Wo stehen wir bei der Digitalisierung der Medizin? Eine „riesengroße Lücke zwischen dem, was technisch möglich wäre, und dem, was auch tatsächlich beim Patienten in der Gesundheitsversorgung ankommt“, konstatierte Prof. Dr. Sebastian Kuhn, auf der 128. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) [1].
Man könnte diese Lücke durchaus als „Tal des Todes“ bezeichnen, fügte Kuhn hinzu, der an der Medizinischen Fakultät OWL der Universität Bielefeld zu digitaler Medizin forscht und die AG 4 Digitale Medizin leitet. Gerade in den Bereichen, die ärztliches Handeln ausmachten – Anamneseführung, klinische Untersuchung, Diagnosestellung, Therapieentscheidung – finde sehr vieles derzeit nur in Modellprojekten oder punktuell statt oder sei „noch gar nicht bei den Patienten angekommen“, sagte Kuhn.
Smartphone als Stethoskop des 21. Jahrhunderts
Welches Potenzial bei digitalen Geräten noch ausgeschöpft werden kann, machte Kuhn am Beispiel Smartphone deutlich, das er als das „Stethoskop des 21. Jahrhunderts“ bezeichnet. „Wir können darüber kommunizieren, Dinge sehen, hören oder wahrnehmen, wie das vor 200 Jahren mit dem Stethoskop erstmalig möglich war und jetzt in einem digitalen Kontext auch auf Distanz möglich ist“, sagte Kuhn.
Anamnese-Prozesse und die Lotsenfunktion des Arztes können über das Smartphone erfolgen, aus der Distanz sind klinische Untersuchungen möglich, v.a. bei Menschen mit chronischen Erkrankungen. Für das Telemonitoring kann ein Smartphone mit einfachen Sensoren kombiniert werden: „Das bietet große Möglichkeiten bei chronischen Atemwegserkrankungen, bei Herzinsuffizienz, auch aktuell in der COVID-19-Pandemie“, berichtete Kuhn.
Via Smartphone könne auch behandelt werden: Indirekt z.B., indem Patienten bei der Medikamenten-Adhärenz unterstützt werden, aber auch bei der Umstellung ihrer Ernährung und der Anleitung zu mehr Bewegung – oder eben direkt z.B. über kognitive Verhaltenstherapien.
Als weitere große Herausforderung nennt Kuhn den Bereich Big Data und künstliche Intelligenz (KI): „Wir haben bei jeder Konsultation eine unglaublich große Datenmenge zu bewältigen – innerhalb von 10 bis 20 Minuten. Jeder Patient wird zu einer großen Datenherausforderung. Gleichzeitig explodiert das medizinische Wissen“, sagte Kuhn.
Die COVID-19-Pandemie habe einer breiten Öffentlichkeit gezeigt, wie groß der tägliche Erkenntnisgewinn dazu ist und wie rasch das medizinische Wissen wachse und sich verändere. „Um diese riesigen Datenmengen und das medizinische Wissen in Einklang zu bringen, brauchen wir Systeme zur Entscheidungs-Unterstützung“, betonte Kuhn.
Digitale Transformation durch Bildung
Dabei sind es nicht die Technologien, die den digitalen Wandel vorantreiben: „Wir werden wir das nur schaffen, wenn wir Menschen dazu befähigen, die Abläufe zu gestalten“, betonte Kuhn. Dazu gehörten Studiencurricula, die allen Medizinstudenten die notwendige Basisqualifikation in Digitaler Medizin vermitteln genauso wie anschließende Fortbildungen. Digital Clinician Scientist Programme, die spezifische erweiterte Qualifikationen vermitteln, sind an verschiedenen medizinischen Fakultäten bereits etabliert.
Kuhn verweist auf die vielen neuen Stellen – sowohl im klassisch medizin-informatischen Bereich als auch im translationalen Bereich – die in den vergangenen Jahren an den Universitäten entstanden sind. Hinzu kommen viele Professuren in einzelnen Bereichen, z.B. Big Data in der Onkologie, Telemedizin in der Pneumologie oder in der Schlafmedizin am Uniklinikum Essen. Deutliche Lücken sieht er in der Fort- und Weiterbildung: Für mehrstufige Fortbildungskonzepte ist „noch viel zu tun, die Weiterbildung sei sicherlich die härteste zu knackende Nuss. Der Ansatz lautet deshalb: Transformation durch Bildung.“
Verzögerungen bei der Digitalisierung in der Medizin hat nicht nur die Gesundheitspolitik zu verantworten. Woran das liegt? Kuhn hält das Thema Digitalisierung in vielen Bereichen für „ein bisschen verbrannt“. Seit knapp 20 Jahren werde Digitalisierung in erster Linie mit Kosten, mit Rationalisierung assoziiert.
„Ich glaube, es ist wichtig, die Chancen und neuen Möglichkeiten für ärztliches Handeln und für eine bessere Patientenversorgung ins Zentrum zu stellen.“ Wichtig sei auch, Digitalisierung nicht als „entweder oder“ – also klassische Medizin versus digitale Medizin zu sehen –, „sondern sehr stark integrativ zu denken“, betonte Kuhn.
Vorbild Garri Kasparow
Er zieht eine Parallele zu Garri Kasparow, der 1996 gegen den Schachcomputer Deep Blue verloren hatte. Der Schachweltmeister habe sich nicht geschlagen gegeben, sondern Freistil-Schach – eine Schachform, bei der die Spieler während der Partie Analysen mittels Computer durchführen können – für sich genutzt. „Kasparow hat seine menschliche Expertise mit digitaler Expertise verbunden.“
Dieses Bewusstsein müsse gefördert werden, so Kuhn. „Wir brauchen die klassischen Experten und vor allem die kommunikativen Fähigkeiten: sehen, hören, fühlen, tasten – vielleicht sogar mehr, als wir das in den letzten 20, 30 Jahren gemacht haben. Das ist die Basis der Medizin. Diese Basis dann mit einer datengetriebenen Medizin, mit neuen Kommunikationswegen und mit der Kompetenz für neue Entscheidungs-Unterstützungs-Systeme zu kombinieren, das ist unser Auftrag.“
Nur 4% aller Ärzte haben Rezepte für DiGA ausgestellt
Mit der Umsetzung allerdings hapert es noch: Seit Oktober 2020 können Ärzte Apps auf Rezept verschreiben. Der DiGA-Report 2022 der Techniker Krankenkasse (TK) zeigt allerdings, dass die Apps in den Arztpraxen noch nicht angekommen sind. Lediglich 4% aller Ärzte haben bislang Rezepte für DiGA ausgestellt.
Kuhn nennt mehrere Gründe, weshalb die Nutzung von DiGA noch nicht so wirklich funktioniert. Bislang gebe es 33 Anwendungen, das sei noch sehr überschaubar: „Dieser Bereich muss sich weiterentwickeln, wir brauchen ärztliche Expertise, um für die verschiedenen Erkrankungen vor allem für chronische Erkrankungen wirklich qualitativ hochwertige digitale Gesundheitsanwendungen zu bekommen.“
Digitale Medizin ist kein Selbstläufer
Auch müsse sich erst ein Bewusstsein dafür entwickeln, wie das eigene ärztliche Handeln in längerfristige Behandlungsabläufe integriert werden kann. Ein weiterer Grund ist: Die ärztliche Leistung wird nicht wertgeschätzt. Digitale Medizin sei aber kein Selbstläufer: „Man muss auch Zeit investieren, man muss Zeit in die Arzt-Patienten-Interaktion investieren – und wenn das dann mit 12 oder 13 Euro vergütet wird, wird die ärztliche Leistung nicht abgebildet“, sagt Kuhn.
Weder das Alter der Ärzte noch das Alter der Patienten ist seiner Erfahrung nach ein echtes Hindernis, sich am digitalen Wandel zu beteiligen. „Ich denke mit Motivation und Qualifizierung ist das in einem überschaubaren Weg möglich.“
Wichtig für eine gute Akzeptanz und den breiten Einsatz in der Praxis ist allerdings eine Konsolidierung der digitalen Angebote hin zu universellen Systemen: „Es kann nicht sein, dass ein mehrfach erkrankter Patient mit Diabetes, Hypertonie und einer COPD sich dann durch 3 verschiedene telemedizinische Software-Plattformen durchklicken muss.“
Ein nicht unerhebliches Hindernis sind auch veraltete Praxis- und Klinikverwaltungssysteme: Systeme, die auf 20, 30 Jahre alten Grundsystemen basierten, führten zu einer extrem lückenhaften Interoperabilität und böten in vielen Bereichen „nicht die Funktionalität, die jeder von uns aus der Alltagssoftware kennt. Als Ärzte können wir das nicht lösen, das ist ein Auftrag für die Politik, regulatorisch einzugreifen, und für die Industrie, die entsprechende Software auch zu liefern.“
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Diesen Artikel so zitieren: Smartphone als Stethoskop des 21. Jahrhunderts: Ärzte immer noch im „digitalen Tal des Todes“ – so gelingt der Wandel - Medscape - 10. Mai 2022.
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