„Beindruckend“ – künstliche Intelligenz macht Kardiologen Konkurrenz: Sie erkennt Ursachen einer Hypertrophie mindestens so gut

Dr. Angela Speth

Interessenkonflikte

19. Mai 2022

Zeigt die Echokardiografie eine Hypertrophie der linken Herzkammer, kommt auf Ärzte eine mühsame und zeitraubende Aufgabe zu: nämlich das Ausmaß der Vergrößerung zu bestimmen und die Ursache aufzuspüren. Künstliche Intelligenz (KI) kann ihnen die Arbeit erleichtern. In einer US-Studie hat sie nicht nur automatisiert und präzise die Geometrie des Ventrikels ausgemessen, sondern auch die Grunderkrankungen erkannt, speziell Aortenstenose, hypertrophe Kardiomyopathie oder kardiale Amyloidose [1].

 
Eine beeindruckende Publikation, schon allein deshalb, weil die Forscher für die einzelnen Arbeitsschritte … eine enorme Datenmenge verwendet haben. Dr. Jackie Ma
 

„Eine beeindruckende Publikation, schon allein deshalb, weil die Forscher für die einzelnen Arbeitsschritte – wie Training, Validierung und Prüfung ihrer Algorithmen – eine enorme Datenmenge verwendet haben, nämlich insgesamt fast 24.000 Ultraschallvideos vom schlagenden Herz“, stellt Dr. Jackie Ma im Gespräch mit Medscape anerkennend fest. Der Gruppenleiter Angewandtes Maschinelles Lernen am Fraunhofer Heinrich-Hertz-Institut in Berlin ergänzt: „Mit Recht führen sie die Beschaffung von so viel Material als Stärke ihrer Studie an.“

Er bestätigt damit, was die US-Forscher selbst hervorheben: Ihres Wissens sei bisher noch nie ein so großer Datensatz von kommentierten medizinischen Videos veröffentlicht worden, schreiben Prof. Dr. Grant Duffy vom Cedars-Sinai Medical Center in Los Angeles und seine Kollegen.

KI erspart Ärzten viel Zeit und Mühe

Den Stellenwert der KI sieht Ma dort, wo ihn auch Seniorprofessor Dr. David Ouyang auf der Kardiologie-Website tctMD verortet: „Es ist wichtig klarzustellen, dass die Algorithmen den Ärzten die Entscheidung nicht aus der Hand nehmen, sondern sie bieten lediglich ihre Hilfe an, indem sie fragen: Haben Sie schon diese oder jene Diagnose in Betracht gezogen?“

 
Es ist wichtig klarzustellen, dass die Algorithmen den Ärzten die Entscheidung nicht aus der Hand nehmen, sondern sie bieten lediglich ihre Hilfe an. Seniorprof. Dr. David Ouyang
 

Deutschland habe im internationalen Wettbewerb bei Erforschung, Entwicklung und Anwendung von KI ebenfalls eine recht starke Position, berichtet Ma. Wie Duffys Team setzen er und seine Arbeitsgruppe diese Technologie in der Kardiologie ein, allerdings für EKG-Auswertungen. Darüber hinaus haben sie Algorithmen für Protein- und Genomanalysen entwickelt, für EEG- und MRT-Aufnahmen des Gehirns, Röntgenthorax oder Tumordiagnostik.

Auch das Thema Corona steht auf ihrer Publikationsliste: Wie hoch ist das Ansteckungsrisiko einer Kontaktperson je nach Abstand zu einem Infizierten und der Zeit, die sie in dessen Nähe verbracht hat?

Der kritische Punkt: Akquisition von Referenzmaterial

„Wir arbeiten eng mit verschiedenen Kliniken zusammen, trotzdem macht es der strenge Datenschutz schwer, an geeignetes Grundlagenmaterial heranzukommen“, sagt Ma. Die Studienautoren berichten von denselben Erfahrungen: „Eine zentrale Herausforderung beim Einsatz von KI im Gesundheitswesen ist der Mangel an Orientierungsgrößen.“

 
Eine zentrale Herausforderung beim Einsatz von KI im Gesundheitswesen ist der Mangel an Orientierungsgrößen. Prof. Dr. Grant Duffy und Kollegen

Allerdings hatten die Autoren die Chance, auf das Reservoir ihrer eigenen Klinik sowie eines Zentrums in Stanford zurückgreifen zu können, zu deren Spezialgebieten die Hypertrophie gehört. Einerseits entnahmen sie Videos der parasternal langen Achse, auf denen beide Ventrikel, Aortenwurzel und linker Vorhof zu sehen sind, und andererseits Aufnahmen mit 4-Kammer-Blick von der Herzspitze aus.

Herz-Echo – Diagnostik der ersten Wahl

Echokardiografien seien gemäß der Empfehlung von Fachgesellschaften die am häufigsten genutzte Methode zur Diagnostik einer Hypertrophie, erklären die Studienautoren. Ma weist auf die damit verbundenen Probleme hin: „Wegen ihrer Fülle an Informationen sind sie für KI-Anwender schwer zu handhaben, sie erfordern einen immensen Aufwand an Zeit, Rechenkapazität und Speicherplatz.“

Einen Teil der Videos benötigten Duffy und seine Kollegen zum Training ihres Algorithmus, indem sie ihm nach jedem Durchlauf signalisierten, ob er zum richtigen oder falschen Ergebnis gelangt war (siehe Info-Kasten). Als Bezugspunkt dienten die jeweils beigefügten Befundberichte und Anmerkungen. „Die Frage ist immer: Wo kommen die Labels und Annotationen her? Optimal wäre es, wenn möglichst viele Ärzte ihre Meinung beisteuern“, merkt Ma an.

Hypertrophien haben viele Facetten

Besonders günstig wäre das für Patienten mit Hypertrophie. Denn selbst Experten fällt es schwer, zwischen Krankheiten zu differenzieren, die das Herz in morphologisch ähnlicher Weise verändern, wie die US-Forscher erläutern. Verwirrend ist weiterhin, dass die Symptome bei einer bestimmten Variante individuell unterschiedlich und außerdem mal milder, mal schlimmer ausfallen.

Hinzu kommt, dass die Messwerte durch Unregelmäßigkeiten in Füllungszeit und Herzfrequenz schwanken. Daher kostet die Interpretation der Aufnahmen die Ärzte viel Zeit, so dass die Möglichkeiten der Echokardiografie im Routinebetrieb selten ausgeschöpft werden können.

Eine zuverlässige Abklärung ist aber wichtig, weil sie wegen ihrer prognostischen Bedeutung das weitere Vorgehen bestimmt. So lässt sich die Gefahr eines plötzlichen Herztods abschätzen und festlegen, welche Patienten einen Defibrillator brauchen. Auch eine Klassifikation genetischer Varianten wäre dann möglich.

Algorithmus erweitert Potenzial von Ultraschall

„Wir haben deshalb untersucht, ob sich das versteckte Potenzial der Echokardiografie hervorholen lässt, wenn man sie mit einer Variante der Künstlichen Intelligenz kombiniert, dem Deep Learning“, beschreiben Duffy und seine Kollegen die Motivation für ihre retrospektive Studie.

Ein erfolgreicher Ansatz: Der Algorithmus registrierte selbst subtile Abweichungen. Bei der intraventrikulären Wanddicke betrug der mittlere Fehler lediglich 1,2 mm, beim Durchmesser des linken Ventrikels 2,4 mm und bei der Hinterwanddicke 1,4 mm. Im prospektiven Vergleich mit 2 geschulten Kardiologen schnitt der Algorithmus sogar etwas besser ab.

Als ähnlich leistungsfähig erwies er sich bei Eingabe von Datensätzen, die aus anderen US-Kliniken und anderen Ländern stammten. Das belegt nach Ansicht der Forscher, dass die Aussagekraft quer durch die Kontinente und Gesundheitssysteme mit ihren je eigenen Praxisbedingungen erhalten bleibt.

Ein Verfahren ahmt die Sehrinde nach

Mit einer speziellen, dem visuellen Cortex nachempfundenen Deep-learning-Methode, dem Convolutional Neural Network, fahndeten die Forscher nach der Grunderkrankung. Tatsächlich erkannte dieses „faltende neuronale Netzwerk“ kardiale Amyloidose, hypertrophe Kardiomyopathie und Aortenstenose mit hoher Sicherheit getrennt von anderen Ursachen.

Gemeinsam ist den zugrunde liegenden Erkrankungen, dass sie eine chronische Überlastung erzeugen, die das Herz als dynamisches Organ mit einem Umbau zu bewältigen versucht.

Bei vielen Patienten ist die Störung systemisch bedingt: Der Herzmuskel muss gegen einen erhöhten Druck arbeiten, etwa bei einer Aortenstenose, vor allem aber bei Bluthochdruck, der bei 60% der Patienten ein solches Remodeling initiiert.

Auslöser: Gendefekte in den Muskelfibrillen

Die Verdickung kann aber auch von pathologischen Prozessen im Herzen selbst ausgehen wie bei der hypertrophen Kardiomyopathie. Sie basiert auf erblichen Mutationen, bekannt sind mehr als 1.500 in Genen, die überwiegend Proteine des Sarkomers kodieren.

Erwägen müssen Diagnostiker einen weiteren Krankheitskomplex, der ebenfalls das Herzgewebe direkt schwächt: die Amyloidosen. Nur einige treten durch vererbte Gendefekte familiär gehäuft auf, die meisten gehen auf Knochenmarks- oder Lymphdrüsenerkrankungen zurück oder auf chronische Entzündungen wie rheumatoide Arthritis, Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa. In der Folge lagern sich zwischen den Zellen fehlgefaltete Proteinfibrillen ab. Rund 30 Proteine wurden bisher als Ursprung solcher Amyloide entdeckt.

Und schließlich: Wenn sie auch selten vorkommen, so sind doch weitere, meist angeborene Störungen nicht ausgeschlossen, wie Morbus Fabry, die Friedreich-Ataxie oder das MELAS-Syndrom.

Eine seltene Erkrankung, die wohl häufiger ist als vermutet

So könne es Ärzten mit ihrem vollen Terminkalender leicht passieren, dass sie die tatsächliche Krankheit übersehen, weil sie sich wie die Folge eines „normalen“ Bluthochdrucks oder einer „gewöhnlichen“ Nierenerkrankung präsentiere, so Ouyang auf tctMD.

 
Es kann fein abgestimmt werden, um Patienten zu finden, die in der Routineversorgung übersehen worden wären. Seniorprof. Dr. David Ouyang
 

Er fügt hinzu: „Auf die kardiale Amyloidose trifft wohl die paradoxe Bezeichnung ,häufige seltene Erkrankung‘ zu – das heißt, sie ist stärker verbreitet, als die publizierten Zahlen nahelegen.“

Ebenfalls eine diagnostische Herausforderung stellt die hypertrophe Kardiomyopathie wegen ihrer Uneinheitlichkeit dar: Manchmal ist sie diffus ausgedehnt mit Wandstärken bis 60 mm, manchmal sind nur umgrenzte Bereiche geringfügig verdickt.

Die Autoren betrachten ihr Modell als sogenannte Plattformtechnologie: Es eigne sich zum Screening von Krankheiten aller Art, etwa Herzklappenfehler oder Schädigungen durch eine Chemotherapie. Ouyang sagt: „Es kann fein abgestimmt werden, um Patienten zu finden, die in der Routineversorgung übersehen worden wären.“

Info-Kasten: Deep Learning

Deep Learning bildet einen Teilbereich des maschinellen Lernens, doch während dessen Algorithmen mathematische Entscheidungsbäume abfahren, taucht Deep Learning sozusagen tiefer ein. Denn es basiert auf neuronalen Netzen, deren Funktionsweise vom menschlichen Gehirn inspiriert ist. Sie bestehen aus einem Arrangement von Eingangs- und Ausgangsneuronen, verknüpft durch eine variable Zahl an Zwischenschichten.

Damit entwickeln die Algorithmen ihre Fähigkeit, selbstständig die Kriterien für eine korrekte Identifizierung zu bestimmen, wobei sie immer wieder neue Inhalte einbeziehen und andere Wege einschlagen. Im Unterschied zum maschinellen Lernen greift der Programmierer nicht mehr in diese Abläufe ein, sondern füttert sie lediglich mit den Basisinformationen, woraus sie dann Prognosen ableiten und Entscheidungen treffen. In der Praxis eignen sie sich für die Suche nach Mustern, etwa zur Bildanalyse, jenseits der Medizin auch zur Gesichts-, Objekt- oder Spracherkennung.

Die Rechenleistungen geschehen vollständig automatisiert und münden in reproduzierbare, präzise Messungen.
 

Kommentar

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