Psychische Erkrankungen machen vor Ärzten und Therapeuten nicht halt. Einige sind sogar in helfenden Berufsgruppen überrepräsentiert. Letztlich hat auch die Pandemie enorm dazu beigetragen, dass sich manchen Mitarbeiter im Gesundheitswesen derart verausgaben, dass sie krank werden.
Doch bei den meisten ist es mit der ärztlichen Selbstfürsorge nicht weit her. Der Bedarf für professionelle Therapien und entsprechende Hilfsangebote ist groß. Das wurde beim 3. Symposium für Psychosomatische Medizin an der Psychosomatischen Klinik Kloster Dießen deutich [1].
Auf der Agenda standen psychische Belastungen und Erkrankungen in helfenden Berufen, Resilienz-Strategien und das Burn-on-Syndrom. Letzteres haben der Chefarzt der Klinik, Prof. Dr. Bert te Wildt, und der Leitende Psychologe, Dipl.-Psych. Timo Schiele, 2021 erstmals beschrieben [2]. Es entspricht dem chronischen Pendant zum Burn-out-Syndrom. Beide gelten zunächst als arbeitsbezogene Störungen.
80% mehr psychische Erkrankungen bei Arbeitsstress
„So unzweifelhaft, wie es einen menschengemachten Klimawandel gibt, so unzweifelhaft ist es, dass Arbeitsstress krank macht“, sagte Prof. Dr. Peter Angerer, Direktor des Instituts für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der Universität Düsseldorf. Das gilt nicht nur für somatische Erkrankungen. „Arbeitsstress führt zu einer 80%igen Risikoerhöhung für Depressionen und andere psychische Erkrankungen“, so der Internist und Kardiologe.
Depressionen, Angsterkrankungen, Süchte und Burn-out sind bei Ärzten besonders häufig. In einer Online-Umfrage von Medscape in der Corona-Krise berichteten im Sommer 2020:
55% der Ärzte von körperlicher, emotionaler und mentaler Erschöpfung,
26% gaben depressive Verstimmungen an,
66% hatten noch nie professionelle Hilfe gesucht.
Dr. Maxi Braun, die in Dießen eine eigene Behandlungseinheit für psychosomatisch erkrankte Kollegen aufgebaut hat, nannte Prävalenzen von 17,4% und 17,8% für depressive und Angstsymptome bei 1.061 Ärzten, die in Deutschland im Rahmen einer Web-basierten Studie Auskunft zu ihrer seelischen Gesundheit gaben – ebenfalls anlässlich der Pandemie. „Das ist die Chance gewesen, medizinisches Personal zu befragen.“
Speziell unter mehr als 5.000 Psychiatern ergaben sich in einer aktuellen Metaanalyse je nach Diagnose-Instrument Burn-out-Prävalenzen von 25,9% und 50,2%:
43,5% fühlten sich in hohem Maße emotional erschöpft,
28,2% ausgeprägt depersonalisiert,
32,4% schätzten ihre persönliche Leistung sehr gering ein.
Burn-out-Syndrom erstmals in ICD-11 kodiert
Den Begriff „Burn-out“ gibt es seit den 1970er-Jahren. Als eigenständige Krankheit anerkannt ist es nach wie vor nicht. Dafür wird es in der neuesten, 11. Version der International Classification of Diseases (ICD-11) unter dem Code QD85 erstmals explizit als Syndrom beschrieben.
„Ein Burn-out ist meist der traurige Höhepunkt einer negativen Entwicklung, wenn Menschen in einen Teufelskreis aus Überarbeitung, abnehmender Leistungsfähigkeit und dem verzweifelten Versuch geraten, diese durch noch mehr Arbeit aufzufangen“, so te Wildt und Schiele. Plötzlich bricht man zusammen. Nichts geht mehr.
Burn-on als „schmerzhafter Spagat über dem Abgrund“
Beim Burn-on geht immer noch etwas, immer noch mehr. „Es könnte da etwas geben, das Krankheitswert hat“, beschreibt Schiele den Eindruck, den sie bei vielen Patienten gewannen. Burn-on-Patienten haben in der Regel (noch) nicht die Burn-out-typische negative bis zynische Haltung zur eigenen Arbeit. Sie funktionieren im Beruf weiter – auch wenn sie emotional, sozial, körperlich auf der Strecke bleiben.
Den chronischen Spannungszustand verbildlichen Schiele und te Wildt als „schmerzhaften Spagat über dem Abgrund“. Loslassen ist keine Option, dann droht der Absturz.
Abseits der Arbeit, wo Deadlines fehlen, nicht unmittelbar Konsequenzen drohen, bauen Burn-on-Patienten ab. Freundschaften werden nicht gepflegt, Hobbies vernachlässigt. „Manche Lebensbereiche leiden seit Jahren“, sagte Schiele.
Manch einer fühlt sich leer, im Kern zutiefst freudlos. Dies spiegelt eine Erschöpfungsdepression, die beim Burn-out akut, beim Burn-on chronisch ist. Depressionen, aber auch Angsterkrankungen, Persönlichkeitsstörungen, Varianten der Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) und Verhaltens- oder substanzgebundene Suchterkrankungen sind häufige Komorbiditäten.
Mitunter zwingen erst körperliche Folgen Menschen mit Burn-on, ihr Leben zu ändern. Oft manifestiert sich der „schmerzhafte Spagat“ etwa mit Bluthochdruck oder Muskelverspannungen. Viele wünschen sich deshalb Physiotherapie.
Psychotherapie anzunehmen, fällt ihnen schwerer: „Wir müssen für diese Patienten oft viel intensiveren Beziehungsaufbau leisten als bei Burn-out“, sagte Schiele. Anders als beim Burn-out sind die Symptome eher ich-synton, passend zur Persönlichkeit. Während viele Burn-out-Patienten nach Klinikaufnahme zunächst dankbar abschalten, gingen die mit Burn-on die Therapie an wie ihr Arbeitsleben: „Wo sind die Termine? – Ich brauche mehr!“
Polarisierte Daueranspannung
Klinisch verankern te Wildt und Schiele Burn-on auf 3 Ebenen:
der zentralen Symptomatik,
dem Umgang mit dem Außen und
dem mit sich selbst.
Jede hat 3 Dimensionen: Verhalten, emotionale und mentale Dimension. Dabei steht der Spagat jeweils im Spannungsfeld zweier gegensätzlicher Pole.
So verhalten sich Burn-on-Patienten symptomatisch zwischen Aktionismus und Handlungslähmung. Sie stellen endlose To-do-Listen auf, im „Höher-Schneller-Weiter“ gerät Geschäftigkeit zum Selbstzweck. Neben Anforderungen der Leistungsgesellschaft, Beschleunigung und Zusatzaufgaben infolge der Digitalisierung tragen individuelle lern- und tiefenpsychologische Aspekte bei, etwa Konditionierung zu Höchstleistungen oder die Annahme, nur für sein Tun geliebt zu werden.
Oft reden sich die Patienten ihre Situation schön. Floskeln wie „Mir geht´s gut“, „Alles bestens“ sind Ausdruck eines „gequälten Optimismus“, einer Selbst-Entfremdung. „Das sind Menschen, bei denen man erst nach langem Sprechen hört, wie schlecht es ihnen eigentlich geht“, erläuterte Schiele.
Mental sind viele Perfektionisten, die sich zugleich als unzulänglich erleben. „Man fühlt sich wie ein Hochstapler und hat Angst aufzufliegen“, sagte Schiele über die Gefühle von Burn-on-Patienten.
Instant-Wellness ist keine Selbstfürsorge
Im Umgang mit dem Außen dominieren professionelle Fixierung versus Eskapismus, Aggression versus Angst und Hyperfokussierung versus Unachtsamkeit. Letztere resultiert nicht selten in kleinen Unfällen. „Es ist Ausdruck einer kognitiven Überladenheit, dass einem Dinge passieren, die einem sonst nicht passieren“, so Schiele.
Burn-on-Patienten schwanken von Selbst-Optimierung zu Selbst-Schädigung, Stolz zu Scham, (Selbst-) Überhöhung zu (Selbst-) Entwertung. Auch was der dringend benötigten Selbstfürsorge dienen sollten, wird der Optimierung untergeordnet und so ad absurdum geführt. Als Beispiel nannte Schiele das schnell eingeschobene Wellness-Wochenende, um danach umso besser weiter zu funktionieren. Ärzte neigen zu Präsentismus und gehen bei Krankheit zur Not mit Schmerzmitteln und Fiebersenkern gedopt zur Arbeit.
„Wie ist es eigentlich mit dem, was wir täglich unseren Patientinnen und Patienten erzählen, und was wir selbst machen?“ Diese Frage treibt Schieles Kollegin Braun schon lange um. „Die Kolleginnen und Kollegen, die zu uns kommen, kommen in der Regel viel zu spät, sind sehr krank und oftmals sehr unter Druck“, bemängelte die Fachärztin für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychotherapeutische Medizin.
Viel Widerstand zu überwinden
Dahinter steckt vor allem Scham: „Was ich in 50% der Vorgespräche höre, ist: ‚Ich schäme mich, dass ich zu Ihnen kommen muss‘, ‚Ich schäme mich, als Kollege an Sie herantreten zu müssen‘, ‚Ich schäme mich, versagt zu haben und nicht mehr als Ärztin tätig sein zu können‘“, berichtete Braun.
„Oft gibt es ein ausgeprägtes Misstrauen, ausgeprägte Diskretions- und Datenschutz-Bedürfnisse, ein hohes Kontrollbedürfnis, insgesamt eine hohe Leistungsorientierung.“ Manche könnten sich nicht vorstellen, für die stationäre Behandlung mindestens 4 Wochen auszufallen.
Hinzu kommen mitunter fehlende Akzeptanz im privaten Umfeld, Wettbewerb, narzisstische Kränkungen und Unverwundbarkeitsfantasien. „Ärzte sind Emotionsvermeider“, betonte Braun. „Es geht darum, die eigene Bedürftigkeit nicht zeigen zu wollen, und uns auch manchmal nicht belasten zu wollen.“
„Kollegen sind oft wenig selbstfürsorglich, haben wenig Erfahrung darin, auch Fürsorge durch andere zu erfahren und oder auch anzunehmen“, berichtete Braun von ihren Erfahrungen.
Im Therapiesetting profilieren sich einige als Co-Therapeuten, Compliance kollidiert mit eigenen Behandlungsvorstellungen: „Es gibt sehr viele Kolleginnen und Kollegen, die sich mit Johanniskrautextrakt behandeln. Da müssen wir zumindest die Diskussion führen, dass das bei einer schweren depressiven Episode nicht leitliniengerecht ist.“
Die Arzt-Patienten-Beziehung auszubalancieren, Kollegen ihre Kompetenzen zu lassen und sie zugleich immer als Patienten zu sehen, sei „wirklich schwierig“, so Braun.
Perfektionsstreben ja, aber nur da, wo es wirklich nützt
Psychotherapie bei Burn-on versucht, das oft sehr mechanistische Arbeitsmodell der Klienten kritisch zu beleuchten und sie zur Veränderung zu motivieren. Perfektionismus und Exzellenzstreben sind gezielt da einzusetzen, wo es wirklich der Karriere dient, ohne sämtliche Arbeits- und Lebensbereiche ihrem Diktat zu unterwerfen.
Wichtig ist, zugrundeliegende Persönlichkeitsfaktoren zu bearbeiten, die eigene Vulnerabilität wahrzunehmen und einen persönlichen Wertekanon zu erstellen, der als Orientierung für das weitere Handeln dient.
In der Arbeit mit Burn-on-Patienten werden an der Psychosomatischen Klinik in Dießen neben Achtsamkeitsübungen und Metaphern-Arbeit unter anderem Taekwondo und Kunsttherapie genutzt. Viele Aktivitäten, etwa reflexive Gartenarbeit, finden im Freien statt. Schiele: „Gerade diese Patienten schätzen Natur- und Tier-gestützte Therapieformen.“
Credits:
Photographer: © Fabio Iozzino
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Medscape Nachrichten © 2022
Diesen Artikel so zitieren: Haben Sie schon Burn-out oder noch Burn-on? Wie sich Ärzte schützen sollten, wenn sie für ihren Beruf zu sehr brennen - Medscape - 25. Mai 2022.
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