Eine Umfrage stützt die schon vor Monaten geäußerte Befürchtung, dass die Corona-Pandemie Auswirkungen auf die Gesundheit Heranwachsender hat: Jedes 6. Kind in Deutschland ist der repräsentativen Forsa-Umfrage zufolge in den vergangenen 2 Jahren dicker geworden. Fast die Hälfte bewegt sich weniger als zuvor, und etwa ein Viertel isst mehr Süßwaren. Besonders betroffen sind Kinder und Jugendliche aus einkommensschwachen Familien: eine Tatsache, auf die schon häufiger hingewiesen wurde.
Resultate der Umfrage sind von der Deutsche Adipositas-Gesellschaft (DAG) und dem Else Kröner-Fresenius-Zentrum (EKFZ) für Ernährungsmedizin an der Technischen Universität München jetzt vorgestellt worden [1].
„Alarmierende“ Zahlen zur Gewichtszunahme
„Eine Gewichtszunahme in dem Ausmaß wie seit Beginn der Pandemie haben wir zuvor noch nie gesehen.Das ist alarmierend, denn Übergewicht kann schon bei Kindern und Jugendlichen zu Bluthochdruck, einer Fettleber oder Diabetes führen“, erklärt Dr. Susann Weihrauch-Blüher, Oberärztin an der Universitätskinderklinik Halle/Saale und Sprecherin der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AGA) der DAG. „Schon vor Corona waren 15% der Kinder und Jugendlichen von Übergewicht betroffen, 6% sogar von starkem Übergewicht."
„Die Krankheitslast ist ungleich verteilt, und Corona hat das erheblich verschärft“, sagt Prof. Dr. Hans Hauner, Direktor des EKFZ für Ernährungsmedizin und DAG-Vorstandsmitglied. „Die Folgen der Pandemie müssen aufgefangen werden, sonst werden die Corona-Kilos zum Bumerang für die Gesundheit einerganzen Generation. Die Stärkung geeigneter Therapie-Angebote, die alle Gruppen gleichermaßen erreicht, ist nun von enormer Bedeutung“, so Hauner. Die Finanzierung der Adipositas-Therapie durch die Krankenkassen müsse dafür zur Regel werden.
Mehr als 1.000 Eltern befragt
Für die Studie hat das Meinungsforschungsinstitut Forsa im März und April 2022 insgesamt 1.004 Eltern mit Kindern im Alter von 3 bis 17 Jahren befragt. Die wichtigsten Ergebnisse:
16% der Kinder und Jugendlichen sind dicker geworden, bei Kindern im Alter von 10 bis 12 Jahren sind es sogar 32%.
Kinder und Jugendliche aus einkommensschwachen Familien sind doppelt so häufig von einer ungesunden Gewichtszunahme betroffen wie Kinder und Jugendliche aus einkommensstarken Familien (23% versus 12%)
44% der Kinder und Jugendlichen bewegt sich weniger als vor der Pandemie, bei Kindern im Alter von 10 bis 12 Jahren sind es sogar 57%.
Bei 33% der Kinder und Jugendlichen hat sich die körperlich-sportliche Fitness verschlechtert, bei Kindern im Alter von 10 bis 12 Jahren sind es sogar 48%.
Bei 43% der Kinder und Jugendlichen belastet die Pandemie die seelische Stabilität „mittel“ oder „stark“.
70% der Kinder und Jugendlichen haben die Mediennutzung gesteigert.
27% der Kinder und Jugendlichen greifen häufiger zu Süßwaren als zuvor.
34% der Familien essen häufiger gemeinsam als zuvor.
Experten warnen vor einer Adipositas-Epidemie
Kürzlich hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Europa vor den Folgen der Adipositas-Epidemie gewarnt und auf „nachteilige Veränderungen bei Ernährungs- und Bewegungsmustern“ durch die Corona-Pandemie hingewiesen. Auch der Corona-Expertenrat der Bundesregierung hatte im Februar ähnliche Gefahren zu Protokoll gegeben und Gegenmaßnahmen empfohlen.
Das EKFZ für Ernährungsmedizin hatte im September 2020, kurz nach Beginn der Corona-Pandemie, bereits eine Befragung mit vergleichbarer Methodik durchgeführt. Ein Abgleich mit den aktuellen Daten zeigt, dass sich die Auswirkungen auf den Lebensstil verfestigt haben.
Vor einer weiteren Zunahme der Adipositas-Inzidenz während der Pandemie hatten Kinder- und Jugendmediziner bereits im Juni des vergangenen Jahres gewarnt. 2 Millionen Kinder in Deutschland seien übergewichtig, davon 800.000 adipös. Die Inzidenz der Adipositas nehme in den letzten Monaten der -Pandemie langsam, aber stetig zu, hieß es in einer Mitteilung der AG Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AGA) der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG) sowie der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ).
„Wir dokumentieren in unseren Spezialsprechstunden Gewichtszunahmen von bis zu 30 Kilo in 6 Monaten – Einzelfälle, aber „Rekorde“ dieser Art mehren sich. Es gibt bei Kindern einen derart klaren Anstieg an Adipositas während der coronabedingten Lockdowns, dass wir hier von einer zweiten, einer ‚stillen Pandemie’ sprechen“, so AGA-Sprecherin Weihrauch-Blüher. Zudem beobachten Kinder- und Jugendärzte bei Jugendlichen eine deutliche Zunahme der Neumanifestationen von Typ-2-Diabetes.
Weniger Bewegung, mehr Medienkonsum
Als Ursache für die Zunahme der Zahl adipöser Kinder gelten durch Corona eingeschränkten Bewegungs- und Sportmöglichkeiten, ein hoher Medienkonsum und fehlende Strukturen in Tagesablauf und Sozialleben.
„Der Beginn aber reicht wesentlich weiter zurück als die Corona-Pandemie “, betonte DAG-Vizepräsidentin Susanna Wiegand, denn „seit Jahren schon verlieren auch normalgewichtige Kinder Muskelmasse und bauen Körperfett auf. Dabei geht es nicht nur um das Körpergewicht, sondern um die gesamte Entwicklung. Eine Trendwende ist nicht in Sicht!“.
Warnungen vor den Folgen der Pandemie für die kardiometabolische Gesundheit der Bevölkerung einschließlich der Kinder und Jugendlichen hat es in den vergangenen Monaten mehrfach gegeben.
So meldete das Robert-Koch-Institut (RKI) im Dezember 2020 mögliche Folgen der Pandemie. Das mittlere Körpergewicht habe im Zeitraum April bis August 2019 noch bei 77,1 Kilo gelegen, im gleichen Zeitraum des vergangenen Jahres jedoch bei 78,2 Kilo. Der mittlere BMI stieg von 25,9 im April bis August 2019 auf 26,4 im Vergleichszeitraum 2020.
Auch eine repräsentative Online-Umfrage des INSA-Consulere Instituts im Auftrag des Rundfunks Berlin-Brandenburg ergab einen Zusammenhang zwischen Lockdown und Gewichtszunahme: Rund 43% der Befragten aus Berlin und Brandenburg gaben an, während der Pandemie zugenommen zu haben – im Mittel um 5,5 Kilogramm.
Soziodemografische Risikofaktoren
„Das Risiko von Übergewicht und Fehlernährung steigt ganz besonders bei den Schulkindern über 10 Jahren“, sagt der Münchener Ernährungsmediziner Prof. Dr. Berthold Koletzko. So habe eine Forsa-Umfrage ergeben, dass 27% der Eltern und 9% der Kinder unter 14 Jahren zwischen dem Lockdown im März 2020 und der Umfrage im September an Gewicht zugelegt haben.
„Wenn man … die sozioökonomische Schichtung anschaut, sieht man, dass Kinder aus Familien mit hohem Bildungsabschluss der Eltern wenig betroffen sind, aber dass eines von vier Kindern von Eltern mit Hauptschulabschluss eine Zunahme des Körpergewichts hat“, wurde Koletzko im Deutschen Ärzteblatt zitiert. Das sei eine sehr beunruhigende Beobachtung, zumal diese Kinder schon vor der Pandemie ein höheres Risiko für Übergewicht und Adipositas gehabt hätten. Auf den hohen Ausgangswert komme jetzt auch noch diese hohe Steigung. Zudem werde die ohnehin bestehende soziale Kluft und die damit einhergehenden Folgen durch die Pandemie noch weiter verschärft werden.
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Diesen Artikel so zitieren: Folgen der Pandemie speziell bei Kindern: Weniger Bewegung, mehr Mediennutzung, mehr Übergewicht - Medscape - 2. Jun 2022.
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