Gewalt gegen pflegebedürftige ältere Menschen ist häufig. Dazu zählt auch sexualisierte Gewalt, die besonders stark tabuisiert ist. Aufklärung und Schulungen von Hausärzte könnten ihre Bereitschaft zur Prävention erhöhen und ihre Sicherheit im Umgang mit dem Thema und den Betroffenen stärken, erklären Fabian Moser von der Berliner Stiftung „Zentrum für Qualität in der Pflege“ und seine Mitautoren in einem Beitrag zum sexuellen Missbrauch von pflegebedürftigen Menschen [1].
Stark schambehaftet und tabuisiert
Es sei eines der letzten großen Tabuthemen in der Öffentlichkeit, klagt die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie. Die Rede ist von Gewalt gegen ältere, pflegebedürftige Menschen. Schläge, Beleidigungen oder auch finanzielle Ausbeutung finden im engsten Kreis statt. In der Familie zu Hause, in Pflegeheimen oder auch in Kliniken. Nur kaum einer redet drüber. Denn Gewalt im Alter ist stark schambehaftet und tabuisiert.
Zudem sind potenziell Betroffene oft nur begrenzt erreichbar und auskunftsfähig, z.B. aufgrund kognitiver Einschränkungen. Zugleich kann auch sozial erwünschtes Antwortverhalten zur Unterschätzung des tatsächlichen Auftretens führen. Es liegen daher aktuell nur wenige valide Prävalenzschätzungen vor. Diese unterstreichen jedoch, dass Gewalt gegen ältere Menschen weltweit ein bedeutsames Gesundheitsproblem darstellt.
Die Gewalt, die alte Menschen erleben, hat viele Formen: Es geht dabei nicht allein um „blaue Flecken“. Unterschieden werden:
physische Gewalt (etwa Schlagen, Stoßen, Schütteln und mechanisches Fixieren)
psychische Gewalt (Beschimpfungen, Drohungen, Demütigungen, soziale Isolierung)
sexualisierte Gewalt (Missachtung der individuellen Schamgrenzen, sexuelle Übergriffe)
ökonomische Gewalt (unbefugtes Verfügen über das Vermögen, Nötigung zu Geschenken, Diebstahl, Erpressung)
Vernachlässigung
Risikofaktoren außer eingeschränkter kognitiver Leistungsfähigkeit sind:
körperliche Behinderung
zunehmende Pflegebedürftigkeit
weibliches Geschlecht
soziale Isolation
biographische Faktoren
persönliche Beziehungen zum „Täter“
herausfordernde Verhaltensweisen der zu Pflegenden
Ebenso bekannt wie die Existenz von Gewalt sind auch die Gründe: Personalmangel, unzureichende Qualifikation, Überforderung, gerade in der häuslichen Pflege nicht selten kombiniert mit Alkohol- und Drogenproblemen.
Psychische Gewalt am häufigsten
Die Häufigkeit des Auftretens von Gewalt zeigt kulturelle Unterschiede; auch die bevölkerungsbezogenen Prävalenzen der einzelnen Gewaltformen unterscheiden sich deutlich.
Psychische Misshandlung ist laut Moser und seinen Kollegen mit 11,6% die häufigste Gewaltform. Finanzielle Ausbeutung sei mit 6,8% die zweithäufigste Form, gefolgt von Vernachlässigung (4,2%) und körperlicher Gewalt (2,6%). Sexueller Missbrauch älterer Menschen sei mit 0,9% seltener.
Hausärzte: Potenzial beim Erkennen von Gewalt und bei der Prävention
Im Zusammenhang mit dem Erkennen und der Prävention von Gewalt gegen Pflegebedürftige sprächen Breite, Frequenz und Qualität des Arzt-Patient- Kontakts auch für eine mögliche Rolle von Hausärzten und -ärztinnen, erklären die Autoren. Die Arzt-Patient-Beziehung sei zudem durch ein Vertrauensverhältnis gekennzeichnet, welches es erlaube, auch sensible und intime Fragen zu besprechen.
Das Potenzial von Hausärzten beim Erkennen und bei der Prävention von Gewalt gegen ältere Menschen werde hierbei durch die internationale Forschung gestützt. Allerdings werde das Thema anamnestisch in der Hausarztpraxis kaum systematisch berücksichtigt, eine routinemäßige Befragung älterer Patienten und Patientinnen zu erfahrener Gewalt führten nur jeder 7. Arzt durch. Über 3 Fünftel hätten diese nie oder fast nie dazu.
Außerdem werde nur ein geringer Anteil der Verdachtsfälle gemeldet. Als ein Grund werde angeführt, dass Ärzte sich erst vollständig sicher sein wollten, bevor sie einen Verdacht anzeigten. Knappe zeitliche Ressourcen dürften den Autoren zufolge ebenfalls eine Rolle spielen. Zudem schätzten internationale Studien das ärztliche Wissen zu Gewalt gegen Ältere als gering ein, so dass auf Fortbildungsbedarf hingewiesen werde.
Umfrage bei Hausärzten liefert Daten aus Deutschland
Für Deutschland liegen nach Angaben der Berliner Autoren keine wissenschaftlichen Befunde zum Wissen von Hausärzten oder zu ihrer Rolle beim Erkennen und der Prävention von Gewalt gegen Pflegebedürftige vor. Vor allem gebe es – auch international – keine Untersuchung, die „explizit die Frage der von Hausärzten wahrgenommenen Verantwortung bei sexuellem Missbrauch pflegebedürftiger Patienten/Patientinnen beleuchtet“.
Aufgrund der unzureichenden Datenlage haben Moser und seine Kollegen in einer Querschnittsstudie 1700 Hausärzte/-ärztinnen in Deutschland schriftlich befragt. Fragebogen von 302 Ärzten/Ärztinnen konnten ausgewertet werden.
Die wesentlichen Ergebnisse
Nahezu alle Befragten (91,8%) hätten „voll und ganz zugestimmt“, dass Hausärzte alles dafür tun müssten, um zu verhindern, dass sich ein sexueller Missbrauch wiederhole. Dem stimmten noch 76,6% zu, wenn durch die Intervention Konflikte zwischen Hausärzten und den pflegenden Personen hervorgerufen würden.
Rund zwei Drittel der Befragten sähen es „voll und ganz“ als hausärztliche Pflicht, gegen sexuellen Missbrauch pflegebedürftiger Patienten vorzugehen; deutlich weniger (26,9%) sähen sich uneingeschränkt in der Verantwortung, gegen dessen Ursachen vorzugehen. Am geringsten falle die Zustimmung zur grundsätzlichen Untersuchung pflegebedürftiger Patienten auf sexuellen Missbrauch aus (7,2%).
Von den befragten Medizinern hätten knapp 27% keine Unsicherheit hinsichtlich des weiteren Vorgehens im Verdachtsfall geäußert, weitere 22,7% hätten geringe Unsicherheit angegeben. Die restlichen Befragten hätten der Aussage in unterschiedlichem Maße zugestimmt, bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch unsicher bezüglich des weiteren Vorgehens zu sein.
Knapp die Hälfte der Studienteilnehmer (48,2%) habe ein Interesse an Fortbildungen zum Thema „sexueller Missbrauch Pflegebedürftiger“ angegeben. Hauptsächliches Fortbildungsinteresse bestehe zur Differenzialdiagnose des sexuellen Missbrauchs sowie zum richtigen Vorgehen im Verdachtsfall, berichten Moser und seine Mitautoren.
Dieser Artikel ist im Original erschienen auf Univadis.de.
Credits:
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Diesen Artikel so zitieren: Tabuthema sexueller Missbrauch alter Menschen: So können Ärzte zur Prävention beitragen - Medscape - 18. Mai 2022.
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