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Das Leiden des Johann Sebastian Bach: War eine Augenoperation mit schuld an seinem Tod?

Redaktion: Marc Fröhling & Sebastian Schmidt

Interessenkonflikte

30. Mai 2022

Wenn die Rede von den großen Komponisten der barocken Musik ist, darf er nicht fehlen. Er hat über 1000 Stücke komponiert und ist weltberühmt: Johann Sebastian Bach. Von seinem langen Leidensweg wissen derweil nur wenige. Ein Interview mit dem Arzt und Historiker Ronald. D. Gerste.

Coliquio: In Johann Sebastian Bachs Nachruf wird ihm vom Verfasser ein „von Natur aus blödes Gesicht" unterstellt. Was ist damit gemeint und was war demzufolge Bachs Grundleiden?

Gerste: Das klingt – für heutige Ohren – unfreundlicher als es gemeint war. Es beschreibt einfach eine Sehschwäche. Bei dieser dürfte es sich um eine Myopie, also um Kurzsichtigkeit gehandelt haben. Johann Sebastian Bach hat dafür die typische Anamnese: Stundenlange Naharbeit (Lesen, Schreiben, Komponieren) in jungen Jahren und unter meist ungünstigen Lichtverhältnissen.  Ähnlich sind die Mechanismen heute, da vor allem in südostasiatischen Ländern bis zu 90% der Teenager aufgrund der überwiegenden Beschäftigung im Nahbereich (ergänzend zum Lesen/Schulaufgabenmachen noch PC, Tablet, Smartphone) kurzsichtig sind.

Ronald. D. Gerste

Auf dem berühmtesten und mutmaßlich einzig unzweifelhaft authentischen Bach-Porträt von Elias Haußmann aus dem Jahr 1746 erkennt man an der Nasenwurzel und zwischen den Augenbrauen kleine Falten. Diese rühren vom jahrelangen Zusammenkneifen der Augen, beim Versuch, schärfer zu sehen, im Volksmund Zornesfalten genannt.

Coliquio: Unabhängig vom gesellschaftlichen Status waren zu Lebzeiten Bachs Operationen lebensgefährliche Unterfangen. Wie hat man sich den damaligen chirurgischen Entwicklungsstand vorzustellen?

Gerste: Wichtig ist: Wir sprechen von einer Epoche rund einhundert Jahre vor den beiden wichtigsten Errungenschaften der modernen Chirurgie, der Einführung von Anästhesie und Antisepsis. So war nicht nur jeder operative Eingriff eine Qual für die Patientinnen und Patienten, sondern auch die Eintrittspforte für Krankheitserreger – durch bestenfalls nur oberflächlich gesäuberte Instrumente und ungewaschene Chirurgenhände. Vieles was uns heute selbstverständlich ist, war unter diesen Bedingungen unmöglich, wie beispielsweise eine Appendektomie oder eine Cholezystektomie. Die Chirurgie behandelte Wunden – vor allem in den zahlreichen Kriegen. Ferner waren der Steinschnitt und der Starstich die wichtigsten Interventionen.

Coliquio: Im Falle Bachs machte der graue Star einen Eingriff unumgänglich. Diese wurde damals von sogenannten „Starstechern” durchgeführt. Was ist über deren Arbeitsweise – und medizinische Grundausbildung– bekannt?

Gerste: Der Starstich hat seine Vorläufer in der Antike. Dabei wurde die getrübte Linse mit einer Nadel aus ihrer Verankerung gekippt und versank dann in der Vorderkammer oder im Glaskörper. Beides war extrem komplikationsträchtig. Vor allem Sekundärglaukome und Endophthalmitiden – eine bakterielle oder fungale Infektion aller Strukturen im Auge, heute als der glücklicherweise sehr seltene GAU in der Ophthalmochirurgie betrachtet, waren eher die postoperative Regel als die Ausnahme.

Ob Starstecher, Steinschneider, Barbier oder Chirurgus: wie immer die Operateure sich nannten, sie machten in aller Regel eine Lehre bei einem erfahrenen Vertreter der Zunft. Und als Zunft galt diese Berufsgruppe. Eine akademische Chirurgie jedoch gibt es erst ab dem späten 18., vielerorts eher seit dem 19. Jahrhundert. 

Coliquio: Bach geriet an den wohl berühmtesten der damaligen Starstecher – John Taylor. Was ist über Taylor bekannt? Woher kam er und worauf gründete sein Renommee?

Gerste: Taylor entstammte einer Chirurgenfamilie. Auch sein Sohn und sein Enkel sollten diesen Beruf ergreifen. Seine Ausbildung war, gemessen am Stand der Epoche, keineswegs schlecht. Er lernte bei dem berühmten Chirurgen William Cheselden in London. Wie viele Wundärzte und Starstecher übte Taylor seinen Beruf auf Reise aus, der Operateur kam also zum Patienten.

Seine PR war state-of-the-art: meist ließ er an seinem nächsten Ziel von vorausgereisten Mitarbeitern Texte in die Gazetten setzen, die von der bevorstehenden Ankunft des Meisters kündeten. Dort warteten die bereits blinden Patienten. Denn, was wir heute kaum noch sehen: der Graue Star war bei den Betroffenen matur oder gar hypermatur, also die Linse weißlich getrübt. Zentrales Element des von ihm um seine Person betriebenen Kultes war die bunte Luxuskutsche, in der er reiste und die mit zahlreichen Bildnissen von Augen bemalt war.

Dass er nur wenige Tage an einem Ort blieb, war fast eine berufliche Notwendigkeit: nach wenigen Tagen werden die genannten, kaum vermeidbaren Komplikationen manifest. Daher war es besser, die Stadt bereits verlassen zu haben. Taylor selbst hat einmal zugegeben, dass er allein in der Schweiz mehrere hundert Menschen hat blind werden lassen.

Coliquio: Zurück zu Bach: Wie verlief die Operation durch Taylor an dem berühmten Komponisten?

Gerste: Nach allem was wir wissen – die Quellenlage ist nicht ganz eindeutig – operierte Taylor Bach Ende März, Anfang April 1750 zweimal. Danach war Bach blind. Wenige Jahre darauf operierte Taylor mit Georg Friedrich Händel einen weiteren Großen der europäischen Musik. Dessen Auge (oder Augen) waren voroperiert. Auch Händel war bzw. blieb blind.

Coliquio: Wenige Monate nach der Behandlung durch Taylor starb Johann Sebastian Bach. Steht sein Tod in Zusammenhang mit dem Eingriff des Starstechers?

Gerste: Darüber wird natürlich spekuliert. Es liegen exakt vier Monate zwischen der ersten Operation und Bachs Tod. Für eine Sepsis als unmittelbare Folge der Operation ist das zu lange. Aber bedenken wir: die Wunde vom Starstich wurde nicht vernäht. Bach konnte an seinem blinden und wahrscheinlich schmerzenden Auge – Sekundärglaukom! – gerieben und damit die grobe Inzision wieder eröffnet haben. Dann wäre eine Eintrittspforte für pathogene Keime wieder offen gewesen.

Coliquio: Sie sind selbst auf Augenheilkunde spezialisiert. Wie gestaltet sich eine Katarakt-OP heute?

Gerste: Die heutige Kataraktchirurgie der häufigste operative Eingriff. Sie stellt auch ein Unikum dar: während die meisten Operationen den Zustand des betreffenden Organs vor Manifestation der zu behandelnden Krankheit wiederherzustellen suchen, kann eine Kataraktoperation zu einer besseren Funktion führen als jemals zuvor   im Erwachsenenleben des Patienten.  

Das passiert dann, wenn durch die Wahl einer Intraokularlinse (IOL) der notwendigen Stärke zum Beispiel eine seit Kindheit bestehende Fehlsichtigkeit „mit wegoperiert“ wird. Der Patient im Alter von, sagen wir, 70 Jahren sieht dann zum ersten Mal seit der Grundschule wieder exzellent ohne Brille oder Kontaktlinsen.

Sekundärglaukome und Endophthalmitiden – früher und heute

Vor allem Sekundärglaukome und Endophthalmitiden – eine bakterielle oder fungale Infektion aller Strukturen im Auge, heute als der glücklicherweise sehr seltene GAU in der Ophthalmochirurgie betrachtet – waren eher die postoperative Regel als die Ausnahme. Zu Sekundärglaukomen – bei denen im Unterschied zu einem primären Glaukom eine klar identifizierbare Ursache der Steigerung des Augeninnendrucks vorliegt – kam es nach dem Starstich sehr häufig, da die Linse im Gegensatz zu einer heutigen Kataraktoperation nicht aus dem Auge entfernt wurde und einen Platz im anatomisch sehr engen Organ einnahm, an den sie nicht hingehörte. So kam es zu Drucksteigerungen, weil die Zirkulationswege des Kammerwassers verlegt wurde und auch, da der grobe Eingriff eine massive Entzündungsreaktion auslöste.

 

Das Besondere: Heutige Kataraktoperationen erfordern oft nur eine Öffnung von weniger als 2 mm Größe. Hierdurch wird die eine faltbare IOL eingebracht, nachdem die getrübte Linse mit Ultraschall oder einem Femtosekundenlaser fragmentiert und die Einzelteile abgesaugt worden. Das typische Erlebnis eines heutigen Patienten ist ein gänzlich anderes als das von Bach: noch im Ruheraum nach der OP, beim Blick aus dem Fenster bemerkt man die neue und meist sehr gute Sehschärfe – es ist eine Intervention mit sofortigem „Aha-Effekt“!

Dieser Artikel ist im Original erschienen auf  Coliquio.de .

 

Kommentar

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