Piloten, Berufsfahrer, Profisportler – es ist bekannt, dass Schlafmangel bei ihnen die Leistung beeinträchtigt. Doch Chirurgen, die in der Nacht Notfälle operieren und am nächsten Morgen die regulär geplanten Operationen durchführen, ohne zwischendurch zu schlafen, produzieren offenbar keine schlechteren Outcomes. Dies zeigt eine Querschnittstudie von fast 500.000 chirurgischen Eingriffen in den USA [1]. Für die Patienten ist das ein beruhigender Gedanke, aber was bedeutet das für das Wohlergehen der Ärzte?
„Im Krankenhausalltag ist es nicht selten, dass Chirurgen nachts Notfalloperationen durchführen und dann am nächsten Tag einfach weiteroperieren“, schreiben die Studienautoren um Dr. Eric Sun vom Department of Anesthesiology, Perioperative and Pain Medicine an der Stanford University School of Medicine in JAMA Internal Medicine. „Es ist wichtig, dass wir verstehen, wie sich Müdigkeit beim behandelnden Arzt auf das Outcome des Patienten auswirkt.“
Vergleich von ausgeschlafenen und übernächtigten Chirurgen
Sun und seine Kollegen nutzten Daten eines US-Registers, um die Outcomes von 498.234 Operationen zu analysieren, die von 1.131 chirurgischen Oberärzten an 20 US-Krankenhäusern durchgeführt wurden. Als Kontrollen dienten die erfassten Chirurgen selbst – im ausgeschlafenen Zustand. Dadurch sollten durch die Person des Operateurs bedingte Effekte auf das Operations-Outcome eliminiert werden.
Insgesamt 13.098 Patienten (2,6%) in der Studie wurden von einem Chirurgen operiert, der in der Nacht zuvor gearbeitet hatte. Es bestand keine signifikante Assoziation zwischen der chirurgischen Tätigkeit in der Nacht zuvor und der Inzidenz von Todesfällen oder schweren Komplikationen wie Sepsis, Pneumonie, Herzinfarkt, thromboembolischen Ereignissen oder Schlaganfällen.
Kein statistisch signifikanter Unterschied bei den Komplikationen
Nach Adjustierung um potenzielle Störfaktoren betrug die Inzidenz von Todesfällen oder schweren Komplikationen bei „übernächtigten“ Chirurgen 5,89%. Es bestand kein statistisch signifikanter Unterschied zu den „ausgeschlafenen“ Chirurgen, deren Patienten zu 5,87% starben oder schwere Komplikationen entwickelten.
„Auch bei sekundären Endpunkten fanden wir keine signifikante Assoziation zwischen nächtlichem Operieren und dem Outcome von Operationen am Folgetag, mit Ausnahme der Operationsdauer“, berichten Sun und sein Team. Nach einer durchgearbeiteten Nacht brauchten die Chirurgen im Schnitt 4,7 Minuten länger für Operationen. Der Unterschied war zwar statistisch signifikant, aber: „Es ist unwahrscheinlich, dass dieser Unterschied im Klinikalltag von Bedeutung ist“, meint die Forschungsgruppe.
Für die Patienten beruhigend zu hören
In einem begleitenden Editorial heben Dr. Gregory Leya und seine Koautoren vom Department of Surgery am Massachusetts General Hospital in Boston hervor [2]: „Weder Subgruppenanalysen mit Hochrisikopatienten noch Sensitivitätsanalysen, die die Operationsdauer in der Nacht zuvor berücksichtigten, änderten etwas an diesem Ergebnis.“
Für die Patienten ist es beruhigend zu hören, dass ihre Operateure trotz Nachtarbeit auch am Folgetag noch in der Lage sind, mit unveränderter Leistung zu operieren. Aber was bedeutet das für die Ärzte?
Weshalb unterscheiden sich Chirurgen von Piloten und Profisportlern?
Leya und seine Koautoren fragen sich, ob dabei nicht irgendetwas übersehen werde: „Zahlreiche Studien haben die bestens bekannten Effekte von Schlafmangel bei Piloten, Berufsfahrern und Leistungssportlern beschrieben – also weshalb treffen diese Limitationen nicht auf Chirurgen zu?“
Eine wirkliche Antwort auf diese Frage liefert auch die Studie von Sun und seinen Kollegen nicht. Das Team von Editorialisten um Leya weist darauf hin, dass es vor der Adjustierung um Störfaktoren sehr wohl einen Unterschied in der Leistung der Chirurgen gegeben habe: mit einer Inzidenz von Todesfällen und schweren Komplikationen von 9,83% bei den übernächtigten und 5,76% bei den ausgeschlafenen Chirurgen.
Über die Gründe lässt sich nur spekulieren
„Wenn ein signifikanter klinischer Unterschied durch die Adjustierung vollständig verschwindet, fragt man sich, ob die Adjustierung möglicherweise unbeabsichtigte Effekte gehabt haben könnte“, so Leya und seine Kollegen. „So könnte die – natürlich notwendige – Adjustierung um durch die Person des Operateurs bedingte Effekte mögliche Auswirkungen der nächtlichen Arbeit beseitigt haben.“
Möglicherweise führen Chirurgen am Folgetag aber auch gezielt weniger komplizierte Operationen durch oder sagen kompliziertere Eingriffe gar komplett ab, wenn sie sich von der Nacht zuvor erschöpft fühlen? „In diesem Fall würde es sich lohnen zu untersuchen, ob sich die Ergebnisse in einer Subanalyse mit komplizierten Eingriffen wie Lebertransplantationen und Mitralklappenreparaturen bestätigen“, schreiben Leya und seine Kollegen.
Das Team von Editorialisten spekuliert noch über eine ganze Reihe anderer möglicher Erklärungen: die generell niedrige Komplikationsinzidenz in der Studie, die Tatsache, dass chirurgische Oberärzte an den Universitätskliniken von Fach- und Assistenzärzten unterstützt werden und dass das verwendete das Register keine Informationen zu häufigen chirurgischen Komplikationen wie Anastomoseninsuffizienz, Ileus, Nachoperationen und erneute Aufnahmen enthält.
Negative Effekte auf die Ärzte sind nicht auszuschließen
„Was auch immer es sein mag, dass Chirurgen immun gegenüber Schlafmangel erscheinen lässt – nur weil es keinen negativen Effekt auf die Patienten hat, muss das nicht für die Ärzte selbst gelten“, betonen Leya und seine Kollegen.
Ebenso wie immer mehr Profisportler vor psychischen Problemen durch ihren stressigen Berufsalltag warnen, nehmen auch bei Ärzten die Berichte über psychische Überlastung und Burnout zu. „Ein zentrales Dogma vieler Qualitäts- und Sicherheitsinitiativen ist, dass Angestellten die Möglichkeit gegeben werden muss, sich um sich selbst zu kümmern, wenn von ihnen erwartet wird, sich um Patienten zu kümmern“, schreiben Leya und seine Kollegen.
„Wenn man von Chirurgen erwartet zu operieren, ohne ausreichend Zeit zu essen und zu schlafen, kann das zu Burnout und Personalmangel führen und so letztlich doch zu negativen Patientenoutcomes beitragen.“
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Diesen Artikel so zitieren: Chirurgen besser als Profisportler? Bei Schlafmangel operieren sie offenbar nicht schlechter – aber leidet ihre Psyche? - Medscape - 25. Mai 2022.
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