Der Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) der EMA hat auf seiner Sitzung im Mai 2022 genau 9 Arzneimittel zur Zulassung empfohlen, u.a. bei seltenen Erkrankungen. [1]
Cevenfacta® (Eptacog beta, aktiviert) bei Blutungen
Der Ausschuss hat eine Empfehlung für die Zulassung von Cevenfacta® (Eptacog beta, aktiviert) zur Behandlung von Blutungsepisoden bei Patienten mit angeborener Hämophilie angenommen.
Eptacog beta (aktiviert) ist nahezu identisch mit dem Gerinnungsfaktor VII. Der Wirkstoff aktiviert den Faktor X, der den Gerinnungsprozess in Gang setzt und so für die Kontrolle der Blutung sorgt. Da der Faktor VII unabhängig von den Faktoren VIII und IX direkt auf den Faktor X einwirkt, kann Cevenfacta® zur Wiederherstellung der Blutstillung in Abwesenheit dieser Faktoren oder in Anwesenheit von Inhibitoren eingesetzt werden.
Der Vorteil von Cevenfacta® liegt in seiner Fähigkeit, Blutungsepisoden wirksam zu kontrollieren, wie in einer multizentrischen, offenen Phase-3-Studie beobachtet wurde. Die häufigsten Nebenwirkungen sind Schwindel, Kopfschmerzen, Beschwerden an der Infusionsstelle und Hämatome, erhöhte Körpertemperatur, postprozedurale Hämatome und infusionsbedingte Reaktionen.
Gentherapie beim Mangel an aromatischer L-Aminosäure-Decarboxylase (AADC)
Eine positive Stellungnahme wurde auch zur neuen Gentherapie, Upstaza® (Eladocagene Exuparvovec), ab. Es ist das 1. Arzneimittel zur Behandlung von erwachsenen und pädiatrischen Patienten mit einem Mangel an aromatischer L-Aminosäure-Decarboxylase (AADC), einer Störung des Nervensystems.
Ein AADC-Mangel ist eine äußerst seltene, vererbte Krankheit, die sich in der Regel im 1. Lebensjahr manifestiert. Sie wird durch Veränderungen des Gens verursacht, das das AADC-Enzym produziert. Das Enzym wird für die Herstellung bestimmter Substanzen benötigt, die für das normale Funktionieren des Gehirns und der Nerven wichtig sind, darunter Dopamin und Serotonin. Diese Moleküle werden von den Zellen des Gehirns und des Nervensystems zur Signalübertragung verwendet und sind für die Entwicklung der motorischen Funktionen entscheidend.
Patienten mit AADC leiden typischerweise an Entwicklungsverzögerungen, an schwachem Muskeltonus und an der Unfähigkeit, die Bewegungen der Gliedmaßen zu kontrollieren. Ein AADC-Mangel ist ein langfristiger, schwächender und lebensbedrohlicher Zustand, da er zu multiplem Organversagen führen kann. Viele Betroffene haben auch eine geistige Behinderung, sind reizbar und haben ein hohes Risiko, im ersten Lebensjahrzehnt zu sterben.
Jüngsten Schätzungen zufolge leidet 1 von 118.000 Menschen in der EU an dieser Krankheit. Derzeit gibt es keine zugelassenen Therapien für den AADC-Mangel. Den Patienten werden unterstützende Behandlungen zur Bewältigung der Symptome angeboten, ohne dass die zugrunde liegende Ursache der Krankheit angegangen wird. Daher gibt es für diese Patienten einen ungedeckten medizinischen Bedarf.
Upstaza® besteht aus einem modifizierten Virus (adeno-assoziierter viraler Vektor), der eine funktionelle Version des AADC-Gens enthält. Wenn es dem Patienten per Infusion ins Gehirn verabreicht wird, wird erwartet, dass das Virus das AADC-Gen in die Nervenzellen einschleust, so dass diese das fehlende Enzym produzieren können. Dies wiederum soll die Zellen in die Lage versetzen, die Stoffe zu produzieren, die sie für ihr ordnungsgemäßes Funktionieren benötigen (z.B. Dopamin und Serotonin), wodurch sich die Symptome der Erkrankung verbessern. Das Virus, das in diesem Arzneimittel verwendet wird, verursacht beim Menschen keine Krankheit.
Die Empfehlung der EMA stützt sich auf die Ergebnisse aus 3 Studien mit 28 Kindern im Alter zwischen 18 Monaten und 8 Jahren und 6 Monaten, bei denen ein schwerer AADC-Mangel durch eine genetische Diagnose bestätigt wurde. Alle Studien wurden als unverblindete einarmige Studie durchgeführt, wobei historische Kontrolldaten aus veröffentlichten Studien als Vergleichsgruppe herangezogen wurden.
Die wichtigsten positiven Effekte, die die Teilnehmer erzielten, waren die Kontrolle des Kopfes und die Fähigkeit, ohne Hilfe zu sitzen. Eine Ad-hoc-Expertengruppe wurde konsultiert, um die klinische Relevanz des motorischen Nutzens der Behandlung zu erörtern, und kam zu dem Schluss, dass die Wirksamkeit nachgewiesen wurde und klinisch bedeutsam ist.
Die am häufigsten gemeldeten Nebenwirkungen waren erhöhte Körpertemperatur und unwillkürliche, sprunghafte Bewegungen (Dyskinesien). Die meisten der gemeldeten Nebenwirkungen waren leicht oder mäßig ausgeprägt.
Xenpozyme® (Olipudase alfa) bei der Niemann-Pick-Krankheit
Xenpozyme® (Olipudase alfa) erhielt eine positive Stellungnahme für die Behandlung von 2 Arten der Niemann-Pick-Krankheit, einer seltenen Stoffwechselstörung, die durch einen Mangel an saurer Sphingomyelinase (ASMD) verursacht wird.
Die ASMD, die früher als Niemann-Pick-Krankheit Typ A (NPD A) und Typ B (NPD B) bezeichnet wurde, ist eine genetisch bedingte Störung. Sie gehört zu einer größeren Familie von Stoffwechselstörungen, den so genannten lysosomalen Speicherkrankheiten, bei denen sich Fette in den Teilen der Körperzellen ansammeln, die Nährstoffe und andere Materialien abbauen. Dies beeinträchtigt die Funktionsweise der Zellen und führt zu deren Absterben, wodurch die normale Funktion von Geweben und Organen beeinträchtigt wird.
ASMD ist eine schwerwiegende Beeinträchtigung und lebensbedrohlich, da die Ansammlung von Fettsubstanzen zu Hirnschäden und zum Anschwellen von Organen wie Leber und Milz führen kann.
Derzeit gibt es in der EU keine zugelassenen Arzneimittel, welche die Krankheit beeinflussen oder ihr Fortschreiten verlangsamen könnten. Patienten erhalten lediglich eine palliative und unterstützende Behandlung, um die Symptome zu lindern. Infolgedessen sind die Morbidität und Mortalität hoch, insbesondere bei Kindern.
Die häufigsten Todesursachen sind Atemwegserkrankungen, Leberprobleme und Komplikationen aufgrund der übermäßigen Größe mehrerer Organe. Kinder mit ASMD vom Typ A sterben in der Regel vor ihrem 3. Geburtstag. Die durchschnittliche Lebenserwartung von Patienten mit Typ B liegt bei 17 Jahren.
Xenpozyme® ist die 1. ASMD-spezifische Behandlung. Bei diesem Medikament handelt es sich um eine Enzymersatztherapie, die entwickelt wurde, um das mangelhafte oder defekte Enzym der Patienten, die saure Sphingomyelinase (ASM), zu ersetzen und dadurch die Fettansammlung in den Zellen zu verringern und einige der Symptome der Krankheit zu lindern.
Das größte Potenzial für einen klinischen Nutzen wird bei Patienten mit chronischen viszeralen Formen von ASMD (Typ B) erwartet. Das Ersatzenzym wird durch eine Methode hergestellt, die als „rekombinante DNA-Technologie“ bekannt ist: Es wird von Zellen hergestellt, in die ein Gen (DNA) eingeführt wurde, das sie in die Lage versetzt, das Enzym zu produzieren. Xenpozyme® ist als Pulver für eine Infusionslösung erhältlich, die alle zwei Wochen intravenös verabreicht wird.
Der Ausschuss für Humanarzneimittel stützte seine Empfehlung auf die positiven Ergebnisse von 3 klinischen Studien an Patienten mit ASMD. Die erste war eine randomisierte, placebokontrollierte Zulassungsstudie an 36 erwachsenen Patienten mit ASMD Typ B und Typ A/B.
Hinzu kommt eine einarmige Studie mit 20 Patienten (4 Jugendliche, 9 Kinder, 7 Säuglinge/Kleinkinder), die zur Unterstützung der pädiatrischen Indikation durchgeführt wurde, wobei der Schwerpunkt auf Sicherheit, Pharmakokinetik und Wirksamkeit lag. Beide Studien zeigten eine Verbesserung der Lungenfunktion und eine Verringerung des Milz- und Lebervolumens, was auf einen relevanten klinischen Nutzen schließen lässt. Eine zusätzliche Langzeit-Follow-up-Studie ist im Gange, um die Sicherheit und das Fortbestehen der Wirksamkeit über eine längere Behandlungsdauer zu untersuchen. Insgesamt wurden 67 ASMD-Patienten (47 Erwachsene, 20 pädiatrische Patienten) in das klinische Programm aufgenommen.
Die unerwünschten Wirkungen von Xenpozyme® waren im Allgemeinen leicht bis mittelschwer und in den meisten Fällen beherrschbar. Die meisten betrafen Infektionen, infusionsbedingte Reaktionen oder gastrointestinale Beschwerden.
Zokinvy® (Ionafarnib) bei Progerie
Für Zokinvy® (Ionafarnib), der 1. Behandlung für Kinder mit progeroiden Syndromen, einer äußerst seltenen genetischen Krankheit, die zu vorzeitiger Alterung und Tod führt, wurde eine positive Stellungnahme unter außergewöhnlichen Umständen abgegeben.
Die EMA hat empfohlen, in der Europäischen Union (EU) unter außergewöhnlichen Umständen eine Zulassung für Zokinvy (Lonafarnib) zu erteilen, eine Behandlung für Patienten mit einer genetisch bestätigten Diagnose des Hutchinson-Gilford-Progerie-Syndroms oder progeroider Laminopathien. Zokinvy ist für die Anwendung bei Kindern ab 1 Jahr indiziert.
Das Hutchinson-Gilford-Progerie-Syndrom ist eine äußerst seltene, multisystemische Krankheit des vorzeitigen Alterns. Sie kann durch Gentests, aber auch anhand eines einheitlichen Musters klinischer Merkmale diagnostiziert werden, zu denen ein eingeschränktes Wachstum, charakteristische Gesichtszüge wie ein fliehendes Kinn und eine schmale, spitze Nase, Verlust von Haaren und Körperfett, eng stehende Zähne, kleine und brüchige Knochen und Steifheit der Gelenke gehören. Die meisten Kinder sterben im frühen Teenageralter (mit durchschnittlich 14,5 Jahren) aufgrund schwerer kardiovaskulärer Komplikationen.
Das Hutchinson-Gilford-Progerie-Syndrom ist äußerst selten. Die Inzidenz liegt bei etwa 1 von 4 Millionen Geburten und die Prävalenz bei 1 von 20 Millionen lebenden Personen. Progeroide Laminopathien sind noch seltenere genetische Erkrankungen, die mit dem Hutchinson-Gilford-Progerie-Syndrom verwandt sind und klinische Merkmale aufweisen, die für die physiologische Alterung charakteristisch sind, wie Haarausfall, Kleinwuchs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Osteoporose.
Es gibt keine zugelassenen Arzneimittel für die Behandlung von Kindern mit Hutchinson-Gilford-Progerie-Syndrom oder progeroiden Laminopathien.
Zokinvy® wird den Patienten 2-mal täglich in Hartkapseln verabreicht. Lonafarnib, der Wirkstoff von Zokinvy, ist ein spezifischer Inhibitor der Farnesyltransferase (FTI). Es wurde nachgewiesen, dass Lonafarnib die Bildung von abweichendem Progerin und Progerin-ähnlichen Proteinen in den Zellen verhindert und dadurch die Aufrechterhaltung der Zellintegrität und -funktion fördert. Außerdem sank der Progerin-Spiegel unter fortgesetzter Lonafarnib-Behandlung. Dies bedeutet, dass die behandelten Patienten im Durchschnitt ein halbes Jahr länger überleben.
Der Ausschuss für Humanarzneimittel stützte seine Empfehlung für die Marktzulassung auf die positiven Ergebnisse zweier separater einarmiger Kohorten zum Überlebensvorteil, einschließlich der Verlängerung der Lebenserwartung der behandelten Patienten im Vergleich zu unbehandelten Patienten in der Vergangenheit. Die Stichprobengröße in diesen Kohorten ist angesichts der Seltenheit der Erkrankung sehr begrenzt.
Bei den meisten Patienten in den klinischen Studien traten in den ersten 4 bis 6 Monaten der Behandlung mäßige oder schwere Nebenwirkungen auf. Die am häufigsten gemeldeten unerwünschten Wirkungen waren Erbrechen, Übelkeit, Durchfall, Müdigkeit, Infektionen der oberen Atemwege, Appetitlosigkeit und Kopfschmerzen.
Kinpeygo® (Budesonid) bei Immunglobulin-A-Nephropathie
Das Hybridarzneimittel Kinpeygo® (Budesonid) zur Behandlung der primären Immunglobulin-A-Nephropathie bei Erwachsenen erhielt vom CHMP eine positive Stellungnahme. Hybridarzneimittel beruhen zum Teil auf den Ergebnissen vorklinischer Tests und klinischer Prüfungen eines bereits zugelassenen Referenzprodukts und zum Teil auf neuen Daten.
Neue Generika
4 Generika erhielten vom Ausschuss eine positive Stellungnahme:
Ertapenem SUN® (Ertapenem) zur Behandlung von Ertapenem-empfänglichen bakteriellen Infektionen
Ganirelix Gedeon Richter® (Ganirelix) zur Verhinderung eines vorzeitigen Eisprungs bei Frauen, die eine Fruchtbarkeitsbehandlung erhalten und deren Eierstöcke stimuliert werden
Sitagliptin / Metforminhydrochlorid Accord® (Sitagliptin / Metforminhydrochlorid), ein Arzneimittel zur Behandlung von Typ-2-Diabetes mellitus
Sugammadex Fresenius Kabi® (Sugammadex), ein Arzneimittel zur Aufhebung der durch Rocuronium oder Vecuronium verursachten neuromuskulären Blockade
Negative Stellungnahmen für 2 neue Biosimilar-Arzneimittel
Der CHMP empfahl, die Genehmigungen für das Inverkehrbringen von Tuznue (Trastuzumab), einem Biosimilar für die Behandlung bestimmter Formen von Brustkrebs und Magenkrebs, sowie für sein Duplikat Hervelous (Trastuzumab) zu versagen.
Credits:
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Diesen Artikel so zitieren: EMA: 9 Empfehlungen – für Hämophilie, eine Gentherapie, eine erste Progerie-Behandlung und Präparate für seltene Erkrankungen - Medscape - 20. Mai 2022.
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