Geldschneiderei: Zu schlecht, zu teuer, kein Nutzen – deshalb schimpfen Krankenkassen inzwischen über die „Apps auf Rezept“

Christian Beneker

Interessenkonflikte

11. Mai 2022

Noch stockt die Verschreibung von digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA). Das zeigt der DiGA-Report 2022 der Techniker Krankenkasse (TK) und auch eine erste Bilanz des GKV-Spitzenverbandes. Aber für die Kassen zeichnet sich bereits ab: Die DiGA seien zu teuer für ihren begrenzten Nutzen.

Gerade rund 19.000-mal verschrieben Ärzte seit Oktober 2020 bis Dezember 2021 ihren TK-versicherten Patienten DiGA, also „Apps auf Rezept“. Der TK kostete das 6,2 Millionen Euro. Zu viel, kritisiert die Kasse. So habe sie mehr als 1 Millionen Euro zum Beispiel für die Migräne-App „M-Sense“ bezahlt, bevor sie nach einem Jahr wieder aus dem Leistungskatalog gestrichen wurde. Ohne belegte Wirksamkeit wurde somit M-Sense 15 Monate von den Krankenkassen erstattet, kritisiert die TK.

Um auf die Liste der erstattungsfähigen Apps zu kommen, prüft das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), welche Apps durch die Krankenkassen bezahlt werden können. Das Problem für die Kassen: Im ersten Zulassungsjahr können die Hersteller selbst festlegen, wie hoch die Preise für ihre Apps sind. Erst danach müssen die Anbieter den Nutzenbeweis antreten.

So lag der Durchschnittspreis der DiGA im Oktober 2020 bei 329 Euro pro Jahr. Seither hätten 4 App-Hersteller die Preise im 1. Jahr noch einmal erhöht, so die TK. Im März 2022 lag der Durchschnittspreis bereits bei 456 Euro.

Hersteller können die Preise selbst festlegen

Aus Sicht der Krankenkasse ist das Geldschneiderei. „Es besteht die Gefahr, dass viele Apps den Vertrauensvorschuss nicht einhalten können, den sie im Erprobungsjahr bekommen“, folgert Dr. Jens Baas, Vorstandsvorsitzender der TK.

 
Es besteht die Gefahr, dass viele Apps den Vertrauensvorschuss nicht einhalten können, den sie im Erprobungsjahr bekommen. Dr. Jens Baas
 

„Wir sehen, dass die Apps in der GKV-Erstattung plötzlich deutlich mehr kosten als vorher. Es ist ein Unding, dass die Preise im ersten Jahr quasi frei festgesetzt und sogar erhöht werden können“, kritisiert der TK-Chef und fordert faire Preise und Verhältnismäßigkeit, denn derzeit sei manche App teurer als die analoge Behandlung.

Erst ab dem 2. Jahr der Einführung werden die Preise zwischen DiGA-Herstellern und Kassen verhandelt. Bislang sei erst eine solche Preisverhandlung abgeschlossen. Sie scheiterte und ein Schiedsamt musste entscheiden. Die fraglich DiGA kostet nun 225 Euro und damit um 52% unter dem Preis, den sie im 1. Jahr gekostet hat.

„Fraglich ist, ob ein vom Hersteller gesetzter Preis im ersten Jahr rückblickend als angemessen gelten kann, wenn er mehr als doppelt so hoch war wie der spätere Vergütungsbetrag, der sich insbesondere am nachgewiesenen Nutzen einer Anwendung zu orientieren hat“, so Prof. Dr. Wolfgang Greiner von der Universität Bielefeld, der die TK-Studie geleitet hat.

 
Es ist ein Unding, dass die Preise im ersten Jahr quasi frei festgesetzt und sogar erhöht werden können. Dr. Jens Baas
 

„Sollten sich derartige Differenzen zwischen freien und verhandelten Preisen auch in den weiteren Verhandlungsergebnissen widerspiegeln, muss der Preisbildungsmechanismus im ersten Jahr kritisch hinterfragt werden“, so Greiner.

Mangelnde Qualität, mangelnder Nutzen

Neben den Preisen stoßen der Kasse die womöglich mangelnde Qualität und damit der mangelnde Nutzen der Apps auf. Die Kriterien eines Nutzens seien unklar. Bereits für die Listung beim BfArM müsse es eine aussagekräftige Datengrundlage geben, fordert die TK. „Die bisherigen Anforderungen reichen nicht, um den Nutzen der App abzuschätzen.“

 
Nur wenn für alle an den Verhandlungen beteiligten Parteien transparent ist, in welchem Umfang die Wirkung einer DiGA nachgewiesen werden kann, ist eine faire Preisbewertung möglich. Prof. Dr. Wolfgang Greiner
 

Deshalb solle nun das BfArM seine Kriterien offenlegen, die darüber entschieden, ob eine DiGA in den Katalog aufgenommen wird oder nicht. Greiner: „Nur wenn für alle an den Verhandlungen beteiligten Parteien transparent ist, in welchem Umfang die Wirkung einer DiGA nachgewiesen werden kann, ist eine faire Preisbewertung möglich.“

Auch aus Patientensicht sei der Nutzen nicht klar und eindeutig: 37% von 244 befragten TK-Versicherten mit einer DiGA nutzten sie täglich, aber nur 19% seien von ihrem Nutzen ganz und gar überzeugt. 34% sahen keinen Nutzen und 43% einen teilweisen Nutzen.

„Nicht alles Gold, was glänzt“

Auch Stefanie Stoff-Ahnis, die Vorsitzende des GKV-Spitzenverbandes, erklärte in einer Bilanz des ersten DiGA Jahres: „Bei den DiGA ist nicht alles Gold, was glänzt.“ Von den rund 50.000 im GKV-Verbund im ersten Jahr verordneten DiGA schaffte es nur 1 Viertel dauerhaft auf die Liste des BfArM. 3 Vierteln hingegen fehlte die Perfomance, und sie sind einstweilen Probekandidaten geblieben. Stoff-Ahnis sieht die Funktion der DiGA derzeit eher als „Begleiter oder Coach“ denn als Scharnier der Versorgung.

Damit die DiGA überhaupt ihre Chance wahren können, müssen sie aus Stoff-Ahnis Sicht 3 Kriterien erfüllen:

  1. Sie sollen einen echten Mehrwert in der Versorgung bringen.

  2. Die Preise im ersten Jahr sollen nicht von den Herstellern festgelegt werden dürfen.

  3. Die Hersteller sollen den Nutzen einer DiGA wissenschaftlich belegen, wenn sie erstattet werden soll.

„Um langfristig die Erwartungen zu erfüllen und die Anschubfinanzierung und den Vertrauensvorschuss zu verdienen, die mit dem neuen Leistungsbereich verbunden sind, muss das Missverhältnis hinsichtlich der vergleichsweise niedrigen Zugangsvoraussetzungen für DiGA, der geringen Innovationskraft und ihrer fehlenden Wirtschaftlichkeit konstruktiv weiterentwickelt werden“, sagt Stoff-Ahnis. „Wir wollen therapeutischen Nutzen für Patientinnen und Patienten bezahlen und keine Downloads.“

 
Bei den DiGA ist nicht alles Gold, was glänzt. Stefanie Stoff-Ahnis
 

Der Spitzenverband der digitalen Gesundheitsversorgung kritisierte die Haltung des GKV Spitzenverbandes. Den Einwänden fehle die Datengrundlage, teilt der Verband mit. So sei ein „mangelnder Innovationscharakter“ aus den Daten des Berichts nicht ableitbar und eine „subjektive Behauptung“. Manche DiGA biete durchaus Innovationen, zum Beispiel Verlaufskontrollen, die dem behandelnden Arzt helfen, Therapieentscheidungen zu treffen.

Die Kritik des GKV-SV an den DiGA-Verordnungspreisen können die Hersteller nicht nachvollziehen. Sie lasse „wichtige Parameter wie Effektivität und Versorgungskontext außer Acht. Eine valide Bewertung der Preise kann jedoch ohne letztgenannte Aspekte nicht getroffen werden“, so der Herstellerverband.

 
Wir wollen therapeutischen Nutzen für Patientinnen und Patienten bezahlen und keine Downloads. Stefanie Stoff-Ahnis
 

Seit Oktober 2020 können Ärztinnen und Ärzte Apps auf Rezept verschreiben. Deutschland ist weltweit das erste Land, in dem die Kosten für die digitalen Helfer durch die gesetzliche Krankenversicherung übernommen werden.
 

Kommentar

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