Im British Medical Journal ruft eine international besetzte Autorengruppe dazu auf, den Einsatz der potenten Lipidsenker Ezetimib und PCSK9-Hemmer nicht mehr – wie von internationalen Leitlinien empfohlen - vom Erreichen des LDL-Cholesterin-Zielwerts abhängig zu machen, sondern vielmehr vom individuellen kardiovaskulären Risiko der Patienten [1].
Die neuen Empfehlungen sind Teil der von dem britischen Fachjournal aufgelegten Rapid-Recommendations-Initiative. Sie soll es Ärzten ermöglichen, bessere Entscheidungen für ihre Patienten zu treffen, indem neue Evidenz zeitnah in verlässliche Handlungsempfehlungen umgesetzt wird.
Uneinheitliche Zielwerte lassen Ärzte im Unklaren
Erstautor Dr. Qiukui Hao vom Nationalen Klinischen Forschungszentrum für Geriatrie an der Universität Sichuan in Chengdu, China, und seine Kollegen argumentieren: „Die meisten Leitlinien betonen das Erreichen von LDL-Cholesterin-Zielwerten, wenn sie Empfehlungen für den Einsatz von Ezetimib und PCSK9-Hememrn bei Patienten mit hohem kardiovaskulärem Risiko geben. Allerdings nennen sie auch unterschiedliche Zielwerte für das LDL-Cholesterin und lassen Ärzte so im Unklaren darüber, wie sie bei der Auswahl der neuen, teureren Lipidsenker vorgehen sollen.“
Hinzu komme, so Hao und seine Koautoren, dass „Ezetimib und PCSK9-Hemmer – zusätzlich zu Statinen gegeben – zwar Herzinfarkte und Schlaganfälle reduzieren, aber nur bei Patienten mit sehr hohem und hohem kardiovaskulärem Risiko, nicht aber bei Patienten mit moderatem und niedrigem kardiovaskulärem Risiko“. Eine Reduktion der kardiovaskulären Mortalität erreiche man mit Ezetimib und PCSK9-Hemmern in keiner der Risikogruppen.
Stratifizierung der Therapie in 4 kardiovaskuläre Risikogruppen
Für Patienten mit einem LDL-Cholesterin-Spiegel über 70 mg/dl trotz Hochdosis-Statintherapie oder bei Statinunverträglichkeit empfehlen die Autoren deshalb:
bei niedrigem kardiovaskulärem Risiko (5-Jahres-Risiko für MACE <5%): Statin-Monotherapie fortführen, keinen weiteren Lipidsenker;
bei moderatem kardiovaskulärem Risiko (5-Jahres-Risiko für MACE 5 bis 15%): Statin-Monotherapie fortführen, keinen weiteren Lipidsenker; wird dennoch ein weiterer Lipidsenker in Betracht gezogen, besser Ezetimib, kein PCSK9-Hemmer;
bei hohem kardiovaskulärem Risiko (5-Jahres-Risiko für MACE 15 bis 20%): Statintherapie um einen weiteren Lipidsenker ergänzen, vorzugsweise Ezetimib, keinen 3. Lipidsenker (keinen PCSK9-Hemmer);
bei sehr hohem kardiovaskulärem Risiko (5-Jahres-Risiko für MACE >20%): Statintherapie um einen weiteren Lipidsenker ergänzen, vorzugsweise Ezetimib, PCSK9-Hemmer kann noch als 3. Lipidsenker dazu genommen werden.
„Ein Rückschritt, kein Fortschritt“

PD Dr. Ingo Hilgendorf
Mit diesen Empfehlungen widerspricht die Autorengruppe um Hao verschiedenen internationalen Leitlinien, auch den europäischen und amerikanischen. Für den deutschen Kardiologen PD Dr. Ingo Hilgendorf, Geschäftsführender Oberarzt an der Klinik für Kardiologie und Angiologie am Universitätsklinikum Freiburg, ist diese Vorgehensweise „ein Rückschritt und kein Fortschritt“.
Bevor es PCSK9-Hemmer gab, wurde in alten Leitlinien etwas empfohlen, das man heute als Fire-and-Forget-Strategie kennt: „Man hat eine möglichst hochdosierte Statintherapie angesetzt, und damit war die Sache erledigt. Aber heute haben wir Medikamente zur Verfügung, mit denen wir die Therapie modulieren können“, erklärt Hilgendorf im Gespräch mit Medscape.
Auch den großen Widerspruch zwischen den internationalen Leitlinien, den Hao und seine Kollegen kritisieren, kann der Freiburger Kardiologe so nicht erkennen. „Die europäischen Leitlinien empfehlen einen LDL-Cholesterin-Zielwert von mindestens 55 mg/dl für Patienten mit sehr hohem Risiko, auf den mit allen zur Verfügung stehenden Maßnahmen, inklusive PCSK9-Hemmern, hingearbeitet werden soll. Die amerikanischen Leitlinien empfehlen für Patienten mit sehr hohem Risiko, die allein mit Statinen und Ezetimib noch immer oberhalb eines Grenzwertes von 70mg/dl liegen, PCSK9-Hemmer hinzunehmen. Für die meisten Patienten läuft es in beiden Leitlinien auf dieselbe Therapieempfehlung hinaus.“
Effektivität muss Auswahl der Medikamente bestimmen
Nur auf das kardiovaskuläre Risiko zu achten und weitgehend unabhängig vom LDL-Cholesterin-Wert ein Medikament zu verschreiben, sieht Hilgendorf als den falschen Weg an. „Meiner Meinung nach muss man die Auswahl der Medikamente von ihrer Effektivität abhängig machen“, konstatiert er. „Mit bestimmten Medikamenten kann man eine stärkere Cholesterinsenkung erreichen als mit anderen – und wenn man noch weit vom Zielwert entfernt ist, ist es logisch, zu den potenteren Medikamenten zu greifen.“
Hao und seine Koautoren basieren ihre Empfehlungen auf einer Netzwerk-Metaanalyse von 14 Studien mit insgesamt 83.660 Patienten. Die Effekte von PCSK9-Hemmern und Ezetimib seien darin konsistent gewesen, die Effektgrößen aber abhängig vom individuellen kardiovaskulären Risiko der Patienten, berichten sie.
Ein Beispiel: Behandelt man 1.000 Patienten über 5 Jahre mit einem PCSK9-Hemmer, verhindert man bei denjenigen mit dem niedrigsten kardiovaskulären Risiko 2 Schlaganfälle und bei denjenigen mit den höchsten kardiovaskulären Risiko 21 Schlaganfälle.
Gleiche Daten, andere Schlussfolgerung
Hao und seine Kollegen erläutern, dass der Nutzen von Ezetimib und PCSK9-Inhibitoren in der Gruppe mit hohem oder sehr hohem kardiovaskulärem Risiko vergleichbar sei. Da aber PCSK9-Hemmer viel teurer seien – und mitunter Hautreaktionen verursachten – präferieren sie in ihren Empfehlungen grundsätzlich Ezetimib.
Hilgendorf betont allerdings: „Es gibt keine neue Evidenz. Die Netzwerk-Metaanalyse umfasst die gleichen Studien, die auch der Erstellung der internationalen Leitlinien zugrunde lagen. Die Autoren um Hao kommen nur basierend auf den gleichen Daten zu einem anderen Schluss als die Autoren der internationalen Leitlinien.“
Wie bedeutsam ist der (noch nicht gezeigte) Effekt auf die Mortalität?
Für Hao und seine Kollegen sind die entscheidenden Outcomes die Gesamtmortalität, die kardiovaskuläre Mortalität, Schlaganfälle und Herzinfarkte über 5 Jahre. Dass PCSK9-Hemmer und Ezetimib keinen Effekt auf die Gesamtmortalität und die kardiovaskuläre Mortalität haben, unabhängig von der Risikogruppe, nehmen sie als weiteren Anlass, ihren Einsatz nur äußerst sparsam zu empfehlen.
Eine Argumentation, die Hilgendorf nicht wirklich nachvollziehen kann, denn: „Der Unterschied bei den Todesfällen war zwar statistisch nicht signifikant, aber numerisch vorhanden. Mit einer längeren Nachbeobachtung und in Subgruppen mit sehr hohem Ausgangsrisiko darf man auch einen Überlebensvorteil erwarten“, sagt der Freiburger Kardiologe. Insbesondere die PCSK9-Hemmer Alirocumab und Evolocumab hätten dahingehend schon vielversprechende Daten gezeigt.
PCSK9-Hemmer sind keine „Reservemedikamente“
Dass das Autorenteam um Hao praktisch überhaupt keine Empfehlung für PCSK9-Hemmer gibt – „es ist sozusagen nur eine Reservemedikation bei Statinunverträglichkeit“ – sei quasi eine Rückkehr zu der alten Fire-and-Forget-Strategie, „von der wir wissen, dass wir damit nicht alle Patienten in den Zielbereich bekommen“, kritisiert Hilgendorf.
Da PCSK9-Hemmer im Allgemeinen gut vertragen werden – von möglichen Hautreaktionen an der Injektionsstelle abgesehen – gibt es Hilgendorf zufolge eigentlich keinen guten Grund, sie nicht für eine Zielwerterreichung insbesondere in der Sekundärprävention einzusetzen – es sei denn, es gehe um die Kosten.
In Deutschland ist die Zielwertorientierung ein Muss
Tatsächlich könnte bei der Entwicklung dieser risikostratifizierten Empfehlungen auch die Tatsache eine Rolle gespielt haben, dass PCSK9-Hemmer sehr teuer sind. „Hao und seine Kollegen haben versucht, Empfehlungen zu entwickeln, die auch international gültig sein sollen, also in Ländern mit ganz unterschiedlichen Standards und Versorgungsrealitäten“, so Hilgendorf.
Auf die deutsche Sicht beschränkt müsse man aber ganz klar zielwertorientiert vorgehen. „Bei einem großen Anteil an Patienten wird man den Zielwert nur mit den generisch verfügbaren oralen Medikamenten, etwa der Fixkombination aus Atorvastatin und Ezetimib, erreichen.“
„Kommt der Patient damit schon nahe an den Zielbereich, reicht möglicherweise die zusätzliche Gabe von Bempedoinsäure, um den Zielwert doch noch zu erreichen. Befindet man sich aber noch weit weg, etwa bei 100 mg/dl, reicht das nicht aus, dann braucht es einen PCSK9-Hemmer“, so Hilgendorf weiter.
Vermeidung von Ereignissen oder von Kosten?
Für die Praxis sei empfehlenswert, immer zu schauen, wie weit man mit Statin plus Ezetimib kommt – wenn es vertragen wird – und dann in Abhängigkeit vom erreichten Wert und dem Abstand zum risikoabhängigen Zielwert zu entscheiden, welche weiteren Medikamente dazu genommen werden. „Entweder wir sagen, das kostet zwar mehr, aber wir können damit Ereignisse verhindern, oder wir nehmen vermeidbare Ereignisse in Kauf, weil es uns zu viel kostet“, sagt er.
Hilgendorf zitiert eine schwedische Registeranalyse aus 2021, die zeigt, wie wichtig es ist, den Cholesterinspiegel mit einer potenten Therapie möglichst rasch zu senken: „Bei den Patienten, bei denen innerhalb von 6 bis 10 Wochen eine LDL-Cholesterin-Senkung um etwa 50% erreicht wurde, übersetzte sich dies direkt für die nächsten 3 bis 4 Jahre in einen Überlebensvorteil.“
Unzureichende Therapie kann Überlebensnachteil haben
„Mit einer Statin-Monotherapie besagen konservative Schätzungen, dass 20 bis 30% den LDL-Cholesterin-Zielbereich erreichen – die Dosisreduktionen wegen Unverträglichkeiten sind hier bereits eingerechnet. Aber mit der Fixkombination aus hochdosiertem Atorvastatin plus Ezetimib wird man 50 bis 80% der Hochrisiko-Patienten bis zu einem LDL-Cholesterin von 55 mg/dl behandeln können“, so Hilgendorf.
Hilgendorf sieht in den Empfehlungen des BMJ-Expertenpanels die Gefahr, dass man „auf einer nicht ausreichend potenten Therapie hängenbleibt“, und Beobachtungen zeigen, dass wenn man zu langsam hochtitriert oder gar nicht hochtitriert, sich das auch in einen Überlebensnachteil übersetzt.
Warnung vor „veraltetem Trend“
Grundsätzlich gehe es beim Einsatz von weiteren lipidsenkenden Medikamenten um den Ausgangspunkt. „Befindet man sich mit einer reinen Statintherapie bereits bei einem LDL-Cholesterin-Wert um 70 mg/dl, kann man sich streiten, ob es noch viel bringt, ein weiteres Medikament dazu zunehmen, um von 70 auf 55 mg/dl zu kommen.“
Die Zielwerte seien absichtlich tief angesetzt worden, so dass man schon ganz gut liege, wenn man sich etwa in dem Bereich befinde. „Aber oberhalb von 70 mg/dl als Ausgangswert profitieren die Patienten in allen Studien von einer weiteren Cholesterinsenkung“, so Hilgendorf.
„Deshalb ist die zielwertorientierte Therapie der von der Autorengruppe um Hao vertretenen risikogruppenstratifizierten Therapie vorzuziehen“, schlussfolgert der Kardiologe. „Man darf sich natürlich nicht nur auf das LDL-Cholesterin fokussieren und alles andere komplett aus den Augen lassen, aber die Behandlung nur in Abhängigkeit vom kardiovaskulären Risiko ohne Zielwertorientierung ist für mich ein veralteter Trend. Es wäre so, als ob man Autofahrern entsprechend ihres Risikoprofils empfiehlt, in welchem Gang sie fahren sollen, anstatt das Tempolimit anzugeben.“
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Diesen Artikel so zitieren: Rückschritt bei Lipidtherapie? Internationale Autoren widersprechen Leitlinien und empfehlen PCSK9-Hemmer nur für Risiko-Patienten - Medscape - 27. Mai 2022.
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