fälle in einer Region.
Als das Instrument zum 1. Mal eingesetzt worden ist, lebten mehr als 90% aller US-Bürger an Orten mit einer niedrigen oder mittleren COVID-19-Warnstufe. Das heißt, Maskenpflichten in Innenräumen beispielsweise gab es kaum noch.
Am 25. Mai 2022, als die Zahl der täglich gemeldeten COVID-19-Fälle deutlich anstieg und sich der Marke von 100.000 näherte, hatten sich etwa 9,2% der Bezirke laut Indikator ein hohes Infektionsrisiko. Dies steht im Gegensatz zur epidemiologischen Bewertung der CDC, nach der mehr als 2 Drittel der Bezirke in den USA als Hochrisikogebiete gelten.
„Verschiedene Einschätzungen der pandemischen Situation, die fast gegensätzliche Informationen liefern, tragen zur Verwirrung der Bevölkerung bei und erschweren die Umsetzung nicht-pharmakologischen Maßnahmen“, schreibt del Rio. „Darüber hinaus suggeriert der Community Level indicator, die Pandemie sei endlich vorbei, was so nicht stimmt.“
Mittlerweile gelten Maskenpflichten nur noch an wenigen Orten. Für Menschen, die sich schützen wollen, bleibt als Frage, was sie tun sollen – und ob es überhaupt Sinn macht, einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen, wenn Menschen in der Umgebung dies kaum noch tun.
Daten deuten darauf hin, dass eine chirurgische Einwegmaske zwar wirksam ist, dass aber für den maximal möglichen Schutz eine hochwertige, gut sitzende Maske (N95 oder KN95) getragen werden sollte.
Welchen Nutzen zeigen Booster-Impfstoffe?
Neben dem Mund-Nasen-Schutz gelten Impfungen als weitere Säule der Pandemie-Kontrolle. Mutationen in Omikron inklusive diverser Subvarianten werden nicht nur mit einer erhöhten Kontagiosität in Verbindung gebracht, sondern auch mit einer Immunevasion sowohl nach Impfungen als auch nach Rekonvaleszenzen.
Die Grundimmunisierung mit 2 Dosen mRNA-Impfstoffen bietet nur begrenzten Schutz gegen symptomatische Erkrankungen, die durch Omikron verursacht werden. Durch Auffrischungsimpfungen lässt sich der Schutz deutlich steigern.
Studien zufolge bieten mRNA-Impfstoffe einen ähnlich hohen Schutz gegen BA.1 und BA.2, obwohl der Schutz gegen Infektionen und symptomatische Erkrankungen innerhalb von Monaten nach einer 3. Dosis nachlässt. Im Gegensatz dazu bleibt der Schutz gegen schwere Erkrankungen, einschließlich Krankenhausaufenthalten und Tod, erhalten.
Angesichts des nachlassenden Schutzes vor symptomatischen Infektionen wurde eine 4. Dosis des mRNA-Impfstoffs bei Hochrisikopersonen als Präventionsstrategie vorgeschlagen. Dazu zählen ältere Erwachsene und Personen mit stark geschwächtem Immunsystem. Daten aus Israel deuten darauf hin, dass eine 4. Dosis bei älteren Erwachsenen mit einem geringeren Risiko einer symptomatischen Infektion, eines Krankenhausaufenthalts, einer schweren Erkrankung und des Todes einhergeht.
Derzeit empfehlen die CDC eine 4. Impfdosis nur für Personen über 50 Jahren, die ihre Auffrischung vor mindestens 4 Monaten erhalten haben, sowie für Personen über 12 Jahren, die mäßig oder stark immungeschwächt sind und deren Auffrischung mindestens 4 Monate zurückliegt.
Wie bei anderen Impfstoffen besteht das Ziel der Impfung im Schutz vor schweren Erkrankungen, nicht in der Verhinderung aller Infektionen. Es wird immer deutlicher, dass bei Omikron und seinen Subvarianten der Schutz vor schweren Erkrankungen mit mindestens 3 Dosen eines mRNA-Impfstoffs möglich ist. Allerdings haben weniger als 50% der Über-12-Jährigen und nur 69% der Über-65-Jährigen eine 3. Impfdosis erhalten.
Neue Daten deuten darauf hin, dass eine frühere COVID-19-Infektion einen soliden Schutz gegen die Alpha-, Beta- und Delta-Variante, aber nur einen begrenzten Schutz gegen die Omikron-Variante bietet. Die Kombination aus einer früheren SARS-CoV-2-Infektion und einer Impfung („hybride Immunität“) scheint den größten Schutz vor einer symptomatischen Infektion zu bieten. Durchbruchsinfektionen treten dennoch auf.
Therapien gegen COVID-19
Von der Prävention zur Therapie. Die Zahl wirksamer antiviraler Wirkstoffe inklusive monoklonaler Antikörper nimmt ständig zu. Auch die Verfügbarkeit solcher Präparate hat sich verbessert.
Für die Regierung Biden war das Grund genug, im März 2022 die neue Initiative „Test to Treat“ ins Leben zu rufen. Im Rahmen des Programms können sich Menschen auf SARS-CoV-2-Infektionen testen lassen. Falls sie positiv sind und falls sich eine bestimmte Behandlung für sie eignet, erhalten sie umgehend eine ärztliche Verordnung.
Nur wird „Test to Treat“ kaum genutzt, da es logistische Hürden gibt. Beispielsweise soll die Behandlung innerhalb von 5 Tagen nach Auftreten der Symptome eingeleitet werden. Manche Infizierte nehmen aber zu spät am Programm teil. Sie haben auch Angst vor schwerwiegende Nebenwirkungen oder vor einer möglichen Teratogenität der Wirkstoffe. Außerdem werden Dosierungen von Ärzten nur unzureichend an die Nierenfunktion angepasst.
Und nicht zu vergessen: Berichte über Rebounds nach der Gabe von Nirmatrelvir/Ritonavir häufen sich. Betroffene zeigen erneut typische Symptome und Tests auf SARS-CoV-2 sind wieder positiv. Ob eine längere Behandlung (z.B. 10 statt 5 Tage) oder eine andere Therapie Sinn macht, bleibt abzuwarten.
Ein grundlegendes Problem: In klinische Studien zu Nirmatrelvir/Ritonavir oder Molnupiravir wurden ungeimpfte Probanden mit hohem Risiko für schwere Erkrankungen eingeschlossen. Nur erhalten derzeit viele Geimpfte orale Virostatika. Daten über die Wirksamkeit oder das Ansprechen bei dieser Gruppe gibt es nicht. „Bis Ergebnisse aus weiteren Studien vorliegen, ist es jedoch sinnvoll, diese Medikamente Patienten mit hohem Risiko für schweres COVID-19 weiter zu verordnen“, so die Einschätzung von del Rio.
Ein Blick in die Zukunft
Auch wenn noch viele Fragen zur Pandemie offenbleiben, sind sich Virologen weitgehend einig, dass sich SARS-CoV-2 nicht vollständig ausrotten lässt. Es wird Phasen geben, in denen die Infektionsrisiken niedrig sind. Und es wird Zeiten geben, in denen Gesundheitspolitiker strengere Maßnahmen einfordern.
Angesichts der Tatsache, dass schätzungsweise 10% bis 30% der Personen nach der Infektion Symptome von Long-COVID aufweisen, bleibt zu klären, welche Interventionen sinnvoll sind. Das wird etwa im Rahmen der RECOVER-Kohortenstudie an den National Institutes of Health untersucht. Daten deuten darauf hin, dass eine Impfung das Risiko von Long-COVID verringern kann. „Daher muss die weitere Verbesserung der Impfraten der Eckpfeiler der COVID-19-Prävention und -Eindämmung bleiben, nicht nur lokal, sondern weltweit“, fordert del Rio.
Credits:
Lead Image: Pavel MuravevDreamstime
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Diesen Artikel so zitieren: COVID-Sommerpause: Wird die Pandemie zur Endemie? Wo wir stehen und wie es weiter geht – JAMA zeigt die Perspektiven auf - Medscape - 2. Jun 2022.
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